Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

306 - Arbeiter- Jugend 
 
 
fal ohne Erwachſene auskfommen: die gemeinſame Lektüre von 
geeigneten Abſchnitten aus unſeren Klaſſikern und guten modernen 
Schriftſtellern iſt ein aus8gezeichnetes Mittel, die Abend- oder 
Sonntagnachmittagſitunden im Jugendheim auszufüllen. Beſon- 
der3 aber möchten wir zu dieſem Zwecke an die Lektüre von Uoſi- 
ſchen Theaterſtüken mit verteilten Rollen erinnern, die Poen35gen- 
Alberty vor einiger Zeit in dieſein Blatte empfohlen hat. Die 
nötigen Exemplare von Dramen Leſſing8, Sciller8, Goethes, 
Kleiſt3, Hebbel38 uſw. ſind ja aus Privatbeſik, aus den Biblio- 
thefen und in Reclam-Aus8gaben leicht zu beſchaffen. Wenn bei 
der Auswahl ſol<er Stücke und etwa zu einleitenden Vorträgen 
Erwachſene zu gewinnen ſind, deſto beſſer. 
Das wichtigſte Bildungsmittel freilich bleibt nach wie vor die 
planmäßige private Lektüre von Büchern. Unſere Vorträge 
können ja das eigene Studium der Hörer nicht erjeßen, ſondern ſie 
ſind in allererſter Linie dazu beſtimmt, die gründliche veivate Fort- 
bildung der einzelnen nachdrücklich anzuregen und ſachgemäß zu 
fördern. Dieſe gründliche und fruchtbringende BildungsSarbeit, 
die der einzelne an ſich ſelber leiſtet und zu der jeder verpflichtet 
iſt, der e8 mit ſeinem geiſtigen Höherkommen ernſt nimmt, dieſe 
leßte, innerſte Pforte zur Erkenntnis ſteht jedem von uns offen, 
auch in dieſen Kriegs8zeiten. Kein Ort iſt ſo klein, daß er nicht 
eine Arbeiterbibliothek beſäße, und die Schäße dieſer Bibliotheken 
ſind ja vor allem für unſere wiſſen3hungrigen Jugendgenojſſen 
aufgeſpeichert. Hier, in den oft ſo beſcheidenen Zimmern, hat 
jeder die Möglichkeit, ſich über Zeit und Raum hinweg mit den 
erlefenſten Geiſtern der Menſchheit in Verbindung zu ſeßen. Und 
wenn e3 jekt als Beweis für die Kulturhöhe unſeres Volkes mit 
Recht angeführt wird, daß jo mancher Feldfoldat im Torniſter 
ſeinen „Fauſt“ oder einen Reclamband Schopenhauer mit ſich 
führt, nun, ein um ſo beſchämenderes8 Armut3zeugn13 für uns 
Zurüdgebliebenen wäre e38, könnten wir mit unſerer freien Zeit 
und mit den Stunden der erzwungenen Muße nichts anderes an- 
fangen, als ſie auf den Gaſſen und in nichtigem Zeitvertreib zu 
vertrödeln. 
Unſere jungen Arbeiter, des jind wir gewiß, werden f fich dieſem 
Vorwurf nicht ausfegen. Sie haben ſich in ihrer Jugendbildungs- 
bewegung nicht zu Spaß und Spiel nur zuſammengefunden. Sie 
werden ſich au< jetzt nicht der ſelbſtgewählten Pflicht entledigen, 
weil etwa die Bedingungen, ihr nachzukommen, weniger bequem 
geworden ſind, mehr von ihnen ſelbſt, ihrem eigenen Verantwort- 
lichfeitSgefühl, als von den Weiſungen anderer abhängen. Jeder 
einzelne von ihnen wird vielmehr, auc< davon ſind wir überzeugt, 
ſeinen Stolz dareinſeßen, beizeiten dafür zu ſorgen, daß er dereinſt, 
wenn ſeine älteren Freunde und Führer aus dem Felde zurück- 
Fehren und die Frage an ihn richten: „Und wa3 habt Jhr derweil 
getan?“, daß er ihnen dann Rede und Antwort ſtehen kann und. 
nicht die "ngen niederzuſ<lagen braucht. 
 
 
Kriegsfahrten in Belgien. 
Von W. Sollmann. 
BBQ, 01 in Friedenzzeiten von Köln nach Belgien wollte, ſeßte ſich in 
d einen Schnellzug und hatte nach zwei Stunden die deutſche 
Grenze ſchon ein gutce8 Stü> hinter ſich. Seitdem 'ab2r Belgien 
für 'uns „Feinde2land“ geworden iſt, iſt e38 für einen Ziviliſten leichter, 
zum Nordkap zu kommen odcr nach Sizilien al3 über die deutf<-belgiſche 
Grenze. Troßdem machten wir zwei Freunde uns neulich zu einer 
Fahrt über die belgiſchen Schlachtfelder auf. Al3 ordentliche Deutſche 
wußten wir: Man braucht dazu zunächſt „Papiere“. Cin königlicher 
Kriminalinſpektor beſcheinigte uns, daß „poligeilicherſeits“ gegen uns 
nichts eingutwenden ſei, ein Zeugnis, auf das wir in der Grinnerung 
an unſere vielen Vorſtrafen als Preſſeſünder nicht wenig ſtolz waren. 
Der Gouverneur der Feſtung drücdte ebenfalls ſeinen Amtsſtempel auf 
das Papier, und zur Sicyerheit erwirkten wir uns auch einen Ausland83- 
paß und einen Waffenſchein. Damit kamen wir bi8 Aachen, wo uns 
auf dem löniglichen Garniſonfommando ein „Paſſierſhein“ für Belgien 
ausgehändigt wurde. Leider konnten wir aber troßdem nicht „paſ- 
ſieren“, weil von Iachen nur noch Militärzüge nach Belgien fahren 
und auch der kurzſichtigſte Bahnſteigſc<haffner erkannte, daß wir Tipp2l- 
brüder feien und keine Vaterlandsverteidiger. Hilfeſuchend gehen wir 
zum Bahnhofskommandanten. Der Herr Oberleutnant ſieht lächelnd 
unſere vielen Papiere mit den ſchönen Stempeln durc< und haucht uns 
dann an, die „Dinger“ ſeien gang ungenügend; nur Kriegs8bericht- 
dorſtatter mit der. Empfehlung de38 Herrn Krieg8miniſters kämen nach 
Velgien hinein. Der Herr Kriegsminiſter aber ſißt in Berlin, und wir 
 
werden, nachteilig fühlbar machen wird. 
Grenze fommen? 
Weshalb man den Arbeikern das Koalitions- 
reht geben mußte. 
Von Rudolf Wiſſell. (Schluß.) 
Ff in Staat kann nur gedeihen, wenn die Bevolkerung aeſund an 
ky , Seib und Seele iſt. An Leib und Seele aber war die große 
= Wahtſe der arbeitenden Schichten der Bevölkerung durch die 
ungehinderte Entfaltung der wirtſchaftlichen Kräfte krank geworden. 
So mußte denn etwas zum Schuße der Arbeiter getan werden. Sehr 
zugernd und tauſendmal überlegend tat es der Staat. Dazu ge- 
trieben von jenen, denen das Wohl des Volkes am Herz2an lag, 
deſjfen Clend und Jammer naheging. Zn den Reden, die 
damal3 zugunſten des Arbeiterſchuße3, beſonder8 ZUr Vorfärzung 
der taglichen Arbeit23eit gehalten wurden, ſind manche von gerade- 
zu dramatiſcher Wucht und Kraft. Im Nachſtehenden führe ich 
einige folc<er Siellen aus der Rede an, die der engliſche Politiker 
und Schriftſieler Thoma3 Babing von Macaulay am 22. Veai 
1846 im Unterhaujſe hielt: 
„Das Gemeinwohl iſt dabei intereſſiert, daß die große Maſſe 
des Volkes nicht in einer Weiſe lebt, die das Leben elend u1d kurz 
macht, die den Körper :Hwäct und den Geiſt befleckt. : Wen große 
Mengen unſerer LandSsleute ſich durch da3 Leben in Häuſern, welche 
Schweineſtällen gleichen, die Gewohnheiten der Schweine an=- 
geeignet haben, wenn ſie f9 vertraut mit Schmuß und Geſtank und 
Verpeſtung geworden ſind, daß fie ohne Widerwillen in Höhlen 
frießen, die jedem Menſc<en von reinlichen Gewohnheiten den 
Magen umfehren würden, jo iſt das nur ein hinzukommender Be- 
weis, daß wir zu lange unſere Pflichten verſäumt haben, nur ein 
hinzufommender Grund, dos wir fie jeßt erfüllen . “ 
„XZ ſtelle in Abrede, daß eine große Geſellſchaft, in welcher 
Kinder fünfzehn oder auc< nur zwölf Stunden des Tage3 arbeiten, 
in der Leben38zeit einer Generation ebenſoviel produzieren wird, 
al3 wenn dieſe Kinder weniger gearbeitet hätten . .. Verlaßt Euch 
darauf, daß angeſtrengte Arbeit, zu früh im Leben begonnen, zu 
lange jeden Tag fortgeſeßt, das Wachstum de3 Körper3 hemmend, 
das Wachstum de3 Geiſtes hemmend, keine Zeit zu ungeſunver 
Bewegung laſſend, keine Zeit zu geiſtiger Ausbildung laſjend, alle 
jene hohen Eigenichaften jO<mälern muß, die unjer Vaterland groß 
gemacht haben. Cure iberarbeiteten Knaben werden ein jchwaches 
und unedle3s Geſchlecht von Menſchen werden, die Väter einer 
IOwächeren und unedleren Nachkommenſchaft: auch wird cs nit 
lange dauern, bi8 die Verſchlechterung des Arbeiters ſich für eben 
die Intereſſen, denen die phyſiſche und moraliſche Energie geopfer.. 
Auf der anderen Seite 
muß ein Tag Rube, in jeder Woche wiederkehrend, müſſen zwei 
oder drei Stunden Muße, Bewegung, umſ<uldiges Vergnügen 
oder nükßliches Studium, an jedem Tage wiederfehrend, den ganzen 
Menſc<en phyſiſch, moralif ich günſtig verbeſſern, und die Verbe] e- 
rung des Menicen wird alles verbeſſern, wa3 der Menſch erzeugt .. 
. . Der Menſc<, der Menſc< iſt das große Werkzeug, das Reich- 
tum erZEUgt. Der natürliche Unterſchied zwiſchen Kampanien und 
 
 
 
ſtanden in Aachen. Mit einem Redefluß, als hätten wir einen Jüng- 
ling3verein zur freien Jugendbewegung zu bekehren, ſuchten wir dem 
Herrn Oberleutnant klarzumachen, wie. wichtig e3 für die Weltgeſchichte 
ſei, daß gerade wir beid2 nach Belgien hineinfämen. Schließlich kriegt 
er e3 ſatt und ſchreibt uns einen Zettel, daß wir Militärzüge benutzen 
dürfen. Aber nur bis zur lekten deutſchen Grenzſtation, bis 
Herbe3thal, fügt er hinzu. Wir beide mit langen Säßen auf den 
Bahnhof. Zluchend „ſchiebt uns der Stations38vorſtand in einen 
Munition38zug, der langſam, ach ſo langſam, auf die beigiſche 
Grenze zukrießt. Unterwegs überholt uns ein: Transportzug mit 
preußiſcher Garde. Flug2 wir heraus aus unſerer Munitionskiſte 
und hinein zu den Gardiſten! 
Nach vielen Stunden endlich in 'Herbes8thal! Wie nun über die 
Längere Unterhandlungen mit einem Feldgeiſtlichen, 
der im Auto nach Lüttich fährt, ſchlagen fehl. Obwohl wir beide zuU- 
ſammen faum ſoviel wiegen als ver Herr Pfarrer allein, behauptet er, 
das Auto würde durc< uns zu ſchr belaſtet. 
Mit etwas Frechheit und etlicher Geſchilichfeit kommen wir auf 
den Bahnſteig von Herbesthal, den kein Ziviliſt betreten darf. WoLr- 
ſichtig prüfen wir vas Terrain. „In den erſten Militärzug, der auf 
die Grenze zufährt, ſpringen wir hinein“ -- das iſt unſer Entſchluß, und 
er wird au2ceführt. Cben fekte ſich ein langer Zug mit Dragonern 
in Bewegung. Wir turnten auf die Trittbretter, einige kräftige Reitcr- 
fäuſte halfen nach, und luſtig ſaßen wir bei ſe<3 Dragonern zwiſchen 
ebenſoviel Dragonergäulen. Zehn Minuten ſpäter waren wir über 
die Grenze, und noc< zehn Minuten weiter hatten wir mit Roſſen und 
Reitern gute Freundſchaft geſchloſſen. Die jungen Burſchen kamen 

	        
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