Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

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Arbeiter-Jugend 
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Spißbergen iſt unbedeutend im Vergleih mit dem Unterſchied 
zwiſchen einem von Menſc<hen voll körperlicher und geiſtiger Kraft 
bewohnten Lande und einem Land, das von Menſc<en bewohnt 
wird, die in körperlichem und geiſtigem Verfall verfommen. Daher 
rührt e8, daß wir nicht ärmer, ſondern reicher geworden jind, weil 
wir viele Jahrhunderte hindurch einen Tag unter ſieben von 
unſerer Arbeit geruht haben. Dieſer Tag iſt nicht verloren. Wäh- 
rend der Fleiß ausſeßt, während kein Nauch aus der Fabrif auf- 
ſteigt, während der Pflug in der Furche ruht, während die Börſe 
Ihweigt, geht ein für den Reichtum der Nation ganz ebenjo wich- 
tiger Prozeß vor ſich, al3 „irgendein Prozeß, der an geſchäftigeren 
Tagen ausgeführt wird. Der Menſch, die Maſchine der Majchinen, 
die Maſchine, im Vergleich mit welcher die ganzen Erfindungen 
der Watt3 und der Artwright3*) wertlos ſind, wird hergeſtellt 
und aufgezogen, j9 daß er am Montag mit klarerem Geiſte, mit 
belebterem Sinne mit erneuter Körperkraft zu feinen Arbeiten 
zurückfehrt. Niemals werde 1ch glauben, daß da38, was eine Be- 
volferung ſtärfer und gejünder und weiſer und beſſer madct, fie 
ichließlich ärmer machen fann. Jhr verſucht uns zu ſcchreken, imdem 
ihr uns erzählt, in einigen deutſchen Fabriken arbeiteten die jungen 
Leute ſiebzehn Stunden in den vierundzwanzig, ſie arbeiteten 10 
ſiark, daß ſich dort unter Tauſenden nicht einer finde, der die notige 
Größe erreiche, um in die Armee aufgenommen zu werden,**) und 
ihr fragt, ob wir uns, wenn wir dies Geſeß annehmen, gegen der- 
artige Mitbewerbung zu halten vermögen. Meine Herren, 1c< 
- lache über den Gedanken an folc<he Mitbewerbung. Wenn wir je- 
mals genötigt find, die erſte Stelle unter den Handel3voölfern ab- 
zutreten, ſo werden wir ſie nicht einem Geſchlecht entarteter Zwerge, 
jondern einem an Körper und an Geiſt hervorragend kräftigen 
Volke abtreten . . .“ 
Auch in Deutſchland mußte die Geſekgebung eingreifen, und 
ſie ariff auch ein. Aber was in den erſten Jahren geleiſtet wurde 
an Arbeiterſchuß, war no<h ſehr dürftig. Noch heute iit der Sc>uß 
der Arbeitenden gegen die aus der Warenprodukiton «wachtenden 
Gefahren rec<ht mangelhaft. Ein Hauptſtreben der heutigen Ar- 
beiterorganiſationen geht auf beſſeren Arbeiterſichuß. Aber 190 
dürftig auch die erſten Arbeiterichußbeſtimmungen waren, ſie 
haben doc< die Arbeitermaſſen vor weiterem Sinken bewahrt 
und haben jie befähigt, die Wege zu erfennen, auf denen ſie jelbſt 
ihre Lage zu verbeſſern vermögen. Und dieſe Erkenntnis prägt 
ſich aus in dem immer ſtärker erwachenden Solidaritätsgefühl, in 
dem ungeſtümen Verlangen nach Deffnung der Schranken, die 
dieſen Weg verſperrten. Und dies Verlangen entſtand in einer 
Zeit, in der auf allen Gedieten des wirtſchaftlichen Lebens immer 
mehr der Grundſaß zur Herrſchaft gefomn nien war, dem freien 
Spiel der Kräfte die Geſtaltung der Dinge zu überlaſſen. Da 
konnte man nicht die Arbeiter mit beſonderen Geſceße8banden um- 
geben. Man mußte der Arbeitericaft die Moglichkeit geben, 
*) Watt iſt der Erfinder des Konvenſators8 und der Verbeſſerer der 
Dampfmaſchin2, Arkwright der CGrfinder der mechaniſchen Spinnmaſchine. 
XX) Gine Anſpielung auf die im vorigen Artikel erwähnte Tatjache, 
daß die Fahrifgegenden ihr Kontingent zum Grfasß der Armee nicht 
mehr voll ſtändig tellten. 
aus eigener Kraft eine Beſſerung ihrer Lage zu verſuchen. Da3 
war nur durc< Beſeitigung der Koalition3verbote möglich, und ſie 
ſind beſeitigt worden. Harte und heiße Kämpfe find darum ge- 
führt worden. Ganz ſicher hat die erwachende politiſche Arbeiter- 
bewegung viel dazu beigetragen, daß die Koalition3verbote ge- 
fallen ſind. 
Das geſc<ab denn auc< vorläufig für den damaligen Nord- 
deutichen Bund durch das Notgewerbegeſez vom 8. Juli 1868. Die 
endgültige Beſeitigung der Verbote erfolgte mit der Gewerbe- 
ordnung vom 21. Juni 1869 für den Norddeutſchen Bund, die 
in den Jahren 1871/72 auch in den jüddeutichen Staaten und im 
Jahre 1889 in Elſaß-Lothringen eingeführt wurde. DTamals8 
wurde den Arbeitern Deutſchlands das Koalitionsrecht, das 
„Ratur- und Grundrecht, mit welchem der Staat nicht brechen 
kann, ohne mit ſeiner eigenen GErijtenzfähigfeit zu hrechen“ -- . 
wie es im Reich8tag de38 Norddeutſchen Bundes Schulze-Delitzich 
nannte -, formell geſichert. Die damaligen Beſtimmungen 
gelten auch heute no<. CS find die 88 152 und 153 der Gewerdbe- 
ordnung, und jie lauten: 
S 152. Mlle Verbote und Strafbeſtimmungen gegen Gewerbe- 
treibende, gewerbliche Gehilfen, Geſellen oder Fabritarbeitexr wegen 
Verabredungen und Vereinigungen zum Lehufe Der Griangung 
günjtiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbejondere miitelji Gin 
ſtellung der Arbeit oder Gntlaſſunz der Arbeiter, werden aufgehoben. 
Jedem Teilnehmer ſteht der.Rüdtritt von jolchen Veremiguangen 
und Verabredungen frei, und es findet aus lezteren weder Klage 
noch Ginrede ſiatt. 
S 153. Wer andere durch Anwerdung förverlichen Zwange3, durch 
Drohungen, durch Görverlezung oder durch Verrufsertlärung be- 
ſtimmt oder zu beitimmen verjucht, an ſolchen Ver abredungen (iS 152) 
teilzunehmen oder ihnen Folge zu leiſten, oder andere durch vleiche 
Mittel hindert eder zu hindern verſucht ti, von Jolchen Verabredüngen 
zurüdzutreten, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten Letiraft, 19- 
fern nac< dem allgemeinen Strafgejese nicht eine härtere Strafe 
eintritt. 
Wie die ÜUrbeiter nun dies ihnen gegebene Koalition3recht an- 
wandten, und wie dieſe Vorſchriften, namentlich der 8153, gegen 
die Arbeiter angewandt wurden, das 1ei im weiteren geſchildert. 
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Yom täglichen Leben der alten Griechen. 
Vorn Adol] Bruno. 
Die heutigen Griechen haben befanntlich mit ihren Ahnen, mit 
y den Beſiegern der Perſer, mit Alfibiades, mit Perikle3 oder 
= mti Alerander dem Großen nur noh wenig zu tun. Sie 
bewohnen dasfelbe Land und ſprechen eine aus dem alten Griem 
entwickelte Sprache -- da3 iſt alles. Aber als in den zwanziger 
Jahren de3 vorigen Jahrhunderts die modernen Griec<hen ihren 
Befreiungsfampf gegen die Türken führten, brach in dem gedbilde- 
ten Curopa ein Begeiſierungs]ſturm aus. Man glaubte, man müßte 
den Nachkommen der berühmten Kämpfer um Troja, die der alte 
Homer beſungen hatte, helfen! Aus Begeiſterung für Hektor und 
Achilles, für Odyſſeus und Ajax zogen Deutſche, Franzoſen und 
 
 
 
 
aus blutigen Shlachten und mußten nun als Verſtärkung nach Frank 
reich hinein. Giner davon haite ſc<on das Giſerne Kreuz im Knopfloch. 
Vor ſec<s8 Wochen waren ſie aus ihrer Garniſon jauchzend und ſingend 
ins Feld gezogen. Nun Hatten ſie alle ſchon die Schre>en des Krieges 
geſehen, und dex ToD hatte jie mehr al8 einmal geſtreift. Mit ernſtem 
Geſicht zeigte uns ein Zwanzigjähriger, wo am Halſe ſeines Pferdes 
ein Granatſplitter eine breite Wunde geriſſen hatte. Er ſelber war 
kopfüber in den San geflogen. Während wir im trüben Scheine eine3 
Talglämpc<ens zwiſchen den Pferden lagen, erzählten uns die Soldaten 
von ihren abenteuerlichen Fahrten: von tollfühnen Patrouillenritten, 
von Nachtlagern unterm Sternenhimmel, von den Szenen des Schlacht- 
feldes, und mit leiſer Stimme von dem und jenem Kameraden, Der 
ſchon auf dem Feld der Ehre gefallen. 
Die Städte und Dörfer, durc< die wir fuhren, gaben den Geſchichten 
der Soldaten den rechten Hintergrund. Immer wieder Ichien der Mond 
auf zuſammengebrochene Gizbel und dur< ausgebrannte Fenſterhöhlen. 
So rollie der Zug durc< das belgiſc<e Land. Wir aber ſtreäten uns 
zwiſchen unſern braven Dragonern und ihren wa>ern Gäulen zum 
Schlafe aus. . . | 
Stunden noc< führen wir, bis plözßlich der Zug hielt. Waren wir 
noc< in Belgien oder ſchon in Frankreich drin? Kein Zweifel: wenn 
wir in der Bahn blieben, hinderte uns nicht3 mehr daran, bis dicht 
hinter die Front der großen Schlacht in Frankreich zu kommen. Leicht- 
ſinnig wollte im die Fahrt noch fortſeßen, aber mein Freund war ge- 
wiſſenhafter. Er kommandierte: Raus? In rabenſchwarzer Nacht 
ſtolperten wir über die Gleiſe eines großen Bahnhofes bis zur Loko»- 
motive unſeres Zuges. Aber weder der Lokomotivführer noch der höchſte 
 
Offizier des Dragonerzuges wußte, wo wir waren. So wundervoll 
flappt auch im Kriege die Organiſation des Eitenvpahndienſtes, daß die 
Truppenkörper nach dem Plane der Höchſikfommandierenden wie lebende 
Figuren auf dem großen Schachbreit der Weligeſ<hichie hin und her 
geſchoben werden. 
Immer Weiter tappten wir in der Dunkelheit, bis uns in einer 
bellerleuchteten Bahnhof8halle ein Offizier anſc<hnauzte: „Zum Donner= 
wetter, warum meldet Ihr Euch nicht bei mir?“ Da wußten wir, daß 
wir in gut preußiſchen Händen waren. Der Gffizier wurde ſehr 
lieben3würdig, al3 wir uns ihm als Preſſevertreter auf Kriegsfahrten 
vorſtellten, und lud uns ein, bei der Bahnhofs8wache zu übernachten. 
Wir trotteten uns alſo in einen großen Warteſaal, der zur Hälfte mit 
Stroh bede>t war, auf dem einige Dußend deutſche Landſturmmänner, 
auch im Schlaf das Gewehr im Arm, ein ganz hervorragendes 'Schnards- 
konzert ausführten. 
Wir nahmen die Pläße von zweien ein, die gerade zur Wache kom=- 
mandiert wurden, und ſc<nardc<hten mit. Als unſere Schlafkameraden 
munter wurden, wunderien ſie ſich nicht wenig Über die Ginquartierung 
und glaubten ſchon, daß über Nacht Frankttireure eingeliefert worden 
ſeien. Wir machten ihnen aber in ſehr einwandfreiem Deutſch klar, 
daß wir keine Luſt verſpürten, ſtandrechtlich erſchoſſen zu werden, und 
kochten den Soldaten als Gegenleiſtung für das großartige Nachtlager 
einen prima ſ<warzen Tee. 
- Bei Tage3anbruch machten wir uns dann auf den Weg, um den 
Spuren des Krieges nachzugehen. Von dem, was wir ſahen, das 
nächſtemal. 
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