Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

Arbeiter- Jugend 
311 
 
 
blatt“ heraus8gegeben. Im Oktober des8ſelben Jahre8 ricdteten wir das 
erſte Jugendheim in Berlin ein, das aus drei Räumen bejyiand. 
E38 wurde von der Jugend ſelbſt geſchaffen und auc< die laufenden 
Roſten wurden von ihr aufgebracht. Trokdem die Organiſation ſtets 
darauf geachtet hatte, daß in ihren Veranſtaltungen keine Politik ge- 
trieben würde, erklärte ſie eine polizeiliche Verfügung vom 25. Oktober 
1909 für einen „politiſchen Verein“. Da wir aus Dieſem Vorgehen 
nicht die von der Behörde eriwarteten Konſequenzen zogen, jondern 
ruhig weiter arbeiteten, löſte der Poligeipräſident am 
10. Januar 1910 unſere Organiſation auf. Da3 Ober- 
verwaltungsgericht, das von uns als Berufung3injtang angeruſen 
wurde, erflärte dieſe Verfügungen am 14. Oktober 1910 als zu JINecht 
beſtehend. 
Kurz vor der Auflöſ ung, am 19. Juli, erlitt unſer Verein einen 
ſchweren Verluſt durch den Tod eine3 ſeiner begabteſten Führer, de3 
Genoſſen FriB Maſ<tfe. Majc<ke war ein glängender Agitator und 
energiſcher Kämpfer für unſere Sache; ſein Wirken wird uns unver- 
'geßlich bleiben. -- 
Heute zählt die freie Jugendbewegung Groß-Berlins 13 000 An- 
hänger. Drei große, ſchöne Heime ſtehen der Jugend zur Verfügung. 
Verſammlungen mit belehrenden Vorträgen, Vortragskurſfe, Unter- 
haltung3- und Spielabende, Wanderungen uſw. werden in großer Zahl 
veranſtaltet. Ueber 500 Funktionäre ſind allein in Berlin tätig. 
Das kann und darf uns aber alles nicht befriedigen. In der 
jebigen ſchweren Zeit iſt es die heiligſte Pflicht unſerer Jugendgenoſſen 
und -genoſſinnen, feſt zuſammenzuhalten, um nachher in noch ſtärkerem 
Maße als biSher für die Verbreitung unſerer Jdeale eintreten zu 
können. 
 
EE ede eee ed ede Ee ie de did ab Be dme ded ded be 
Allen Gewalten 
Zum Truß ſich erhalten, 
Nimmer ſich beugen. 
Kräftig ſich zeigen, 
Rufet die Arme 
Der Götter herbei. 
Goethe. 
 
Feiger Gedanken 
Bängliches Schwanken, 
Weibiſches Zagen, 
“ Aengſtliches Klagen 
Wendet kein Elend, 
Macht dich nicht frei. 
 
abe enn ee ada Za be bo Ede drdEaaEdaAaÖEHE aM MoAſſ 
EN TEN 
< Wie ſie ihren Mann geholt hat. 
Ein elſäſſiſcher Krieg3ausſ<nitt. 
ER 10 Strupps, “ tagten ſie in S. .. und meinten einen Mann und 
y eine Frau damit. Die Strupps waren nichts Beſondere3. Ein 
- Ürbeiter eben und ſeine Frau. Und daß ſie in einer der 
Spinnereien da drüben arbeiteten, das war auch nichts Beſonderes. 
Denn ſo wie die Strupp3, jo gab es in dem kleinen Grenzort noch 
Sunderte und Hunderte, (lacht und recht. Manche ſc<lechter, 
manche rechter, je nachdem. 
Und daß einen Büchſenſ<uß weit von ihrem Arbeit3ſaale 
Frankreich anfing -- ſie konnten's ſehen, wenn ſie aufjfahen von 
ihren Drehſpindeln -- das war ſicher auch nicht38 Beoſondere3. 
Wemigſten3 im Frieden nicht. Freilich, jezt im Kriege war e3 doch 
beſonder3. 
Denn kaum, daß der Krieg ſein Maul auftat, gingen die Tore 
der Spinnereien von S. . . zu. Ganz automatiſch und ſicherlich 
viel eher, als jonſt irgendeine Fabrik im innern Reich. Da3 wa3 
darauf folgte = die Cinberufung Strupp3 und feiner Arbeit8- 
fameraden, blaſſere und doch beherrſchte Geſichter ihrer Chefrauen. 
Referviſtentritte auf dem S. . . . Pflaſter, Winken, Rufen au3 den 
Venſtern =- das alles war nun allerdings auch wieder, wie e3 
überall im ganzen Fünfundſechzigmillionenreiche war. 
Max Strupp war eingerüct. 
„Verſorgt“, ſagte feine Frau, die Marie Strupp. 
iromiſic<. Arbeiterfrauen kennen dieſes Gewächs nicht. 
ehrlich aus dem Gedantentreiſe der Fabrif heraus. Der Fabrik, 
die zugemacht hat. Die niemand mehr verſorgen kann im Kriege, 
au mt die Marie Strupp, die jchon ſo lange darin werkelte und 
ſchaffte 
„Sei ruhig, Struppin,“ hieß e8, „der Staat zahlt D 
nat3geld für Deinen eingerückten Mann.“ 
„a,“ ſagte ſie einfach, „dafür näh ich jeßt die Leintücher fürs 
Lazarett.“ Und ſie meinte e8 wieder nicht ironi ich, jondern ver- 
band nur eine3 mit dem andern. 
So alſo verlief der Kriegsbeginn für S . durc<aus nicht 
eigenartig. Vielleicht ſogar noch ein wenig einfacher, als ander3wo 
im Reich. Denn die Arbeiterfrauen in S. ... machten ſo gut wie kein 
Geſchrei, als ihre Männer nach Zabern und nach Straßburg 
rücten. - Arbeiterfrauen geben von Haus au38 nicht viel auf ent- 
behrliche Gemüt3bewegungen. Nicht daß ſie roher und ſtumpfer 
wären als die anderen. Aber da ſind andere Sorgen: da38 Lohn- 
 
 
Iicht 
Sondern 
ir ein Mo- 
Famen -- und wie dann die mit den Bettüchern für unſer L 
buch mit dem Abſchlußſtrich „Hier fing der Krieg an“ und manches 
andere, das die Bürgers8frau nicht halb jo jehr belaſtet. Und dazu 
kommt der Wunjch, den ſie mit ihr, die Bürger3- mit der Arbeiter- 
frau, gemein hat: „Mac'3 ihm mit Schreien und Weinen nicht 
noc< ſchwerer!“ 
Al38 die Marie Strupp eben das zweite Dußend Bettücher 
zu nähen begann, marſchierten die Franzoſen über die Grenze in 
. . ein. 
Da3 zweite Dutzend Bettücher der Struppin iſt niemal3 fertig 
geworden. Die Franzoſen kamen und nahmen ihr das erſte. 
„Icdht für Euch,“ jagte die Struppin laut. Das verjtanden 
die Franzoſen nicht. Aber die wehrenden Hände der Struppin 
verſtanden ſie. Auf die klopften ſie halb ſcherzend und halb höhniich 
und nahmen die Bettücher mit. 
Da ſaß fie nun, die Marie Strupp mit ihrer Jtadel, von der 
e3 weiß und müßig hberunterhing. Damit Löcher zuzunähen, die 
in der Luft die Kugeln riſſen . . . ? Alſo war ſie müßig, wie ihr 
Jaden und ſchaute zum Fenſter hinau3. Allerlei jah ſie da. 
Uebermütige Franzoſen, die Nojen in den Flintenläufen ftiecken 
batten. Die Zettel verteilten und die Gaſſen entlang ſchrien, fie 
kämen al3 Befreier der Leute von S. ..., als Befreier vom deutichen 
Joh. Das verſtand die Marie Strupp nicht. 
„Mein Max wird's Euch ſchon lehren,“ dachte ſie und ſchaute 
weiter zum zenſter hinaus. Und wie ſie je8t gedanfenvoll die 
müßige Nadel in den Fenitervorhang ſteckte, fagte ſie laut: „Viel- 
(ert muß jein Regiment gerade hier dur<. Wenn er nur 1<on 
a ware.“ 
Aber da kam eine Nachbarin und erzählte hundertundeins von 
der Einquartierung der Franzojen. Daß ſie erklärt hätten, fein 
Teufel bringe ſie wieder au8 S.... hinaus. Daß jie von S.... 
direft nach Berlin marſ<hieren wollten. Daß ihr Präſident dem 
deutic<en Kaiſer vier Stunden Bedenkzeit gegeben hatte, ſich zu 
unterwerfen. 
Einer von S...., der's immer mit den Franzoſen gehalten 
habe, der hätte dieſen eine Liſte angefertigt. Und darauf iiäanden 
5 die wohlhabenden. Leute, die feſt zum Deutſchen Reich geſtanden 
atten. 
Und da ging die Tür auf. Eine dritte Arbeiterfrau war e3. 
Die hatte das von der Viſie eben noch gehört. Ja, jagie fie, und 
ſie wüßte noch etwas dazu. Nämlich, auf der Giite ieien alle die 
Gläubiger jenes Franzolenfreundes geſtanden, die der au? diele 
jonderbare Werte lo3 fein wollte. 
Und dann war e3, daß die drei Arbeiterfrauen au? einmal 
berzlich lachen mußten, troß der eiternen Zeit. 
Aber mitten in ihrem Gelächter fing es draußen zu pfeifen an, 
ſo daß die Frauen das Fenſter aufriſſen. Kein Zweifel: Deutich2 
Kugeln, deutiche Granaten. Und jekt ein Schreien und Gelaufe 
der Sranzo| en in den Gaffen: „Les Allemands! Les Allemands! 
(die Deutſchen !)“ 
Ganz dicht fekten jich die drei Arbeiterfrauen zuſammen. Sie 
hätten auch in den Keller flüchten fonnen. Aber fie mußten es 
vergeſſen haben. Nur das Fenjter hatten fie wieder zugemacht. 
Ihre drei Stirnen drückten ſie feſt an die Schei be. 
Dort drüben lag die Fabrik. Zn der hatten jich die Franzoten 
feſtgeſeßt. Und Jeßt jahen fie, wie eine deutiche Granate durch 
das Saoritdac durc<ſchlug. 
“ ſagte eine, „gnad uns Gott!“ „LO,“ 
unſre 'Maſ ſchinen!“ = „VO,“ jagte die Marie Strupp, „ſie 
den Jranzoien!“ 
Und dann fing ſie von ihre 
ſie gerade das zweite Dußend ea hätte, as 
jagte die zweite, 
geben 's 
 
 
die Stanzojen 
azarett 
und =- und . Die Marie Strupp 
yatte jo lange ganz geſ<wiegen, ſeitdem ihr Mann fort War, daß 
ihr Mund jetzt ganz mechanijch | ;c Luft machte. 
Und grauſig war es, wie während der lange ausgeſponnenen 
Erzählung von den Bettüchern das Verderben draußen ſichtbar 
durch die Stadt ging. Wie ein Teil der Jabrit zuſammenbrach, 
ein anderer auf in Flammen ging, wie die Franzojen heraus- 
ſtürzten, wie ſie i<rien, wie ſie reihenweiſe in den Gaſſen fielen, 
wie ihre Pferde ich am Boden wälzten und mit den Sufen wild 
gegen Simmel ſc<lugen. Und wie die ſiählerne Wolke, die die 
unſichtbaren Deut ſichen über dieſes Städtchen vorausi<hic>ten, ſich 
no<h immer micht wuSgeregnet hatte. 
Und noc< immer waren die Stirnen der drei Arbeiterfrauen 
feſt ans Fenſter gepreßt. Jett aber fuhren ſie zurück. Schräg 
gegenüber hatte eine Granate ein rieſiges Loc< aus dem Pflaſter 
geriſſen. Das Pflaſter bröcelte hinein. Ein ſc<wankender Ver- 
wundeter fiel hinein. Gine Straßenlaterne am Rande zitterte und 
bog. ſich und fiel auch hinein. 
Dann ſchwieg der Geſ<hoßhagel ein paar Minuten lang. Die 
Schlacht holte Atem. 
 
umgegangen wären -- und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.