Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

 
 
 
 
eint alle 14 Tage. 
Eingetragen in die Poſt- Zeitungsliſte, 
Nr. 24 
Worte eines deutſchen Landwehrmannes 
an ſeinen Sohn. 
. Mein lieber Junge! | 
- Die Schlacht iſt vorbei. Die Ruſſen ſind, ſoweit ic< da3 zu 
Überſehen vermag, gänzlich geſchlagen. Nach den furchtbaren Sr- 
eigniſſen der lezten Tage ſind uns -- hoffentlich! = nun einige 
Stunden der Ruhe vergönnt; und die will ich dazu benußen, Dir 
zu ſc<reiben. Wer weiß, vielleicht iſt es das leztemal, und ic< 
denfe, meine Worte werden darum um ſo eindringlicher zu Dir 
reden. | un 
Geſtern nachmittag lagen wir noch im Schüßengraben dem 
Feinde gegenüber. Unſer Graben zog ſiß am Rande eines Föhren- 
walde3 entlang; vor un8 dehnte ſic< die braune Heide. Hinter 
einer wellenförmigen Erhebung, kaum 8300 Meter vor uns, hatten 
ſich die Ruſſen eingegraben. Wir ſahen nicht8 von ihnen; nur das 
Erdreich, das ſie ausgeworfen hatten, 30g ſic< wie ein helles Band 
dur< die dunkle Landſchaft. Wenn ſich irgendwo etwas zu rühren 
ſchien, krachten hüben wie drüben vereinzelte Schüſſe. Wir 
warteten ſehnlichſt auf da8 Erſcheinen unſerer Artillerie. 
Wie ich ſo da lag, ſchweiften meine Gedanken zurück zu Cuch. 
Wie manches liebe Mal bin ih mit Dir in friedlicher Zeit über 
die Heide gewandert; wie manches liebe Mal haben wir uns nach 
langer Wanderung in brauner Heide acelagert, haben ihren tiefen 
Frieden, ihre verborgene Schönheit auf uns wirken laſſen. Wie 
manches liebe Mal haben wir in fol<hen Stunden vertraut geredet 
über das, was Dich am meiſten bewegte: über Deine Bejtrebungen 
im Kreiſe Deiner Kameraden und Kameradinnen. Und wie ging 
Dir da da38 Herz auf, wenn wir von der Zukunft ſprachen, von der 
Zukunft, in der Eure Wünſche der Erfüllung entgegenreifen follen! 
Sieh, mein Junge, und dieſe Erinnerung iſt es, die mir in 
dieſer ſchifal8ſ<weren Stunde die Feder in die Hand gibt. I< 
kenne Dich zwar gut genug, um zu wiſſen, daß Du, mag es 
'nun kommen wie e8 will, das hohe unverrüc>bare Ziel nicht aus 
dem Auge verlieren wirſt. Aber es iſt nicht genug, daß Du ſelbſt 
zur Stange hältſt, Du mußt auch auf Deine Kameraden eimwirken, 
daß ſie zuſammenbleiben zu gemeinſamer Arbeit. Wa38 Euch ſc<on 
in Frieden3zeiten eindringlich geraten wurde, das iſt jeßt doppelt 
notwendig: Schließt Euch zuſammen zu unlöSbarer Gemeinſchaft! 
Jett, da der Sturm de3 Krieges über die Länder brauſt, iſt der 
einzelne hilfloſer denn je. Wie oft habe ich En< geſagt, daß Ihr 
unſere Hoffnung ſeid; daß Jhr, wenn uns Alten dereinſt das 
Schwert entſinkt, e8 mit feſter Hand aufnehmen müßt; daß Jr, 
dereinſt das geiſtige Erbteil der Arbeiterklaſſe antreten ſollt. 
Darum ſage i<ß: Jhr ſeid unſere Hoffnung. Das wäre das Troſt- 
lofeſte an dieſem fur<htbaren Kriege, wenn er die Hoffnung auf eine 
beſſerg Zukunft unſerer Sache zertrinmmerte. 
niemal38 fommen. Niemals! 
Du entgegneſt mir vielleicht, daß ces jezt ſchwerer als je ſei, 
die Kräfte zu gewinnen, die Ench ſonſt bereitwillig zur Verfügung 
ſianden. Das glaube ich ohne weiteres. Aber das ſage ich Dir: 
Schwerer als bei uns kann es damit bei Cuch auch nicht ſein. E3 
kommt vor, daß eine Kompagnie während der Schlacht ihre ſämt- 
lichen Offiziere und Unteroffiziere verliert. Dann weiſt e3 ſich 
aus, wer Kopf und Herz auf dem rechten Fie> hat, und mancher 
I<lichte Soldat hat ſich in ſol<hen Stunden höchſter Gefahr das 
Vertrauen und die Liebe ſeiner Kameraden erworben. Sollten 
nicht auc; in Euren Reihen Genoſſen oder Genoſſinnen ſein, die 
reis der Einzel- Nummer i0 ig. | 2 4440 4 S G. m. b. H., 
NAbonnement vierteljährlich 50 Pfemnto. | Berlin, 21. November ] förkten für vie 8evattion find 
Dahin darf es. 
Expedition: Buchhandlung Vorwärts, Paul | 
Lindenſtraße 3. Alle Zu- | 
zu richten | 
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 68 | 
1914 
während de38 Kriege3 in die Breſche ſpringen können? I< zweifle 
keinen Augenbli> daran. Falſche Scheu hält ſie vielleicht zurüs, 
hervorzutreten. Die muß überwunden werden. Nur erſt be- 
ginnen, das weitere findet ſich; „es wächſt der Menſc< mit ſeinen 
höhern Zweden“. Zudem, wenn alle eines Sinnes jind, dann iſt 
Die größte Schwierigkeit ſhon überwunden. Wir haben hier in 
unſerer Korporalichaft einen Hamburger; er iſt ſicher der Juüngite 
unter un3, und doc< haben wir unbedingtes Vertrauen zu ihm. 
Warum? Dieſer ſtet3 muntere Burſche beſißt eine fabelhafte 
Geſchilichfeit in der SHerſiellung höchſt willfommener Veahlzeiten 
aus -- beinahe hätte ich geſagt: nichts. Wenn wir müde und auU3- 
gehungert in3 Quartier fommen und alles int leer, dann dauert 
e3 feine Viertelſtunde, ſo hat der Teufelskerl einen Keſſel auf dem 
Feuer mit allerlei Shmackhaftem. Woher er das immer mimmt, 
das weiß ſicher nur er allein. Und wenn wir dann begierig unferen 
Napf auslöffeln, dann lacht ſein ganzes Geſicht. Cin Prachikerl, 
jag iM Dir; in der ganzen Kompagme iſt er beliebt und wir, 
jeine engeren Kameraden, gehen für ihn durc<s Feuer. Seines 
Zeichen38 iſt er Schuſter und hat kaum jemals vorher Gelegen- 
beit gehabt, als Koch für eine größere Geſellichaft zu wirken. -- 
Und darum ſage ic: Faßt nur das Werk beherzt an, es wird 
ſchon geben. Wer fich immer nur auf andere verläßt, der wird 
häufig genug verlaſſen jein. Und ſc<ließli<? iit es doD auFg Cure 
eigene Sache, für die Ihr arbeitet. 
Da3 beſte iſt, Du machſt gleich den Anfang und geöſt bei 
Eurer nächſten Zuſammenkunft mit gutem Beiſpiele voran. Und 
wenn die anderen dann noch zaghaft bleiben, dann lies ihnen dieſen 
Brief vor; vielleicht hilft er, das Bewußtſein ihrer Verantwortiic- 
Feit zu feſtigen. . 
Erinnerſt Du Dich meiner Worte, die ich zu Dir ſprach auf 
unſerer lezten Wanderung im Juli? Es war ein heißer Tag, und 
wir raſteten unter einer großen Buche. Nachdem wir ſeit einiger 
Zeit über die Freiheit des Menſchen und ähnliche Dinge geſprochen 
hatten, wurdeſt Du ungeduldig und fragteſt mich, was das fei, dit 
Jreiheit des Menſchen. Ob das nur eine ſIchöne RedenSart el, 
oder ob man ſich etwas Beſtimmtes darunter vorſtellen könne? 
I< empfinde noh heute die Freude von damals im mir über Deine 
Jrage; denn ſie war und iſt mir ein Beweis, daß Du nach Klarheit 
über Weg und Ziel zu ſtreben beginnſt. I< jagte Dir damals, 
daß Deine Jrage für uns Arbeiter ſchr einfac zu beantworten jet; 
für uns bedeutet Freiheit zunächſt wirtſchaftliche Befreiung, und 
wir haben un38 ſehr eingehend darüber unterhalten. Heute will 
ich noch dieſes hinzufügen: der Rieſenkampf um die Befreiung der 
arbeitenden Menſchheit wird niemals zum Ziele führen, wenn nur 
einige wenige, nur die „Führer“ ſich dafür einfeßen. Nein, diefer 
Kampf geht uns alle an; auch Dich und mich! Jeder einzelne 
hat die Pfli<ht, mitzukämpfen, wenn er nicht zum Feigling umd, 
was ſ<limmer iſt, zum Verräter an ſeiner Klaſſe werden will. 
„Nur der verdient fich Freiheit wie das Leben, 
der tuglich ſie erobern muß.“ 
Und darum iſt e8 Eure heilige Pflicht, Euch das geiſtige Rüſt- 
zeug zu beſchaffen, damit Jhr in dem bevorſtehenden Kampfe mit 
Ehren beſtehen könnt. Das geiſtige Rüſtzeug; denn Euer 
Kampf wird ein Kampf mit geiſtigen Waffen ſein. | 
Da3 heißt nicht3 andere38, als daß Ihr unabläſſig beſtrebt ſein 
müßt, an Eurer geiſtigen Weiterbildung zu arbeiten; unabläſſig, 
als gäbe es kein Fertigwerden. Wie das im einzelnen durc< Vor- 
träge; Lektüre, Ausſprache u. a. m. erſtrebt werden kann, das
	        
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