Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

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er: wahre ErlebniSwunder aufzuſpüren. Er kannte eine Huf- 
ſchmiede, eine Seilerei, eine Wurſtfabrik, wo wir ſtundenlang ſtehen 
und gaffen konnten; er wußte Waſſertiumpel, Schuppen und allerlei 
Lägerpläße ausfindig zu maden, die für uns jede8mal eine neue 
Welt bedeuteten. N 
Irgendwo in der Vorſtadt, jc<hon ziemlich weit draußen, gab e3 
eine große grüne Wiefenfläche, die an einer Seite durc< eine hohe, 
jc<warz geteerte Planke, an den drei übrigen Seiten durch Häujer 
und Mauern abgeſperrt war, die „Feſtwiſch“, wie Hein ſie nannte. 
Da das Ueberſieigen der Planke Schwierigkeiten machte und zudem 
ſtreng verboten war, ſo turnten wir natürlich heimlicherweiß c oft 
und gern hinüber. 
Eine35 Tages klebten an der ſchwarzen Planke knallgelbe Zettel, 
auf denen nichts weiter als die drei Worte: „Teras Jack kommt“, 
zu lejen waren." 
Die Nachricht rief einen Aufruhr in unſerer Straße hervor, 
wie ein. unſchuldiger Spazierſto>, der einen Ameiſenhaufen trifft. 
Der ganze Simmel unjerer Indianergeſchichten ;chien zu uns her- 
niederſteigen zu wollen. Texas Ja>, -- es war keiner von uns, der 
ihn nicht gefannt oder nicht von ihm zu erzählen gewußt hätte. 
Nachfolgende Plakate verkündeten kurz darauf, daß auf der 
„Jeſtwiete“ ein großes Pferderennen ſtattfinden und daß Texas 
Ja> mit ſeinen Reiterkunſtſtüken die Hauptnummer des Pro- 
gramms bilden würde. 
Bald wurden die Tribünen auf dem Renunuplatße hergerichtet 
und Zelte aufgeſchlagen, und gleichzeitig erſchienen Arbeiter, die zu 
unſerem maßlofen Aerger alle Plankenbretter niet- und nagelfeſt 
haäammerten und alle Lücken dicht machten. 
Die JsSraeliten am Schilfmeer konnten nicht „bedröppelter“ 
daſtehen al3 wir vor der Holzwand. 
Ratlos ſahen wir auf unſeren Freund und Anführer. Hein 
wußte, was er für uns bedeutete und hatte ſich nac<) und nach ſo 
in die Rolle de3 überlegenen Führers hineingefunden, daß er uns 
manche38 Mal jeine Macht ſpüren ließ. 
Auch bei dieſer Gelegenheit ließ ex uns 
zappeln. | .. - 
„34 krieg villicht von min Vadder foftig Penn (fünfzig 
Pfennig) forn Stohplatz (Stehplaß),“ ſagte er großſpurig; dabei 
wußte er natürlich genau, daß unſere Eltern uns die dreimal 
funfzig Pfennig nie und nimmer geben würden. 
Wir ſtanden wie beäoſſene Pudel. 
zuerſt ein wenig 
unſere Straße. Aber ales Gerede verntehrte nur unſern Schmerz. 
Wir hatten alle Hoffnungen, auch nur einen Blick in jenes gelobte 
Land Jenſeits d:?r Planke werfen zu können, aufgegeben. 
Da, im letzten Augenblick -- die Muſik in den Zelten ſpielte 
ſhon, Fahnen waren aufgezogen und das Publikum drängte ſich 
zu den Kaſſen -- kam Hein Heitmöller mit der Freudenbotſchaft: 
„> hev (ich habe) Biljett3!“ wobei er uns mit ſeinem fröh- 
lichſten Schalfsgeſicht anſah. 
„Plankenbiliett8 notürlich,“ jekte or hinzu und erklärte uns 
dann umſtändlich, wie es bei Neulingen nötig iſt, 
er fim ohne unſer Mittun ausgeklügelt hatte. Es war ein ſcharf- 
finniger, kühner und verblüffend einfacher Plan, der -der Beob- 
achtung38gabe jeine8 Erfinders alle Ehre machte, und der uns allen 
den Weg au8 der grauen, oreionisloſen Vorſtadt in eine Welt der 
Wunder zeigte. Hein Heitmöller hatte irgendwo auf dem Feſtplaß 
eine Bedürfnisanſtalt entdeckt, die, roh aus Balken und Brettern 
zurechtgezimmert, in einer Höhe mit der Planfe in einer E>e des 
Plaßes lag. 
„Dor meut wie öber de Plank (da muſſen wir über die Planke), 
und dann dot wie ſo (tun wir ſo), a8 wenn wie grode ut dat Hus 
rutfeumen (gerade aus dem Gaus heransfämen)“ . . . 
Dabei ahmte er eine wohlbeobachtete Handbewegung nach, mit 
ber männliche Beſucher eine ſolche Anſtalt zu verlaſſen pflegen -- 
„und denn markt keen Minſc< wat (mert Fein Veenſ< wa8).“ 
Er war auch der erſte, der ſeinen Plan ausführte und dann, 
wie wir durch einen Plankenſpalt gewahrten, allen, die es ſehen 
wollten, mit der um jtändlichen Ordnung feimer Toilett 6 ausein- 
anderfeßte, wo er geweſen war. Danach drängte er fich durch die 
Menge, als ob er dazugehörte, und fam ſchließlich wieder zu uns 
zurück, die wir ungeduldig warteten. 
Nach feinen Kommandos vollführten wir die gleichen Manöver, 
und als wir erſt im Gedränge waren, fühlten wir uns ſo ſicher wie 
nur einer von all den Zahlungsfähigen um uns herum, und unſer 
Interejſe an den Vorgängen auf dem Rennplaß war gewiß nicht 
geringer. 
„Hein, kiek mol! (ku> mal) Hein, heſt den ſneidigen Yockey 
ſehn? Sein, de Gaul ſchüt koppeiſter (ſ<ießt kopfüber)!“ jo riefen 
- „Je naher der erwartete 
Tag kam, deſto fabelhaftere Sachen von Texas Ja> kurſierten dur; 
ſeinen Plan, den . 
Arbeiter-JIugend 
rennen 
engen meg 
wir, eingefeilt zwiſchen den Hüften, Ellbogen und Bäuchen der Ums- 
ſtehenden, unſerm Freunde zu, der ſich zwiſchen den Schenkeln 
eine8 dicken Herrn hart an der Barriere hingeho>kt hatte und in 
itummer Spannung das Rennen verfolgte. Endli6 kam der un- 
geduldig Erwartete. „Terxa38 Jac> kummt“, hieß es überall. Ip 
einer Wolke von Staub raſte auf einem rotbraunen Pony ein 
fleiner, in flammendes Gelb gekleideter: Reiter mit fliegenden 
Saaren dahin, der ſich im vollen Jagen auf den Rücken ſeines 
Pferdes ſtellte, grüßte und ſich dann wieder in den Sattel gleiten 
ließ, um bei der nächſten Runde -- plößlich ſeitwärts abſinkend -- 
ein Taſchentuch zu ergreifen, das eine Dame auf einem vorderen 
Tribünenplaß im der Hand hielt, und das er =- wieder aufrecht im 
Sattel ſtebend = triumphierend herumſchwentkte. 
- „Junge, Junge, dat iſt ober n Oos (Aa8)“, in diejem Urteil 
iwwaren wir einig, als wir zu Viert mit dem drängenden Menſc<en- 
ſtrom den Feſtplatz verließen. 
= 
-. 
Zu Hauje führte Hein ein ziemlich jonnenloſes Daſein. Er 
war ein Haltekind in der. Familie eines Zigarrenmacher8, deſſen 
gelbes, faltiges Geſicht mit dem ſchwelenden Stummel zwiſchen 
den halb entblößten Zähnen mir immer ein ſtilles Grauen einflößte 
und deſſen harte, ewig ſcheltende Stimme mich oft erſchre>te, wenn 
er Hein wegen irgendeiner Ungeſchi>lichkeit beim Wickelmachen 
zurec<htwies8 oder ihm einen von Drohungen begleiteten Auftrag er- 
teilte. = Die Großſtadt hat einen unruhigen Wellenſchlag. 
Wa3 heute beiſammen wohnt, iſt morgen voneinander ge- 
trennt, und Geſchie entſcheiden jich über Nacht. 
Unf ere Eltern waren, einer günſtigeren Arbeitsgelegenheit fol- 
gend, -in eine ganz andere Stadtgegend gezogen, und wir Kinder 
mußten, Erinnerung und Freundſchaft zurüclaſſend, auf anderem 
Boden Wurzel ſchlagen. 
„3& kniep ut (ich kneife aus),“ war das lezte Wort, das wir 
von unfjerm Hein hörten. 
nd Hein dünkte uns Manns genug, feine Abjicht wahr zu 
machen. Eines Abends nach der Abendmahlzeit las der Vater 
laut au3 einer Zeitung vor, wie er immer tat, wenn er etwa3 Inter- 
eſfantes fand. E38 war von einem Jungen die Rede, der rich auf 
einem Kohlendampfer im Hafen als Schiffsjunge anmuſtern laſſen 
wollte, und der kurzerhand über Bord geſprungen war, als der 
Kapitän ihn einem Hafenpoliziſten übergeben wollte. Der Junge, 
den man natürlich aus dem Waſſer gezogen und nah Hauſe zurüc- 
befördert Gatte, war fein anderer al38 Hein Seitniöldler. 
yro) Heute denke ich zuweilen an ihn und jeine verwegene Tat. 
Nacht zuſammenbrechen wollte er unter dem Druck und der Enge 
jeines freudelofen Daſein3, und wie damals auf der Feſtwieſe, ſo 
hoffte er auch hier das Land ſeiner Sehnſucht zu erreichen, mit 
einem Sprung, mit einem Plankenbillett in die Freiheit. -- 
Ob es ihm doch noch geglüct iſt, dieſen 19 großen und jchweren 
Sprung zu tun? Dder ob cer in das graue Steingelaß eimer Miet- 
kaſerne zurückfriehen mußte und Wickel machen und die blauen 
Zigarrenpafete durc die Stadt ſchleppen, aa a 
 
 
 
 
ardhitettoniſc = 
Architekt (griedh.), Baumeiſter, Baufkünſtler ; 
Der. Baukunſt entſprechend. 
Deportation (lat.), VELPaNNUnG, Verſchi>ung. 
Funktionär (lat.), jemand, der cine beſtimmte Obliegenheit 
ausübt, Beamter, Angeſtellter. 
Garnieren (franz.), einfaſſen, verzieren. 
Grazien (lat., Dreifilbig), Göttinnen der Anmut. 
Intim (lat., intimüs = 'der innerxſte), innig vertraut; „iraulich“. 
Kathedrale (gricch.), Hauptkirche, Dom. 
Komplex llat., Ton .auf der Endſilbe), Inbegriff, Geſamimatſe, Gruppe. 
Nimbus (lat.), Heiligenſchein. 
Oppoſition att, die Partei oder Richtung, die Der. herr] ſchenden Partei 
entgegengeſeBt iſt. 
PartifulariSmus (lat.), die Partei oder Richtung, die in einem größeren 
- Gefellſichaft35verband, im .Ginheitsſtaat- uſw. die Sekbſtänvdigkeit der 
Teilc anſtrebt; "Sonderpolitik, „Kirchturmspolitik“. 
Profil (lat., Ton auf der Gndſilbe), Seitenanſicht. 
Reaktionär (lat.), rückſchrittlich. 
Satire (lat.), Spott, Spottſchrift, gedicht, =rede. 
Sermon (lat., Ton auf der Endſfilbe), Rederei, „Geſchwafel“. 
(Funktion) 
 
oS0ooOGgOnNaCREaNCGCOCEOEECRNOREnEROCOCORIDCNCBEODEOGEIEGENaIgERnOoaIaConARanad 
Inhalt von Nr. 24t Worte eines deutſc<en Landwehrmanne3 aum ſeinen 
Sohn. = Die attiſche Komödie und Ariſtophance3. =- Die Lehrlingsprüfungs- 
kommiſſion. Von Th. Th. (Schluß). =- Die gotiiche Kathedrale. Von Adolf 
Behne. -- Warum es ihn ſc<merzte. Von Frit Müller. --- Die freie Jugendbewegung 
in Krieg3zeiten: -- Da3 Plankenbillett. Von Hammersdorff. =- Fremdwörter. 
 
Berantwortlich für die Redaktion: Karl Korn. -- Verlag: Fr. Ebert (Zentralſtelle für die arbeitende Jugend Deutſchlands), -- Druck: Vorwärts Buchdrucferet u. Verlags- 
anſtalt Paul Singer & Co. Sämtlich in Berlin, 
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