Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

339 
Mehr als für alle anderen gilt das alle3 für junge Arbeiter 
und Arbeiterinnen. Sie, die in dieſem Kriege ſelber mitzuhelfen 
no<h nicht berufen ſind, haben ſpäter erſt die Aufgabe, ſeine Ergeb- 
niſſe zu werten und zu verwerten. Dabei iſt e3 gleichgültig, welcher 
Art dieſe Ergebniſſe ſind, und ob ſie günſtig oder ungünjtig für 
Deutſchland ſind. . 
Das werden ſie aber in der richtigen Weiſe nur zu tun ver- 
mögen, wenn ſie die ſchweren Tage der Gegenwart nicht lediglich 
als Tage des Schre>en8 empfinden oder gar nur als willkommene 
Veranlaſſung nervenkitelnder Senſationen, ſondern als Tage größ- 
ten weltgeſ<ichtlichen Geſchehens. Wa3 bedeutet gegen dieſe Zeit das 
harmloſe Kanonenſ<ießen zu Valmy, bei dem Goethe dabeigewejen 
iſt! E83 iſt eine Spielerei gegen den fürc<hterlichen Ernſt unſerer 
Zeit. Denno< empfand Goethe die weltgeſ<hichtliche Bedeutung 
jener Stunde und war ſtolz darauf, ſie miterlebt zu haben. 
Von den Ereigniſſen der Gegenwart gilt no&g mehr al5 von 
jener Zeit, daß ſie eine neue Epoche der Weltgeſchichte einleiten. 
Wir ſollen de3halb durc< unſer Verhalten den Ernſi der Stunde 
würdigen und die Mahnung Shakeſpeares beherzigen: 
mere Verkehrte3 Trachten, 
Vergangene3, Künftiges hoh, nie Jeßige3 aten!“ 
Heinrich Schulz. 
> 
Die aktiſhe Komödie und Ariſtophanes. 
I. 
ZVR ic Komödie der Griechen überhaupt und die des Ariſtophane3 
p 7 im bejonderen: arbeitete natürlich mit denſelben bühnen- 
= techniſchen Mitteln, mit denen die Tragödiendichter rechnen. 
mußten. So iſt denn der Chor, in dem man den letzten Reſt der 
urſprünglichen gottesdienſtlichen Gemeinde erfennen muß, ein 
<aratteriſtiſc<es und bleibendes Merkmal au<ß des komiſchen 
Spiels. In der antiken Tragödie beſteht der Chor gewöhnlich 
aus Maitfämpfern, Dienern oder ſonſtigem Geſinde de3 Helden 
und begleitet mit jeinen ernſt gemeinten, lyriſch lehrbhaften Ge- 
jängen deſien Taten und Schickifale. In der Komödie dagegen iſt 
der Chor durc<aus icherzhaft. Ariſtophanes läßt einmal Wolken, 
- ein andere3 Mal Fröſche und dann wieder Vögel, die ſic) eine 
Republik in Wolkenkfukuc>k3heim errichten wollen, als Chor auf= 
treten und benennt die Werke mit Vorliebe nach dem Chor. Die 
Dichtungen de3 attiſchen Spiel3 zeigen ſo in einer „allgemeinen 
Maskenverkleidung“ die kleine Welt der Athener, und weil es ſich 
im Grunde, ſo ſprechend ähnli und deutlich dieſe Maskierungen 
auch ſein müſſen, immer do<; um einen Maskenſ<erz handelt, 
 
Arbeiter- Jugend 
ſcheut ſig Ariſtophanes in ſeinem „ſo tollen wie klugen“ Wit 
durchaus niht, die JUuſion des Vorganges ':zu durchbrechen und 
ſich in ſogenannten Parabaſen direkt und ohne Rücdſicht auf die 
vorhergehende oder folgende Handlung an die Zuhörerſchaft mit 
irgendwelcher aktuellen Anſpielung zu wenden. So ſpricht er ſich 
in einer Parabaſe feiner Komödie „Die Ritter“ mit beißendem 
Wiß über ſeine Zonkurrens, die anderen Komödiendichter, aus, 
nennt ſie bei Namen, ſchred>t nict vor dem abfälligſten Urteil 
zuriicf imd jekt die Vorzüge jeiner eigenen Dichtung nach Vebg- 
lichfeit in3 beſte Licht. Da heißt es: 
„Darüber jcdoch, daß vi2zle von cuch, wie ihr ſeht, ihm (dem Dichter) 
ihre Verwunderung 
zeigicn und zu wiſſen verlangten, warum man nicht ſchon. längſt die 
Crlaubnis, 
euch hier unterhalten zu dürfen, ſih von den Choregen (den Leitern. 
DCS Spiels) erbeten, darüber 
hat er uns aufgetragen, mit euch zu ſprechen. Nicht Blödigkleit, ſagt ex, 
fei die Urijache davon, jondern: Ueberzeugung, daß die Komösdicn- 
kunſt von 
ei; denn wiewohl 
getrachtet, 
Gat fie doch nur wenigen fich gefällig crwieſen. Auch wollte er euch ebcn 
nicht verbergen, daß ißm eure wetterwendiſche Sinnezart und die 
Behandlung, welche die vorigen Dichter von cuch im Ülter erfuhren, 
nicht zu großer Aufmunterung habe dienen FÖnnen. ... 
Nun, da ihm (Ariſtophane8' Konkurrenten, dem Luſtſpieldichter Krate3) 
wie einer alten Leier die Wirbel 
ausgefallen ſind und er keinen Klang mehr hat und die Fugen au3- 
einander- 
Haffen, gcht8 ihm wie den alten Konna3; verachtet läuft er, mit ſeinem 
welken Kranz auf der Glaße umher und ſtirbt vor Durſt. . . . 
Und welche Laune, wel<e Wißhandlung hat erſt der arme 
Krates von euch erdulden müſſen, er, der das Geheimnis gefunden, 
euch mit geringem Aufwand zu bewirten und doch zufrieden nach Hauje 
zu Ichiden, wenn er, in Wörtc<en ſo zart wie Mangold, höflichſt 
Artigkeiten aufgetiſcht hatte. . . . 
Da er (der Dichter) alfo nicht mit dem Lächeln 
eine3 Poſjentreiber3, ſondern mit Spruch und Ueberlegung ſich dieſem 
Geſchäfte 
unterzogen, ſo laßt ihn nun auch mit dem vollen Strome eure38 Beifall3 
fahren und ruft ilm ein laut ſchallendes Bravo zu, damit er froh 
des gelungenen Werkes mit glänzender Stirn von hinnen gehen. 
Dieſe38 Herausſpringen aus der Dichtung in die Wirklichkeit 
würde uns befremdlich und, wenn es, wie in der antiken Komodie, 
ſyſtematiſch geſchähe, langweilig er ſcheinen; die hämiſche Art, über 
die anderen Dichter öffentlich zu |" recker, und ſic< jelbſt au3- 
drücklich dem Wohlwollen des Publikums zu empfehlen, erſchiene 
uns vollends unerträglich. Nicht | jo den Athenern, die in Lob 
und Tadel und in den Mitteln der Gomit ſtarfe Doſen liebten. 
Niemand geringerer als Plato, der Schöpfer der erſten 
allen Künſten die Ic<weorſte | Ichon viele ihr nach 
ſozialen Utopie des Abendlande3, ein dur<aus fünſtleriſc<er Geiſt, 
 
 
 
 
Das verzauberke Städt<en. 
Der deutſche Landwehrmann, der aus Lothringen ſtammte und 
Franzöſiſch faſt jo gut wie ſeine Mutterſprache verſtand, ſaß mit 
ſeinem Quartierwirt in dem kleinen nordfranzöfiſchen A>erſtädtc<en 
- abends beim Rotwein zuſammen, und dieſer gab naH der zweiten 
Flaſche folgende abſonderliche Geſchichte zum beſten: . 
a, mein Herr, e3 iſt im vorigen Jahre im Herbſt geweſen, al8 un3 
J das paſſiert iſt. Und alle3 nur wegen dieſer verfluchten Straßen= 
bahn . . . 
Sie müſſen wiſſen, daß ich ſchon ſait zehn Jahren Bürgermeiſter 
von Saint-Medard bin. J<h bin nicht aus dieſer Gegend, ich ſtamme 
aus dem Süden, und ich muß wirklich ſehr populär geweſen ſein, weil 
man mich troßdem zum BVürgermeiſter ernannt hat. . . Vber ich bin 
freilich ſhon fünfundzwanzig Jahre in Saint-Medard und meine A>er= 
wirtſchaft ijt die ſchönſte in der ganzen Gegend. . 
Id ſagte Ihnen ſc<on, daß man ſich entſchloſſen batte, eine Straßen-= 
bahn, eine ſogenannte Kleinbahn mit Dampfwagen zu bauen, von der 
wir un3 den größten Vorteil verſtrachen, da der Bahnhof ziemlich weit 
fort liegt und die Züge zu fehr unbequemen Zeiten dur<kommen. 
Da die Anlage einer ſolchen Vahn ziemlich Foſtſpielig iſt, zogen meine 
Stadträte beim Gedanken an die bevorſtehenden Ausgaben zuerſt ein 
ſhiefc8 Geſicht; da ich aber ein Fortſhrittzamann bin, ſagte ich ihnen: 
„Zügt euch darein; ibr werdet ſehen, daß troß der Koſten dabei immer 
noch ein großer Gewinn für uns abfallen wird.“ Und im Sommer wurde 
der Plan denn auch einſtimmig angenommen, und e3 wurde beſtimmt, 
daß der Bahnhof am Ende der großen, nach Saint-Medard führenden 
Straße zwiſchen der ſehr hübſchen Kirc<e und dem Friedhofe liegen ſolle. 
Man begann die Arbeiten ganz hoch bei der Abfahrt3ſtation. Da3 nahnt 
ziemlich viel Zeit in Anſpruch, denn unſere Gegend iſt hügelig, und es 
ſind viele Felſen darin, die man mit Minen ſprengen mußte. . . Wir 
gingen hinaus, um den Fortgang der Arbeiten zu beobachten und wir 
waren fehr zufrieden und ſtolz därauf, daß c3 endlich ſoweit gefommen 
war. . Ach, wenn wir gewußt hätten! 
C3 hat an jenem Abend angefangen, an dem ich bei meinem 
Schwiegerjohne zum Abendeſſen geladen war. Er bat einen großen 
Rachthof fünf bis ſechs Kilometer von Saint-Medard entfernt, genau 
jo weit, wie die neue Bahnſtrecke lang iſt. 
E3 war ſehr ſc<höne3 Wetter, und als nach vem Cſſan mein Schwicger- 
ſohn mir anbot, anfpannen zu wollen, um mich nac< Hauſe zu bringen, 
antwortete ich ihm, daß ich viel lieber gang gemächlich zu Fuß nach 
Hauſe gehen möchte. JH machte mich gegen zehn Uhr auf den Heims- 
weg und befand mich in ſehr animierter Stimmung infolge von ein 
paar Flaſchen beſonders guten Weines, ivomit mich mein Schwieger- 
john bewirtet hatte. . IH ſte>e alſo meine Pfeife an und ſchiebe lo8. 
Allmählich erhob ſich ein ziemlich dichter Ncbel, der in langen 
Streifen über der Straße hing; man hörte die Hunde in den Pacht- 
höfen bellen, ohne zu erkennen, an welc<her Seite dieſe lagen, was mir 
Übrigens auch gleichgültig war, denn ich kannte alle- Wege ganz genau. 
Scch8. Kilometer iſt für mich Sachz einer Stunde. Cs3 konnte elf 
Uhr, vielleicht auch eiwas ſpäter ſein, al3 ich in Saint-Medard ankam, 
da3 ich von einem Ende zum andern dur<kreuzen mußte, um nach Hauf 
zu fommen. J< madtie einen Augenbli& Halt, um einen Bli> auf dir 
Station zu werfen oder vielmehr auf die Stell2, die wir dazu beſtimmt 
hatten. Ueber dem Friedhofe lag ein Nebel, der ſo dicht war, daß man 
ihn mit einem Meſſer hätte zerſ<neiden können, während es auf dor 
Landſtraße hinter mir beinahe wieder klar war. Dabei war es ſehr 
warm, und es rcgte lich kein Küftchen. 
I< ſagte mir: „Wie famo3 wird eZ ſein, wenn erſt die Sekundär- 
"bahn da halten wird!“ als ich plößlich fühle, wie man mich von hinten 
hoer feſt am Arm pat, und gleichzeitig vernehme ich eine ſcharfe Stimme, 
deren Klang wie der kreiſchende Ton einer ungeölten alten Tür klingt 
und die mich barſch anläßt: . 
Hd?
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.