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Eingetragen in die Poſt- Zeitungsliſte. .
Weihnachten 1914.
8 iſt notwendig, daß man der Ueberſchrift die Jahre3zahl
hinzufügt; denn dieſe Weihnachten ſind ganz, ganz ander8
als alle übrigen. Solche Weihnachten haben wir alle noc<
nicht erlebt und, fügen wir gleic<ß hinzu: werden wir hoffentlich
auch nicht noch einmal erleben. Weihnachten! Schon wenn man
nur daran denkt, empfindet man die ſeltſam weihevolle Stim-
mung, die dieſes ſchöne Feſt umgibt. Es iſt wohl wahr, für Ar-
beiterfinder iſt Weihnachten nicht in gleichem Maße das Feſt der
reichen Gaben. wie für andere Leute, die das Schickjal mit Glücks-
gütern gejegnet hat. Und doch haben wir ums über uner Ste>en-
pferd, das ver Vater ſelbſt gefertigt, und über unſere Puppe, die dic
Mutter mit unermüdlichen Händen ſelbſt geſtrickt hatte, ebenſo ſehr
und vielleicht noM mehr gefreut als reicher Leute Kinder über ihre
weit Loſtbareren Geſchenke. Und dann der Tannenbaum mit
jeinem: Kerzenglanz! In meiner Bildermapvye ruht ſeit langen
Jahren ein kleines Bildc<en; es iſt ſchon ſehr alt und ic weiß
nicht mehr, woher ich es habe. Immer aber, wenn ich das kleine
B1ild betrachte, empfinde ich feinen alten, ſüßen Zauber. Anßer-
halb des Dorfes, am Waldrande, liegt ein miedriges Häusc<ern,
wohl die Hütte eines Waldarbeiter8. Da3 Tal, joweit man jehen
kann, iſt tie? mit Schnee bede>t; auch der Wald ruht unter einer
dicken Schneede>e. Vom. Häuschen, deſſen Dach gleichfalls der
Schnee verbirgt, ſieht man nur die Vorder- und Seitenwand; e3
dut jich gleichjam wie ein verſchneiter Haſe. Ein Fenſter iſt er-
leuchtet, und durc< die niedrigen Scheiben ſieht man ein Weih-
nachtSbäumden, deſjen Lichter ihren Schein hinausfenden in die
Winternacht. -
Wenn ich das kleine Bild betrachte, ſteigt meine Kindheit mit
allem Zauber der Weihnacht in meiner Erinnerung empor. Und
Nr. 26
Jahr für Jahr hat dieje Erinnerung ſich wiederholt, auch dann,
als Ichon die eigenen Kinder mit froher Erwartung dem Weoih-
nachtsfeſte entgegenbarrten.
Und beute?
Wie ein Gewztterſtuem über emo friedliche Landſchaft fährt
iind Wohnungen, Felder und Wälder verwüſtet, ſo iſt der Krieg
* gefommen und bat weithin Verderben und Tod geſät. Blühende
und fruchtbelade:n:c Gefilde hat er in Wüſteneien verwandelt und
Väter und Brüder „in der Kraft, in der Jugend dahingerafft“.
Und immer, immer noch iſt kein Ende des Kampfes abzuſehen.
Der Krieg mit ſeinen Schre>en ruft in meiner Erinnerung
cin anderes Bild zurück, das ich vor Jahren in einer Gemälde-
galerie ſah. Das Bild ſtellte eine Heidelandſchaft mit Föhren dar.
In der Nähe der Föhren lag, durc die Schlacht völlig verwüſtet,
ein einſames kleines Gehöft. Dach und Wände waren zerſchoffen,
und vie halbverkohlten Dachſparren re>ten ihre kahlen Arme gc-
jpenſtiſch in die Luft. Ju Haus und Hof kein lebendes Woſen;
älles tot oder vertrieben. Vielleicht lag zwiſchen den Triim-
mern no< ein verweſender Leichnam; denn über der Stätte des
Grauens kreiſte, nach Aas begierig, eine Krähenſhar. Aber das
Ergreifendſte auf deni Bilde war die Geſtalt eines jungen Kriegers,
der Unweit des Gehöftes ſtand. . Seime Stiefel waren zerriſſen,
ſeine Kleider ſtaubbede>t, und ſaine Augen ſtarrten in ſtiumaner
Qual auf den öden Trümmerhaufen vor ihm. Unter dem Bildv
ſtand: Das Vaterhaus.
Denkt ihr bei diejer Schilderung nicht an das durc< den
Krieg verwüſtete Oſtpreußen, m<t an Rußland, nicht an Frank-
reich, nicht an. alle die anderen Länder, über die der Krieg hintegq-
Berlin, 19. Dezember
Expedition: Buc<bandlung Vorwärts, Paul
Singer G. m. b. H., Lindenſtraße 3. Alle Zu-
ſchriften für die Redaktion ſind zu richten
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 68
1914
ſtampft und in denen er Heimijtätten arbeitſjamer und glücklicher
Menſchen in rauchende Trümmer verwandelt?
„Ueber Rußlands Leichenwüjtenei
Faltet hoch die Nacht die bleichen Hände = - =-“
Während unten die Kanonen brüllen, während unter dem
Schuß der Dunkelheit in nächtlichen Sturmangriſſen Menichetn.
die ſich nie zuvor gefannt, auf Tod und Sieg miteinander ringen:
blicken mitleidig und ſtumm vom hohen Himmel die Sterne ber-
unter. Von Zeit zu Zeit fällt eine Stermic<hnuppe wie eine
brennende Träne herab an? die blutgetränkte Crde,
Welch eine Zeit! Welch ein Schifal!
Und wir? Sind wir denn 1o klein, 19 elend klein, daß wir
iur jammern: Fönnen über ein Schickfal, das zu ändern nicht in
unferer Macht ſteht? Wohl ziemt es uns, zu klagen, und wahr-
lich, zu keiner Zeit find Tränen verſtändlicher und berechtigter g2-
weſen als heute. Aber, meine jungen Freundinnen und Freunde,
ich bitte euch: Laßt uns dabei nicht ſtehen bleiben. Gerade ibr
diurft das nicht!
Warum gerade ihr nicht?
Weil ihr jung ſeid; jawohl, weil ihr jun jeid!
Ihr feid berufen, die Früchte der blutigen Saat zu ernton.
die.enre Väter und Brüder auf den Schlachtfeldern im Oſten und
Weſten ausſtreuen. Ungeheuer groß und 1Ihwer wird die Aufgabe
jein, vor die ibr geſtellt werdet. Wenn endlich unfere heißeſte
Sehnjucht ſich erfüllen wird, wenn endlich der Glo>&en <«berner
Weund der bangenden Welt den Frieden verfünden wird, went:
endlich die Kanonen ſchweigen und die ſiegreichen Heer zuriick-
fehren werden in die Heimat, acc, dann werden wir manchen lieber
Kameraden vermiſſen, dann wird manche ſchmerzliche Lice im
unſeren Rethen klaffen.
Wohlan, ihr jungen Streiter: Schließt die Reiben! JIbr
jollt die Erjaßbataillone der Arbeiterbewegung bilden. Ihr jollt
dic entjtandenen Lücken ausfüllen. Ihr ſollt die Arbeit, die
eure Väter begonnen haben, fortſetzen.
Konnt ihr das? Seid ihr ſtark genug, das Schwert im ernſten
Kampfe zu führen?
I< ſpreche vom Schwert: aber ihr wißt cs: es handelt ſich
in dieſem. Kampfe der Zukunft nicht um das Schwert aus Stahl,
das gemacht iſt, Wundon zu ſchlagen; es handelt ſich um Das
Schwert des Geiſtes, deſien hebre Aufgabe cs fein und bleiben
joel, Wunden zu heilen.
Laßt aljo unſere vornehmſte Aufgabe dieſe ſein: das Schwert
des Geiſtes zu Ichärfen. Laßt uns unermüdlich und
unverdroſſen arbeiten an unſerer geiſtigen
Veorvollfommnung.
Unermüdlich und unverdrofifen. Jbr wißt ja, was arbeiten
heißt. Erſt wenn ihr ſo ernſt, met dem Bewußtſein einer hoheit
Verantwortli<keit, au eurer geiſtigen Weiterbildung arbeitet, erit
dann ſeid ihr fähig, das geiſtige Crbteil eurer Väter und.Brüder
mt nur zu verwalten, jondern auch zu mehren.
Das iſt das eine. Und das andere branche ih euc<ß mur
zu nennen, um euch von ſeiner Notwendigkeit zu üÜberzenget:
Seid einig! Einigkeit, das iſt die Proletariertngend ſchlecht-
hin. Ohne Einigkeit, ohne ſolidariſches Zufjammenhalten iſt allo
unjere Mithe umſonſt,
CYaßt uns gemeinfam freuen, gemeinſam unfere Leiden
tagen, geneinfam arbeiten an unjerer Fortbildung anf dent
-„-
Woge zu unſerem gemeinſamen Ziele: die ganze Menſchheit ein