Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

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Arbeiter-Jugend 
 
gehende internationale Regelung, die von anderen Staaten be- 
antragt worden war, nicht befürworten, da ja in Deutſchland jelber 
noh der barbariſche Zuſtand GeſegesSkraft hat, daß die jungen 
Menſchen vom ſechzehnten Jahre -an mit ihren unentwickelten 
Gliedern dem Ungeheuer Fabrik genau jo wehrlos preisgegeben 
find wie knochenfeſte, abgehärtete Männer. Und auch die zahl- 
reihen Fälle, in denen das geſetzliche Verbot der Nachtarbeit 
Jugendlicher zugunſten des kapitaliſtiſchen Profit38 von den Re- 
gierungen außer Kraft geſekßt iſt, wurden von unſerem Genoſſen 
in ihrer ſkandalöſen Kulturwidrigkeit an3 Licht geſtellt. Wo waren 
da die hoc<hgeborenen Gönner des Jungdeutſchlandbundes, wo die 
katholiſchen Jugendpräſides unter den Reich8tag3abgeordneten 
oder die evangeliſchen Jugendpaſtoren mit ihren „für die arme 
Jugend des armen Volke3 warm ſchlagenden Herzen“? Keiner 
Ddiejer geölten und geſjalbten Jugendfreunde tat den Mund auf, 
um den Appell, den der ſozialdemokratiſc<e Redner an das Kuliur- 
gewiſſen de3 großen Deutſchen Reiches richtete, auch nur mit einer 
Silbe zu unterſtüßen. 
Bei anderen Gelegenheiten aber wiſſen die Herrſ<haften jehr 
wohl zu reden. Ein paar Tage ſpäter ſtand im preußiſchen Land- 
tage ein Antrag zur Diskuſſion, durch den die Junker den zwangs8- 
mäßl gen Religion8unterricht in die ländlichen Fortbildungsſchulen 
einzuſc<qmuggeln verſuchten. Kolonnenweiſe rückten ſie Arm in 
Arm mit den Schwarzkutten gegen die Regierung vor, um ihr 
flarzumachen, daß allein die Religion imſtande ſei, die durch die 
ſozialdemokratiſ die Verführung aufſäſſig gemachte Arbeiterjugend 
un „Zaume zu halten; daß der Geiſtliche der geborene Seelen- 
genvarm fei. 
geteß und Zuchtmittel für revoltierende iugendliche Gehirne ge- 
prieſen. Da8 war ſogar einem adeligen nationalliberalen Abge- 
ordneten zu ſtark, und er führte der wildgewordenen ſ<warzblaucn 
Kumpanei zu Gemüte, daß von einem ſolchen zwang3mäßigen 
NReligions8betriebe die Religion mehr Schaden als Nußen haben 
dürfte. Ein fortſ<hrittlicher Abgeordneter warf die ſehr berechtigte 
Trage auf: „Was38 ſollen wir denn vom RNeligionöSunterricht der 
Volkſchule halten, wenn wir ihn, obwohl die jungen Leute dort 
mit religivſem Stoff überfüitert worden jind, als jo ergebnis8l9o3 
hinftellen, daß er jekt no< einmal wieder aufgenommen werden 
muß?“ Der Sozialdemokrat Adolf H o ifm ann aber hängte der 
Kaßze die Schelle um, indem er aus einer ſeiner früheren Reden den 
Saß zitierte: „Gründlicher können Sie den Schülern gar nicht 
dic Religion verekeln, als durch Jhre ganze Art der Zugendpflege 
und beſonders, wenn Sie ihnen nach der Volkfsſchule no<ß in der 
Sortbildungs ichule den Religion3unterricht aufzwingen.“ 
Hoffmann erinnerte dic Klerifalen daran, daß ſie ja außerhalb 
der Fortbildungsſchulen freiwilligen Religion3unterri<t für 
kämen ſie die Jügend nicht in den Unterricht hinein. 
Zyniſch wurde die Religion als eime Art Knebel- 
Intereſſenten erteilen könnten, ſoviel fie wollten, daß e3 aber von 
jehr wenig Gottvertrauen und von fehr geringer Zuverſicht z1t 
ihrer Religion zeuge, wen! i fie annähmen, ohne die PBolizei be- 
Aber die 
Herrſchenden wollten eben die jungen Leute von der Schule bi3 
zur Kaſerne vor dem neuen Geiſt der“ Zeit ichüßen, damit ſie da8 
Evangelium der wahren Erlöſung der Menſchheit nicht . kennen 
lernen. Dazu brauchten und mißbrauchten fie ihre Macht, und 
dazu brauchten und mißbrauchten ſie die Religion. 
Die Hiebe ſaßen, aber die Gezüchtigten ihüttelten ſich wie 
naſſe Pudel, und der Antrag, der der Regierung die Einführung 
des ZwangsSunterricht3 in Religion dringend empfahl, -wurde mit 
Pauken und Trompeten angenommen. Dice preußiſche Regierung 
an ihrem Teil wird dieſen Jugenderziehern gewiß nicht in die 
Parade fahren. Hat doc< der Fortbildungs3ſ<Hulunterricht, wic 
der Landwirtſchaft3miniſter ſelbſt zugeſtand, keinen anderen Zweck, 
als dafür zu ſorgen, daß „ſtaats8treue und kirchliche Männer“ 
herangezogen werden. 
Und dies iſt überhaupt das A und O der ganzen ſtaatlichen 
Jugendpflege. Das wahre Wohl der Jugend iſt ihr weniger als 
nicht3; die Jugend gegen die Gefahren der Fabrikfron zu ſIchüßen, 
rührt ſie keinen Finger. Aber Religion und PatriotiSnms8 jollen der 
Jugend womöglich mit der Peitſche eingoebläut werden, damit der 
herrſchenden Geſellſchaft das Geſchlecht der Sklaven in alle Ewig- 
keit erhalten bleibe, 
eis 
Ein Skreif von Kindern. 
Von Guſtav Cä>ſtein. 
FA ine Saupt <hwierigkfeit im der Gewinnung der Jugendlichen 
37, fir die moderne Arbeiterbewegung bildet, bejonders in 
= zurücgebliebenen Induſtriezweigen und nod mehr in zurücf- 
gebliebenen Gegenden, die Verſtäandnisloſigkeit, ja oft die Riütck- 
ficht3lofigkeit, die vielfach die erwachſenen Arbeiter ihren jugend- 
lichen Kameraden gegenüber an den Tag legen. Gewiß hat fich 
auc< in dieſer Hinjicht in den letzten Jahren fehr viel gebeſſert, 
und in8befondere wird ſich heute niemand mehr einen Sozialdeniv- 
fraten nennen dürfen, wer ſeime jüngeren Arbeit3gefährten quält 
oder ausSbeutet. Troßdem dürfen wir uns nicht verhehlen, daß 
auch heute no< auf dieſem Gebiete keine3wegs3 alles ſo iſt, wie es 
ſcin follte. 
In früheren Zeiten aber wurden da wirklich ſ<were Sünden, 
ja Verbrechen begangen. Einen bejſonver3 kraſſen. Gall, der ſich vor 
Jahren in Dänemark „ getragen hat, finden wir in einer der 
lekten Nummern der amerikaniſchen ſozialiſtiſchen Zeitſchrift Ene je 
International Socialist Review“ („Internationale Sozialifti] 
 
 
 
Der geredte Richter im Zillertal. 
Eine Erinnerung von der Walze. Von H. Farwig. 
(Schluß.) 
Verband3buch, e8 lag unter meinen 
Wf < zeigte dem Richter das 
B Papieren. Ex ſc<lug die erjte Seite auf, wo man damals3 den etwas 
 
<& langen Namen meiner Gewerkſchaft leien konnte. Er las die Ueber-= 
ſchrift laut vor, wobei ex vor ſich hinmurmelte: „Verband, Verband, 
was iſt denn das eigentlich?“ Ganz unbefangen ſuchte ich ihn über 
das Weſen und den Zweck der modernen Arbeiterorganiſation aufzu 
flären. Unwillfürlich war ich dabei im Eifer in den Ton hineingexraten, 
den ich unſeren JIndifferenten gegenüber anzuſchlagen pflegte. Die 
Sache Ichien den Mann wirklich zu intereſſieren; er hörte mich ruhig 
1. ohne mich auch nur mit einem Worte zu unterbrechen. J<h war 
ziemlich ausführlich geworden. Zum Schluß erwähnte ich dann auch 
dic Unterftüßungscinrichtungen und ſeßte meinem aufmerkſamen Hörer 
auseinander, daß dieſe Ginrichtungen nicht Selbſtzwe>, ſondern lediglich 
Mittel zum Zwe> ſeien, zu dem Zwec> nämlich, die Maſſe der Arbeiter 
auf dieſe Weiſe heranzuholen und an den Verband zu feſſeln. I< 
verhehlte auch gar nicht, daß es innerhalb der Arbeiterbewegung (damals 
wenigſtens noch) eine Strömung gebe, die von den Unterſtüßungen 
nichts Wutes erwarte und erflärte, was wir, die Zentralverbändler 
Dagegen zu ſagen hätten. Kurz, ich vergaß zeitweiſe, wo ich war, Dd. h. 
vor dem verhörenden Kaiſerlich-Königlihen Adjunften zu Zell 
am Ziller. | | 
Als ich fertig war, meinte er: „So ſo, alfo der Hauptzwe> cines 
Verbande3 wäre demnac, wie Sic ſagen, vie Grkämpfung von höherem 
Lohn und kürzerer Arbeit8zeit, und zivar, wenn es nicht anders gebt, 
mit Hilfe der gemeinſamen planmäßigen Arbeitseinſtellung?“ „Jawohl, 
das iſt der eigentliche Zwe>.“ „Demnach,“ fuhr mein Schüler fort, 
 
„wären dieſe Verbände doc< aber da8, was man in Wien ſogialdemo9= 
fratiſche Gewerkſchaften nennt.“ „Was3 man 1o nennt, allerdings3“ 
und nun mußte. ich ihm auszeinanderſeßen, was an dieſem „ſo nennen“ 
wahr iſt und wa3 falich. Dabei hatte er die eingeklebten Beitrag8- 
marken geſehen, auf denen ihr Wert zu leſen war. Und nun erſtaunte 
er wieder: „Was, für das alles, was den Mitgliedern da geboten wird, 
zahlen Sie nur 25 Pfenma?“ (So viel zahlten wir damals.) CZ 
wollte ihm gar nicht einleuchten, daß es überhaupt möglich ſei, und 
ich hatte genug zu tun, ihm plauſibel zu machen, daß die Möglichkeit 
eben darauf beruht, daß immer nur ein Teil der Mitglieder dieſe Gin= 
richtungen in Anſpruch nehme. Er ſchien nun vollſtändig befriedigt. 
Cs war mir aljo9 anſcheinend gelungen, den Mann aufzuklären. 
Indeſſen blätterte er unter meinen Papieren weiter und fand ein 
kleines blaue8 Heft, auf deſſen erſter Seite er dic Worte la3: „Sozial= 
demokratiſcher Wahlverein für den 6. Berliner ReichStagswahlkreis.“ 
„Dm,“ ſagte er etwas gedehnt, „dann ivären Sic alſo doch ein wirklicher 
Cozialdemokrat?“ „Aber natürlich, Herr Adjunkt, das habe ich doch 
gar nicht beſtritten. Bei uns in Berlin, und ich glaube auch anderS3ivo, 
iſt jeder intelligen te Arbeiter Sozialdemokrat.“ „So, iſt das wahr?“ 
„I3auwohl, das kann ja auch gar nicht anders ſein.“ 
Ex fand auch hier die Marke als Quittung für gezahlie Beiträge. 
„Und waz befommen Sie nun für dieſe 25 Pfennig. monatlich?" Jett 
war es mir doch nicht ganz leicht, dem Mann, der wohl noch nie 
für eine Jdece oder eine Ueberzeugung einen Pfennig geopfert hatte, 
beizubringen, daß das in den Kreiſen der organiſierten Arbeiterſchaft 
für ganz ſelbſiverſtändlich gehalten wird; indeſſen verſuchte ich e3, ſv 
gut es gehen wollte. Jh ſekte ihm auscinander, daß zur Verbreitung 
unſerer Jdcen „Flugblätter verbreitet werden und NRedner herausgehen 
müßten, auc) Zeitungen gedru&t würden, von denen manche Zuſchüjſe 
nötig hätten uſw. Dazu würde das Geld verwendet. Dieſer Punkt 
«=
	        
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