Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

 
Arbeiter-Iugend . | 51 
 
Rundſchau") erzählt. Der jeßige Herau3gober des däniſchen Ar- 
beiterblatte3 „Solidaritct“, Chriſtian Chriſtenſen, wurde j<on als 
zehnjähriger Knabe in eine Zün dhölz<enfabrif zur Arbeit ge- 
Gilt. Dort hatten die Knaben aver nicht nur unter der ſ<weren, 
langen und gefundheitSmörderiſ<en Arbeit zu leiden, ſondern vor. 
allem unter den rohen Mißhandlungen der erwachſenen Arbeiter. 
Der kleine Chriſtenjen organiſierte nun ſeine Gefährten, und eines 
Tages traten: die Kinder in Streit, wobei ſie verlangten, daß ver 
Sohn erhöht und da8 Prügeln verboten werden ſollte. Tatſächlich 
mußte die Fabrik ſtillſtehen, und .al8bald ließ der Fabrikbeſiker 
welle daß er Die Forderungen der Streikenden bewilligen 
1VOoUC 
Doch nun geſchah etwas Unerhörtes. Die erwachſenen Ar- 
beiter erflärten, auf ihr Prügelrecht nicht verzichten zu wollen, 
und drohten, ihrerſeits in Streik zu treten, fal3 das Prügelverbot 
nit zurücdgenommen würde. Ja, fie boten dem Fabrikanten an, 
er Jolle zunächſt erwachſene Arbeiter ſtatt der auffäſſigen Kinder 
einſtellen, bis neue Kinder einrückten, die ſich willig prügeln 
licken. Die Differenz zwiſc<cn den Qöhnen der provijoriſch ein- 
geſtellten Erwachſenen und den Kinderlöhnen ſeien fie unterdeſjen 
bereit, felbſt zu tragen. 
Aber min eröffneten die jugendlichen AuSgeſperrten einen 
wilden Kampf gegen die erwachſenen „Arbeit3willigen“, die ihre 
Stelle einnehmen jollten, und in dieſem Kampf wurden ſie -von 
den Arbeitern auf einem nahegelegenen Bau tatkräftig mit Ziegel- 
tücen unterftüßt. 
Doh nicht nur mit ihren erwachſenen Arbeitsgefährten hatten 
die kapferen Jungen den Kampf aufzunehmen, auch ihre verblen- 
deten Eltern traten vielfach gegen ſie auf und verlangten, daß jiec 
bedingung3lo8 die Arbeit wieder aufnehmen und ſi< wider] t+a1d3- 
103 von den Arbeitern ſchlagen laſſen ſollten. Aber auch die häus- 
lichen Prügel vermochten nicht, die Widerſtandslraft der zähen 
Kämpfer zu erſchüttern. Die3 gelang erſt dem Scharfjinn =- vc3 
Vorſikenden der Gewerkichaft, der .die Zündholzarbeiter ange- 
hörten. Dieſer entdeckte ein alte38, chon in Vergeſſenheit geratenes 
Geſeß, wonach Vereinigungen von Yeinderjährigen unſtatthaft - 
ieien, wenn nicht wenigſtens ſechs Erwachſene an ihrer Spiße ſtän 
den. Nun wurde Chriſtenjen verhaftet und zugleich bei ihm Haus- 
juchung gehalten, wobei die Streikkaſſe den Poliziſten | in die Hände 
fiel. Daraufhin" konnte ſich der Streif nicht mehr halten, die 
Jungen mußten Hbedingungs8los zur Arbeit zurückkehren und ſich 
dic Brutalität ihrer Kollegen weiter gefallon laſſen. 
Die Geſchichte dieſes Streik3 von Kindern iſt nicht nur de3- 
Galb bemerfenswert, weil ſie uns ein ſo prächtige3 Bild von der 
FRampffreudigkeit und dem Opfermut Jener arbeitenden Jugend 
entrollt, ſondern vor allem auch deShalb, weil ſie uns beſonders 
raß die niederdrücdende, entſittlichende Wirkung de3 Faptalii t= 
Ihen Wirtichaft3ſyſtems vor Augen führt. Es iſt leicht, ſich über 
dic Brutalität jener Arbeiter, über die Niederträchtigkeit des Ge- 
werktſchaffsvorſißenden und den Unverſtand der kurzſichtigen Eltern .- 
zu entrüften, die ihre Kinder gewaltſam zur Würdelofigkeit zwan- 
Eflaverei. 
gen. Aber wichtiger iſt, daß wir erkennen, wieſo Menſc<hen, die 
im Durchſchnitt wahrſ<einlich nicht ſchlechter waren al3 ihre hcu- 
tigen Klaſſengenoſſen, dazu kamen, [Jo elend zu denken und zu 
handeln. NIE 
So oft ſich der KapitaliSmu3 neuer Länder bemächtigte, brach 
er dort den Widerſtand der Arbeiterſchaft und zwang ſie in ſeine 
Und dieſer Vorgang wrielete häufig ſo raſdh, vaß die 
Arbeiter zunächſt gar nicht Zeit fanden, ſich zum Kampf gegen 
den neuen, ihnen in feinem Weſen noch ganz fremden, unbekannten 
Jeind zuſammenzuſchließen. So blieb ihnen nicht8 übrig, als die 
Herabſeßung der Löhne nac< Möglichkeit dadurch wett zu machen, 
daß ſie Weib und. Kind zwangen, in die Fabriftretmühle zu gehen. 
Dadurc< wurde freilich die Konkurrenz der Arbeitsfkräfte 109 ver- 
ichärft und damit der Lohn weiter herabgedrüct. Aber um 1o 
weniger war dann der einzelne Arveiter imjtande, auf dieſe Lohn- 
bilfe zu verzichten. Nur fo iſt es zu erklären, daß Arbeitereltern 
ihre Kinder zwangen, Tag für Tag Die Jabrifhöle aufzulucen, 
obwohl ſie wußten, daß jene dort ein frühes Siechtum und oft 
Verkrüppelung und Tod finden mußten. Dieſelbe Silfle igkeit 
der großen Vaſen der Arbeiter führte aber auch dazu, daß DiIC- 
jenigen Arbeiterſchichten, die noh die Kraft beſaßen, ſic zu organ1- 
ſieren, ſic) in Vereinen, in Gewerkichaften zufammenzuſchließen, 
Doh nicht den Mut und die Kraft fanden, den Kamp? mit ihren 
Zwingherren aufzunehmen, jondern daß ſie die Macht ihrer Or- 
ganijation vornehmlich zum Kampf gegen andere, jihwächere Ar- 
beiterſhichten benußten, um ji auf deren Koſten 3 zu bereichern oder 
Do) Een Jotlage für jich aueaunüßen. Und das Kapital begiün- 
tigte natürlich dieſe inneren Kämpfe innerhalb der Arbeiterſchaft 
jelbſt. War es 500 ein beliebter Brauch, Arbeiten jo zu vergeben, 
daß ein Untermeijter eine beſtimmte Arbeit zu beſtimmtem Preite 
in Akford übernahm. Der ſtellte dann jelbit wieder Arbeiter aun, 
die er ausbeutete, und dieſe Arbetier hatten dann ot noch Kinder 
unter fich, aus deren Blut und Knochen jie wicder naß | Möglichkeit 
ihren Vorteil bherausſ<hinden mußten. Gin jolches Syſtem war 
wohl auch in jener Zündholzfabrif eingeführt. Tas ertlärt, we3- 
halb der Fabrikant 1o bereitwillig in eine Lohnerhöhung der Kna-= 
ben einwilligte und ihnen beſtfere Behandlung zuſagte. Kojtieie 
ihn doch dieje Zuſage nichts oder nicht viel. Tie Arbeiter aber 
gewieſen; ſie wollten nicht darau? verzichten, dieic allenfalls auch 
dur< Schläge zu raiherer Arbeit anzuhalten. HSohere Löhne für 
ſich) zu verlangen, dazu fühlten fie fich jedenfalls zu Jhwach. Nus 
den Fungens mehr herauszuſchinden, dazu waren fie jiart genug. 
Hinzu kommt aber noc, daß der Kapitaliemus bei einem 
Gindringen in ein neues Land dort dE hergebrachten Beziehun geit 
in der Arbeitert<aft zorſtört. Der Bauer wied von Dir Scholle 
und aus dem Dorfe 1oSgerimen, ar wird als Vagabund auf die 
Landjiraße geworfen, iS er endlich in fremder Gegend, unter 
fremden Menſchen fremde Arbeit finde " an die ihn nichts fefſelt 
als dic Not. Aehnlich geht cs dem Handwerker. Und zugleich 
zerreißt der Kapitaliamus die Familienbande, indem er die cin- 
 
 
 
war für den guten Mann der ſchwierigſte. Er konnte cs doch noh 
nicht ſo recht faſſen, daß man Beiträge zahlt, ohne einen direkten 
materiellen Nüußen davon zu haben. 
Nunmehr beſann ſich der Herr Richter darauf, warum ich eigentlich 
vor ihm ſtand. Nach einigem Nachdenken ſagte ex: „Alſo Landſtreicherei 
fam natürlich niht mehr in Frage fommen, aber wegen Beticlns 
muß ich Sie mit acht Tagen leichter Haft bei einem Faſttag beſtrafen. 
Nehmen Sie die Strafe au ?" „Jawohl.“ I< konnte gehen. 
Draußen verivunderte ſich der Kaſtellan des Hauſes, daß ich gar ſo 
lange bei dem Herrn Adjunkten zugebracht habe. Das ſei ja noh nicht 
dageweſen. Aufklärung ijt eben nicht ſo ſchnell zu geben! Auch meine 
beiden Leidensgefährten verwunderten ſich nicht wenig; hatte ich doch 
etiva drei Viertelſtunden da oben zugebracht. Dieſe beiden zuſammen 
waren in fünf Minuten fertig. Jeder hatte =- ich bitte, recht zu hören, 
neun Tage mit einem Faſttag bekommen. IO nur ac*t ! Und warum? 
Es gibt feine andere Löſung des Rätſels als die: ſic waren alle beide 
weder gewertſchaftlic noch politiſch organiſiert. Darum! Nun rede 
mir noch einer von Klaſſenjuſtiz! Im ſchönen Zillertal wenigſtens 
gibt's feine. 
Der Gerechtigkeit wegen darf ich nicht vergeſſen, zu erzählen, daß 
wir drei e3 in dieſem Tiroler Kittchen wirklich ſehr, ſehr gut Hatten. 
Ia, wir merkten faum, daß wir überhaupt eingeſperrt waren. Wir 
mußten dem Gerichtsdiener, der zugleich auch unfer Wärter war, bei 
feinen Arbeiten behilflich ſein und genoſſen dafür vollſtändige Freiheit. 
Abends ſpät 'erſt wurden wir wieder daran erinnert, warum wir eigent=- 
lich hier waren; wenn der Wärter den NRNiegel hinter uns verſchloß. 
Der gute alte Herr ſtellte uns auch ſeine für Tiroler Verhältniſſe recht 
anſchnliche Hauzsbücherei zux Verfügung. Er meinte, er wiſſe ſchon, 
was wir von der Behörde zu leſen befämen, Habsburger Krieg3ge- 
Ichichten nämlich, das läfen wir ja doch nicht. 
Tand. 
G3 wurde auch für uns. 
drei nicht bejonder3 gefocht; wir faden die Wirislonice dastelbe enen, 
iwas wir auch bekamen. 
Im übrigen hatten wir bei den Qouten faſt budmnablich Familicn= 
anſchluß. Wir kamen un2 vor wie Sommergätte. Nur einmal jolie 
das gute Verhältnis vorübergehend getrübt werden. Cines Tages gav's 
Gomsfleiſc<h. Da das Fleiſch ar ro<, glaubten wir, cs fei ſchlei, 
und flugs beſchwerten wir uns. Da machie man uns denn lar, daß 
Wildfleiſch doch überhaupt einen ſcharfen Geruch babe, was wir Nord- 
deutſ<en natürlich ißt wußten. Damit war Die Sacße erlediat. Wir 
haben noch öftex3 Geomsfleiſch bekommen, das dori jehr villig fein muß 
Unſere wirkliche Haftzeit dauerte aber nicht acht odox neun Tage, 
ſondern vier bis fünf Wochen. Das kam daber: Die Tiroler Be= 
hörden ſollen früher, jo ſagen die Kunden, ſehr dumm geweſen fein 
Man fragte jeden, den man erwijcht hatte, „nach Nam" und Art“ nd 
„woher er fam der Fahrt“. Da gaben denn die ſchlauen deuticheit 
Kunden alle möglichen Länder als ihre Heimat an, nur nicht Deutich- 
Sie iwollten eben, wonn jie ſchon auf den Schub famen, weitor 
geſchubt werden und nicht zurüd. So wurden denn aus den Sachſen 
Schwaben, Pommern uſw., Kroaten, Slaivoniex und ſonſt no< was. 
Da c3 aber auch) den „Geſcheerten“ in Tirol endlich auffiel, daß ihrer 
gar ſy viele gar ſo ſchnell zurükfamen, ſie die Geſellſchaft alſo immer 
wieder auf dem Halſe Hatten, hielten und halten fie jet noch jeden 
iv lange feſt, bis ſeine Staat8zugehörigkeit feſtgeſtellt iſt, und das 
dauert eben, da ja ſolche „hohen“ Behörden fich manchmal ſchr vicl 
Zeit laſſen, immer mehrere Wochen. I< muß aber offen befennen : 
die viex Wochen in Zell am Ziller ſind mir niht lengweilig geworden. 
Wenn ich heute das würfelartige, weiße Haus =- es iſt das größte im 
Orte = auf den Photographien in irgendeinem Laden ſehe, dann 
erinnere ich mich dieſer Zeit mit ciner gewiſſen Wohmut, und leite 
ſumme ich vor mir hin: „Zillertal, du biſt mein' Freud.“
	        
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