Full text: Arbeiter-Jugend - 8.1916 (8)

 
 
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Eingetragen in die Poſt -Zeitungsliſte. 
Sehen lernen! 
fo 3 iſt vin Jammer, wie wenig die meiſten Menſchen mit zwei 
y , geſunden Augen feihen und wie wemig ſie nachher imſtande 
ſind, über das Geſehene Rechenſchaft zu geben. Das eine 
iſt die notwendige Folge des anderen; denn was man nicht gründ- 
lich geſehen hat, darüber fann man ſpäter nicht berichten. Pian 
begnügt ſich mit einem oberflächlichen Geſamteindru> eiwa eines 
MÖobols, eimes Hauſes, eines Baumes, einer Gegend oder auch 
eines Tſebendigen Weſen38, ſei e8 Pflanze oder Tier oder Meni<; 
und dann gebt man davon und „vergißt von Stund an, wie das 
Ding geſtaltet war“. Auf dieſc Weiſe trägt man kauter unvol- 
ſtändige und fehlerhafte Darſtellungen von den Dingen ſeiner 
Umgebung mit fich herum. Das 1ſt ein I<hlimmer Uebelſtand; 
Denn mit Hhafben amid falchen Larſtelungen laßt fich nicht 
arbeiten, nicht denfen, eben) 1owenig, wie der Maurer aus Brocken 
ein Gebäude aufführen kann. Je vollſtändiger und richtiger die 
Bauſteine unſerer Gedanken, die Vorſtellungen von den Dingen, 
find, deito beſſer find ſie geeignet, ein haltbares Gedankengebäude 
ans ihnen zu bauen. Ein reicher Vorrat klarer Vorſtellungen iſt 
ein Schaß, auf den man zu jeder Zeit zurückgreifen kann nd 
muß, wenn man nicht immer wieder in den Verdacht geraten 
will, oin oberflächlicher und unwiſſender Menſ< zu fein. Außer- 
 
dem: dieſen Schaß können weder die Motten noch der Roſt 
freſſen, und eben] ſowenig fönnen die Diebe danach graben und 
hn ſtehlen. 
Vor einiger Zait ging. eine ÜUaine Geſchichte durch die 
"Zeitungen, die Das, was hier geſagt iſt, im aus8gezeichneter Weiſe 
beſtätigt. er, dem idie Geſchichte paſſierte, hat ſie jpäter, ohne 
jich dabei zu iGonen, fehbſt erzählt. 'E3 handelt ſich um iden Tpäteren 
rofeſſor A. JF. Rumpf, der zur Zeit unferer Geſchichte Jenaer 
Student war. Dieſer junge Mann batte das Glück, eines Tages 
Durch de3 D ichters Sohn bei GWocthe eingeführt zu werden. 
Doch laſſen wir ihn ſelbſt erzählen: 
„Ver vbejtimmte Tag brach an, ſo heiter und ſchön, wie er nur ſein 
fonnte. In einigen Stunden brachte uns ider Wagen nach Weimar und 
one Aufenthalt eilten wir ider ſtattlichen Wohnung zu. Gin Diener in 
Livroe öffnete auf das Klingeln und begrüßte freundlich den Sohn 1de3 
Haujes. Gs war faſt gegen elf Uhr. „Sieh, da iſt der Vater ſchon,“ 
ſprach Auguſt und eilte auf dieſen zu, Der, in einen dunkelgrünen 
Schlafro> gehüllt, gerade vor uns iden unteren Hausflur Überſchritt. 
„Gi, da haſt Du Deinen Oldenburger, Auguſt, das äjt ſchön. Beſuch 
aſt micht da. Wir wollen ſofort nach oben gehen.“ Aeußerſt freundlich 
reichte ex mir die Hand und winkte, ihm die Treppe hinauf zu folgen. 
Wer war glüclicher als ich, ſich ſo willfommen zu ſehen. Bald jaß ich 
ihm an feinem einfachen Studierſtübchen gegenüber, während er be- 
Ichaftigt war, til ein mäßiges Blatt Papier zurechtzuſc<hneiden, und 
veirachtete voll Aufmerkſamkeit 3hn Telber ſowie feine Umgebung, ſeine 
Bücher und uambherliegende Steine. YVuguſt hatte mich ſogleich ver= 
laſſen und war zu wen Haus8genoſſen gegangen. . . - 
So war ich mit Goethe ganz allein. Wie pries ih mich glülich! 
Jekt war er mit feinem Papicrichneiden fertig und wendeve jich ZU 
mir: „Mein Auguſt ſchreibt ir, daß Sie ein Olldenburger wären ?“ =- 
„Gin O Oldenburger, Exzellenz!“ -- „Gut! Was brennen Sie da?“ -=- 
„Fat mur Torf.“ = „Wie in Oftfriesland, nicht wahr?“ =- „Ich glaube, 
Gerzellenz,“ war meine Antwort. =- „Wie wird der Torf dort 
gewonnen?“ -- „Er wird... er wird aus der Grde gegraben.“ =- 
„Das iwußt ich ſchon, daß er nicht auf den Bäumen gepflückt wird . . . 
ID will zunächſt genau witſen, mit welcher Art von Inſtrumenten er 
aus dem Boden gehoben wird? Wann gräbt man ihn? Wie lange 
läßt man ähn tro>nen? Wie lange Zeit bedarf er dazu? Und wie ich 
ichon einmal wiſſen möchte, wie iſt folch ein Werkzeug geſtaltet, womit 
man iden Torf Dei Ihnen gräbt? Nun ſagen Sie mir und zeichnen 
Sie mir doch einmal die Form genau hier auf das Papier. Häer haben 
Sie einen Bleiſtift dazu.“ 
Berlin, 15. Januar 
 
Expedition: Buchhandlung Vorwärts, Paul 
Singer G. m. b. H, Lindenſtraße 3. Alle Zu- 
THriftfen für die Redaktion ſind zu richten 
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 68 
1916 
„Nun, können Sie das nicht zeichnen?" fuhr er dann fort, Da ih 
nod verblüfft Ichwieg. „So beſchreiben „Sie es mir wenigſtens, Sie 
jehen ja, daß i< mi dafür intereſſiere.“ 
I< beharrte in fejiem Schweigen. So einen Torkfioden baite 1 
zwar oft genug gejehen und Jogar in der Hand gehadi beim Öfenheizen. 
Uber da ich aus der reinen, echten Tori ſtammte, 18 war mir doch Die 
eigentliche Gewinnung des Torfes vollig fremd. 
„Sie brennen alo den Torf täglich 
Ddennod4 nichts davon, wie er gewonnen wird? 
Mann, das mögen Sie offen geſtehen!" 
Mit durchdringendem Blike fab Goeihe mich an, und ich füblte 
wie mir das Blut zu Kopfe jtieg. Gin eifiges Schweig om Tolgieg Weir 
Ward es immer ungemütlicher. Goethe nahm ein Buch ZUL Hand UI 
blätterte darin, bis dex D Biener fam und meldete, daß das Efien ! 
fei. Bei Tiſche waren noch Frau Chrittiane v. Goerbe und Au uit ZU: 
Und wijjen 
JUngs8r 
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gegen. Den zog der Vater ins Geipruäch und unter9i er ms 18 De 125- 
haft mit ihm. Mach ignorierie er völ 3. Se vorlie? Dor ag Dan 
eine kurze Verabſchiedung, und ich war enilaften . 
Warum Goethe wohl j9 genau nachforichte? Weil ex ein 
lebhafte3 Intereſſe daran hatte, Klarheit über den Worgac 31 
gewinnen. Ob wir wohl beiſer Beicheid wüßten, wenn wir plot 
lich gefragt würden, auf welche Art man dur<> Clefirizität Faor- 
zeuge fortbewegt oder Licht erzeugt? Dder wie man Loder g: 
winnt oder Brot bac>t? Und das jind do<> auc<m Vorgänge, Die 31U 
beobachten wir täglich Gelegenheit haben. GS wäre cher ear 
intereſſant für jeden einzelnen unter uns. m einmal 1elbit zu 
prüfen, von welchen Dingen ſeiner nächſten Umgedung er cine 
L 
halbweg3 klare Vorſtellung hat. Da würde manchor 1ein Nane 
Wunder erleben! Den meinien Wienſchen fehlt IQS ramiime 5 
ve 925 Goethe in 9ohe m Srade deſaB: ſe dall ton dio Snaohonde 
Nor einiger Zeit fü vrai 1 anit einem Manne, der vhne Zweircl 
auf eine gründliche Bildung Anivpruch erdebi, 1übor Moienoips 
„Kater Lampe“. „Na, wiſſen Sie,“ ſagte der Mann, „ich boareiti 
nicht, wie diefes Stüc einen Jſolpen Eimdruck machen Ta 
vollig ausgefallen fommt mir der Vergleich mit le 1 - 
brochenem Krug“ vor. Das ganze Stiic> fällt doch 1I<;MH 
einander in hundert Ginzelheiten, die ja wohl ganz 
achtet ſind, die aber noc< lange fein Drama ansmachen.“ So vin 
Gel! Als ob m<ht die „gut beobachteten Cinze beiten“ die Bait- 
ſteine wären, mit denen der Dichter fein Dramatiiches Godbäarnde 
aufführt. Kann man ein Bainverf ohne Steine daunen? Cbeom!c- 
wenig kann man cin Drama, eine Grzählung, eino Schiderung, 
irgendeinen Auffas ſchreiben ohne „gut beobachtete CGinzolheiten“. 
Und der wird am anſchaulichſten und lebensvolliten Ic<reiben, der 
über einen möglichſt großen Schaß ſolcher Cinzeiheiten verfügt. 
Naum follte man meinen, daß man jemand, der wel Jetunide 
Augen hat, bloß aufmerkjam zu machen branche: das übrige 
würden Dann die Augen felbſt beſorgen. Aber 19 ei nfach iſt Die 
Sache nicht. Sehen Fann zwar jeder, der nicht blind 1ijt. Aver 
richtig ehen, jo jeben, daB einem Foine weientliche Einzelheit 
entgeht, das will gelernt ſein und iſt durchaus nicht jo einfach, 
wie es den Anichein hat. 
EGine ganz ausgezeichnete Gelegenheit, Eure Augen an 
richtige3 Schen zu gewöhnen, bieten Eure Ausflüge in die freie 
Natur. In Wald und Feld grbt e3 jederzeit Dinge, die verdienen, 
von uns genau beobachtet zu werden. Zum Beiſpiel die Bäume 
im Walde. E38 gibt viele Tauſende von Stadtkindern, die micht 
Eiche und Buche voneinander unterſcheiden können. Und wire ſteht 
es mit Dir? Kennſt Du den Unterſchied zwiſchen der Rinide der 
Eiche aind Buche? Zwiſchen ihren Blättern? Zwiſchen ihren 
Blüten - und Früchten? - Was8 würdeſt Du anfangen, wenn 1< 

	        
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