Full text: Arbeiter-Jugend - 8.1916 (8)

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iſt. Das Chriſtentum aber, ſo führt Heine aus, das einſt eine 
Wohltat für die leidende, verzweifelte Menſc<heit war, iſt heute 
eine Ihädliche Idee. Indem es alle8 Natürliche al8 Sünde Hhin- 
ſtellt, I<hafft e8 einen ungeſunden Zwieſpalt zwiichen Leib und 
Seele, erzieht e8 den Menihen zum Heucheln, und indem e3 die 
we 
Maſſen auf den Himmel verweiſt, macht es ſie träge und hält ſie 
ab, fich gegen die Plackereien auf dieſer Erde gehörig zu wehren. 
„Sh aber,“ ſagt Seine, „möchte ſchon auf Erden durc< die Seg- 
nungen freier politiſcher Inſtitutionen (Einrichtungen) jene Selig- 
Feit etablieren (begründen), die nach der Meinung der Frommen 
erſt am jüngſten Tage im Himmel ſtattfinden ſoll.“ In der „Ro- 
mantiſc<hen Schule" gibt Heine eine Darſtellung der Entwicklung 
der deutſchen Literatur, mit beſonderer Berücſichtigung der joge- 
nannten „romantiſchen“ Dichter. Romantiker nannte man jene 
Schriftſteller, die ſich bemühten, jo unbeholfen, jo naiv und kindlich 
und dabei fo tieffinnig, jo ſjymboliſ< zu dichten wie die Dichter 
des Mittelalters. Sie entnahmen auc<h ihre Stoffe häufig der 
odlen Ritterzeit, und viele von ihnen liebäugelten mit dem Katho- 
ziamus8. Heine, der ſich einſt ſelbſt zu den Romantikern gezählt 
hatte, ſieht jekt in dem Treiben jener Dichterſ<hule eine Gefahr. 
Er hält e3 für verderblich, das Volk in wirre Träume von ver- 
gangenen Zeiten einzulullen und ſomit eine Kluft zwiſchen Leben 
und Kunſt aufzureißen. Statt deſſen preiſt er jene Dichter, die wie 
Xean Paul „ſich ganz ihrer Zeit hingeben“, „die nimmermehr die 
Politik. trennen von Wiſſenſchaft, Kunſt, Religion, die zu gleicher 
Zeit Künſtler, Tribune, Apoſtel ſind“ und ihre Aufgabe darin er- 
bliden, dem Volk über die Gegenwart die Augen zu öffnen. 
Beſſer al8 alle Selbſtbekenntniſſe Heines widerlegen dieſe 
beiden Werke und der Zwe>, den der Dichter mit ihnen verfolgte, 
die Behauptung, daß Heine in Pari38 deutſchfeindlich geworden ſei. 
Gewiß, Seines Empfindung für Deutſchland hat nie etwas zu 
tun gehabt mit „jenem RatriotiSmus des Deutſchen, der darin be- 
ſteht, daß das Herz enger wird, daß es ſich zuſammenzieht wie 
Loder in der Kälte, daß man das Fremdländiſche haßt, daß man 
nicht mehr Weltbürger, nict mehr Europäer, jondern nur ein 
enger Deutſcher fein will“. Als das „Herrlichſte und Heitigſte, 
was8 Deutſchland hervorgebracht hat“, pries Heine vielmehr „jene 
Sumanität, jene allgemeine Menſchenverbrüderung, jenen Ko3- 
mopolitiamus (Weltbürgertum), dem unſere großen Geiſter, 
Leffing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, idem alle Gebildeten 
in Deutſchland immer gehuldigt haben“, und al3 Sendung Deutich- 
lanid3 betrachtete er es, „die Dienſtbarkeit bi8 in igrem leßten 
Schlupfwinftel, dem Himmel, zu zerſtören . . ., das arme, glück- 
enterbte Volkf und den verhöhnten Genius und die geſchändete 
Schönheit in ihre Würde einzuſeßen“. Gerade dieſe hohe Auf- 
faſfung von Deutſhland8s Beruf machte Heine unnachſichtlih 
gegen die Schwächen und Laſter feines Vaterland8. Und gerade 
d7e unmöglichen Anforderungen, die er an Deutſchland ſtellte -- 
anmöglich, weil die Befceiung der Menſchheit von Not und Elend 
niemals das Werk eine3 einzelnen Volke3 ſein kann --, trieben 
ihn zu den bitteren Verhöhnungen der deutſchen Knechtſeligkeit in 
dor herrlichen Dichtung „Deutſchland, ein Wintermärchen“. 
Mit Unre<ßt hat man es Seine oft verdacht, daß er, als im 
Jahre 1848 die Revolution au3brach, dieſes große Creigni3 als 
einen „läſtigen Spektakel“ empfand und ſich in keiner Weiſe daran 
beteiligte. Jedoch Heine war damals jc<on ein jchvertranter 
Mann. Seit dem Januar 1848 feſſelte ihn ein qualvolles Rücen- 
marksleiden vollſtändig an3 Bett. Widerwärtige Familienſtreitig- 
Feiten, Anfeindungen von alten Geſinmaing8genoſſen und neuen 
Gegnern trugen dazu bei, ſeinen körperlichen und ſeeliſchen Zu- 
ſtand zu verſchlechtern. Immer gepeitſcht von der furchtbaren 
Angit, den Verſtand und das Augenlicht verlieren zu können, hat 
Heine auch in den Jahren ſeines Siechtums8 fieberhaft gearbeitetk. 
Die Gedichtfammlung „Romancero“ und die „Letzten Gedichte“ 
jind das großartige Zeugni38 ſeines heroiſchen Kampfes gegen die 
entjeßlichen Leiden des Körper8. E83 ſeien hier nur einige der 
wertvollſten Godichte aus dieſer an Wit und Ironie ſo reichen, an 
Srimmung3- und Naturbildern jo armen Sammiung angeführt, 
jo „da3 Sklavenſhiff"“, „die Wahletel“, „die Di3putation zwiſchen 
dem Rabbi und dem Mönch“, „der Philanthrop“, „das Jammer- 
tal“. | " 
Am 14. Februar 1856 hatte Heine ansgelitten. Cin Denkmal 
aus Stein hat man ihm, „dem kranken Juden und“ dem großen 
Künſtler, der unſerer Mutteriprache mächtiger war als alle deut- 
ichen Müllers oder Schulzes“ (Dehmel) biSher in Deutſchland ver- 
weigert. Jedoch keine Regierung konnte verwehren, daß ſich der 
Dichter de3 -Buche8 der Lieder, der Sänger der Repolution, ein 
Denkmal geſetzt hat im Herzen des deutichen Volkes8, ein Dent» 
mal, das nicht nur unvergänglicher iſt als Erz und Marmor, ions 
dern auch immer ragender ſich erheben wird, je empfänglicher der 
Geiſt de3 Volkes für die Schönheit und Kunſt, je weiter ſein Herz 
für den Gedanken der Freiheit werden wird. 
 
Gine wohlfeile, alle wichtigen Proſaſchriften und ſämtliche Gedichte 
enthaltende Aus8gabe von Heines Werken (10 Bände in drei gebunden 
4 Mk.) hat Franz Mehring mit ausführlicher GCinleitung im Vor= 
wärtsverlag berausgegeben. Ginzelausgaben der Proſaſchriften und 
Gedichtſammlungen find bei Reclam, Hendel ujw. erſchienen und für 
wenige Groſchen zu haben. Iſa Straßer. 
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Der Krieg und die Wanderſtraßen der 
. Zugvögel. | 
Ad ic große Mehrzahl der Zugvögel hat ſeit Wochen bereit3 die 
' alliährlice Reiſe im wärmere Gegenden angetreten, aber 
“zz der Menſ< vermag ihnen, ſeitdem der Krieg in Europa 
wütet, nicht mehr ſo leicht zu folgen, wie er es früher vielleicht ge- 
wohnt war, denn die Bahnverbindungen zwiſchen den feindlichen 
Ländern ſind unterbrochen, und ſelbſt die Schiffahrt hat ihre Linien 
der Minengefahr und ſonſtiger durch den Krieg entſtandenen Hin- 
derniſſe wegen zum Teil verlegt, zum Teil ſogar für die Kriegs- 
dauer ganz aufgegeben. Aber e3 ſind. nicht nur die menſchlichen 
Verkehr8wege, die durch den Krieg eine Aenderung erfahren haben, 
jondern auc<h die Wanderſtraßen der Zugvögel, auf denen diefe ſeit 
Zeohntaufenden .von Jahren daherzieben, ſind durch den Weltkrieg 
in Mitleidenſchaft gezogen worden. Sowohl von der Weſtfront, 
wie auch von der Oſtfront liegen Mitteilungen darüber vor, daß 
die Vögel ſich den Schlachtgebieten möglichſt fernhalten, vermutlich, 
weil der andauernde Kanonendonner und das Explodieren Der 
Granaten ihnen al8 eine Art fur<tbares Unwetter erſcheinen, dem 
ſic möglichſt a1:8 dem Wege zu gehen trachten. 
Natürlich iſt die Abneigung gegen das Schlachtfeld nicht be: 
allen Vogelarten gleicß entwickelt, jondern richtet ſich ganz nach dem 
taturell und den Gewohnbeiten der betreffenden Art. So ſtört 
zum Beiſpiel die Raben und Krähen der Schlachtlärm nicht im ge- 
ringſten, und ſie zeigen auch keine Scheu oder Furcht, ſondern ſjinv 
vielfach in ihrer unerſättlichen Beutegier von einer früher nicht gL- 
kannten Dreiſtigkeit. 
Das bi2äher vorliegende Beobac<tungö3material über die Wir- 
fungen des Krieges auf die Vogelwelt iſt allerdings noch nicht ſön- 
derlich reichhaltig und wird ſich wohl erſt nach und nach vervoll- 
ſtändigen laſſen; einfiweilen beziehen ſich die Beobawtunnen natür- 
lich vor allem auf die befannteren Vögel, wie Stare, Schwalben, 
Lerchen oder ſolche Vogelarten, wie Schnepfen und Störche, deren 
Körpergröße e8 möglich macht, ſic während des Fluges auch au? 
größere Entfernung zu beobachten. Die meiſte Aufmerkjamkeit iſt 
in allen kriegführenden Ländern dem Storch, wo er no< vorhanden 
iſt, zugewendet worden, und alle Mitteilungen ſtimmen darin Über- 
ein, daß der Storc< von allen Vögeln den Wirkungen des Krieges 
gegenüber mit am empfindlichſten iſt. Er verläßt fluchtartig die 
Gegenden, in denen ſich kriegeriſche Handlungen abſpielen, und 
kehrt nur in den ſeltenſten Fällen, und auch dann voller Schen und 
Mißtrauen, in ſie zurück. - H 
E83 iſt bekannt, daß die Wanderſtraßen der Zugvögel mit Vor- 
liebe den Weeere8küſten und den Flußtälern folgen. Ueber Helgso- 
land, das für die rieſigen Scharen der dort vorüberkommernden 
Zugvögel bekannt iſt, führt der Flug an der deutſchen und der hol- 
ländiſchen Nordküſte entlang und ſchwenkt dann bei der Rhein- 
mündung über das Feſtland ein. Hier teilt der Zug ſich in zwei 
Teile; der eine folgt dem Rheintal, der andere dem MaaSital. und 
erſt im Rhonetal treffen die beiden Ziige wieder zuſammen, um ſo- 
dann gemeinſam die Reiſe an die Mittelmeerküſten fortzuießen. 
Man ſieht alſo, daß die eine der großen europäiſchen Wander- 
ſtraßen, diejenige durc< Belgien und Oſtfrankreich, gerade durch die 
Gobiete führt, in denen der Krieg nun ſeit zwei Jahren mit be- 
ſonderer Erbitterung geführt wird. 
Die ſoeben erwähnte Zugſtraße wird außer von vielen anderen 
Vögeln auch von den in Holland und Nordeuropa wohnenden 
Störchen benüßt, da der Storc< dank dem Schuß, der ihm dort zu- 
teil wird, in dieſen Ländern noch ziemlich häufig iſt, während bei- 
ipielsweiſe in Mittelfrankreich die Störc<e bereits ſeit längerer 
Zeit vollſtändig verſOwunden ſind. Das Merkwürdige iſt nun, 
daß ſeit Krieg3ausbrüch in Mittel- ſowohl ie in Weſtfrankreich 
die Störche wiedergekehrt ſind, und zwar nicht in einzeinen Grem- 
plaren, ſondern zu gangen Scharen. Auch über die Schnepfen 
und Lerchen liegen Beobachtungen vor, aus denen hervorgeht, daß 
dieſe Vögel von ihren gewöhnlichen Zugſtraßen abgewichen ſind 
und ihren Weg nun durch das mittlere Franfreich nehmen. 
Auch die Mitteilungen, welche von der Oſtfront vorliegen, be- 
ziehen ſich zum großen Teil auf die Störche; jo iſi beobachtet wor- 
den, das ſie in allen Gebieten der nördlichen ruſſiſchen Front, alls 
in don baltiſ<en Provinzen, in Volen und ſelbſt in Galizien ſeit 
Aus3hru des Krieges ihre Herbſtreiſe viel früher al5 gewöhnlich 
antraten und auß viel früher über Oeſterreich binzogen; denn wäuh-
	        
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