Full text: Arbeiter-Jugend - 8.1916 (8)

 
Arbeiter „Jugend | | | 19 
 
 
dungsſchule und iden prafiiihen am lebenden Objekt, am Kinde am 
Säuglingsheim, jc<affen. 
Dieſer Artikel war bereits geſchrieben, da erſchien in der Nr. 9 des 
„Berliner Tageblatts“ vom 6. Januar 1916 ein langer Auffaß von Pro- 
feſſor Langſtein, in dein er mit großer Wärme dafür eintritt, Säug- 
UngShhgiene als Unterrichtsgegenſtand in der Volfsichule einzuführen. 
Und dann fährt er fort: 
„Der Unterricht in der Säugling8kunde muß natürlich auch nach 
der Volksſchule fortgeſebt werden, womöglich in der Pflichtfortbil- 
Dungöichule, deren allgemeine Ginführung ein Gebot der Notwendig-= 
eit it. Befommen wir Pflichtfortbildungsſchulen mit einem ver= 
nunftigen biologiſchen Unterricht, mit Unterricht in der allgemeinen 
Geſundbeitslehre, vor allem in Säugling3- und Kinderpflege, nicht 
nur theoretiich, fondexn auch praitiſch, dann tun wir den größten 
Schritt vorwärt38 in der Bekämpfung der Säuglingäſterblichfeit. Die 
Pflichtfortbildungsſchule mit den für das praktiſche Leben und die 
Gewmdheit unſeres Nachwuchtes ſo wichtigen UnterrichiSfächern 
würde auch das heute jo viel beſprochene Dienſtjahr der Frau meines 
Grachtens überflüſſig machen.“ . - 
Dem ſtimme ich durchaus bei. . 
M4 
Ciwas über Krifik. 
Gin bewährter Freund unſerer 
Jugend, der im der Arbeiter- 
bewegung an hervorragender Stelle 
ſieht, ſchreibt unz: 
ef n jeder Krititf liegt ein Tadel. Ja, es liegt im Weſen der Kritik be- 
DB gründet, daß ſie tadeln, die Mängel einer Sache aufde>en muß. E38 
2 gibt fein Ding, nicht8, was wir uns denken können, ſei es abſtrakt, 
fei es konfret, deſjen Begriff, Form, Inhalt, Ausführung, fei es, wa3 es 
wolle, alle gleichmäßig befriedigte. Der eine hat dieſes, der andere 
zenes daran auszuſeBen. Gine kritiſche Betrachtung, Durchprüfung und 
Zergliederung irgendeines Beſtandes, mit dem Ziel, an die Stelle des 
Schlechten das Gute, an die Stelle ides Guten das Beſſere zu Feßen, 
birgt ſtets die Keime ides Fortſchritts in fich. Gine ſolche Kritif iſt gut, 
zie iſt echte, wahre Kritif. Von ihr aber unterſcheidet ſich wie Schla>e 
vom Erz die falſiche Kritik. Die tadelt nur aus Freude am Herabſeben; 
Die erſtere aber wirkt durch Auftlärung als beſſernder, vorwärt5treibender 
Tattor, auch wo ſie einmal über das Ziel hinausſchießt. 
Ieder Fortſchritt iſt der durch die Kritik geſchaffenen Ginſficht in 
die Mängel einer Sache oder einer Ginrichtung zu danken. Verknöche- 
rung, Grſtarrung treten ein, wo nicht ider Kampf der Meinungen, ider 
Widerſtreit der Anſchmmungen zur Geltung kommt. Gine falſc<e Kritik 
ſchafft Verbitterung und hindert die Ginſicht in die Mängel, die Ueber- 
zeugung von ider Unerträglichfeit all deſſen, was auf irgendwelchem 
Gebiete verbeſerungsfähig wäre, und Hemmt ſomit jeden Fortſchritt. 
Zwar fann das erſtrebte Ziel der Beſſerung auch manchmal die 
echte, wahre und wohlbegründete Kritik nicht erreichen. Das braucht 
nicht immer darauf zurückzuführen zu fein, daß, namentlich ſoweit gefell- 
iIchaftliche Ginrichtungen in Frage kommen, vielfach perſönliche Intereſſen 
jede Aenderung beſtehender Zuſtände ablehnen kaſſen. Auch da, wo 
L. Z. 
 
 
 
„I< danke Jhnen, wenn Sie ſo gut ſein wollen,“ ſagte er und lief 
beſchamt davor, | 
Ich hielt mein Verſprechen und kramte aus Kijien und Kaſten her- 
vor, was ich für gut hielt und cntbehren konnte. Bücher, die man 
fortgibt, bekommt man doch ſehr ſelten wieder oder in einem Zuſtande, 
der einem die Luſt am Beſiß verleidet. -- 
Mittlerweile wurde in unſerem Ort einc Arbeiterjugendorganiſation 
gegründet, und das Gewerkſchaft8kartel richtete in ſeiner Bibliothek 
eine beſondere Abteilung ein, um die Angehörigen: der Jugendorgant= 
ſation anit gutem Leſcſtoff zu verſorgen. Je8ßt war unter Auguſt aus der 
Klemme. 
Nach etwa drei Jahren verlicß Auguſt, der zu ſcinem Vorteil größer 
und ſtärfer geworden war, unſer Geſchäft, um in einem Warenhauſe 
al8 Packer mehr Arbeitslohn zu verdienen. Als ich ihn dann wieder 
einmal traf, erzählte er mir hocherfreut, daß er cine gutbezahlte Stelle 
in einer Maſchinenfabrif habe, aber worüber er ſich am meiſten freue, 
ſei, daß er jeht Leiter im Jugendbund geivorden, und er danke mir 
noch, daß ich ihm vor Jahren den Weg dahin gezeigt habe. Wir ſchieden 
als jute Freunde mit einem kräftigen Händedruc> voneinander. Leider 
ſollten wir uns nicht mehr wiederſchen. -- 
Als fich im Juli 1914 die dunklen Wolfen am politiſchen Himmel 
Guropa3s zuſammenballten und die Mobilmachung und der Kricg kamen, 
hörte ich, daß Auguſt Koch al35 Erſaßreſerviſt zu den Waffen gerufen 
worden war. Gimmal erhielt ich dann eine Feldpoſtkarte aus Frankreich. 
Seine Fragen galien dem Gedeihen de38 Jugendbunde38. Dann, nach 
einigen weiteren Monaten, fand ich zwiſchen Anzeigenmanuſkripten, die 
ich für unſere Zeitung abſeßen ſollte, eine Tode2anzeige. Auguſt Koch 
war in Rußland gefallen. Bei Dünaburg ſette eine ruſſiſche Kugel 
feinen Jugendidealen cin Ziel. -- 
So ging untcr den vielen guten Menſchen auch er dahin. 
ve. 
jolße perſönlichen Intereſſen. nicht vorliegen, Fönnen mancherlei 
Momente den Blik für die Mängel eines Werkes trüben. Erziehung, 
Lebensitellung, idex ganze Ginfluß der Umgebung ſtemmen ſich oft gegen 
Die Grfenntnis dieſer Mängel. Wer einem Ding, einer Ginrichtung, 
Form und Leben gab, zu ihrem Vertreter, Verwalter oder Hüter be= 
rufen iſt, iſt jelten von etwaigen Mängeln der Sache zu überzeugen. 
»8 ſpielt da eine Rolle die allgemeine menſchliche Neiaung, die gigene 
Arbeit, Das eigene Werf, recht hoch zu bewerten. Dieſe Neigung bewirkt 
es, daß recht oft auch in einer echten, wahren Kriiif, die nur der Sache 
Dienen will, nur die Aeußerung böſejten Uebelwillen2, nur der Verſuch, 
Das Werk, die Ginrichtung herabzuſeßen, erblickt wird. Da iſt dann 
gine Verſtändigung recht Ic<hwer, oft ganz unmöglich. Das läßt ſich auf 
allen Gebieten des öffentlichen Lebens nachweiſen. Man Fann nicht 
einmal jagen, Daß an dietfem Verhältnis Die 2ine Seite allein die Schuld 
tragt. Ganz objetftiv, gewiſjermaßen pſychologiſch läßt es Nich erflären, 
Daß es 19 fommt. Wer immer fich auf das Geobiet der Kritik gedrängt 
fieht, gerät bei dem, an deſſen Werk er etwas au3zuſeßen hai, leicht 
in den Verdacht, zu kritiſieren aus Freude am Tadel, aus prinzipieller 
Negation, aus der Luſt am Heradvbreißen. Das läßt ihn dann dem 
Kritiſierten als gang ungeeignet zu jeder poſitiven Mitarbeit erſcheinen. 
Und jedes Zuſammenarbeiten oder auch nur das Gingehen auf die von 
Der anderen Seite kommende UAUnregung wird abgelehnt. Das wirkt 
Dann auf die andere Seite wieder zurüs und führt zu einer noch ]<9ar» 
ſeren Betonung der vermeinten Mängel. Und jede ſc<ärfere Betonung 
der vorhandenen Mängel lenkt immer weiter den Bli>d von den guten 
Seiten des Kritiſierten ab, führt immer mehr dazu, das Augenmerk 
I<Oließlich nur auf die Fehler zu konzentrieren. Dann Fann der Kritiker 
leicht in die Gefahr kommen, daß bei feiner Beurteilung der Sachlage 
die ungünſtigen Seiten Überwiegen, und er wird ablehnen, was an ſich 
auch ſeine guten Seiten Hat, ja, bei dem die guten Seiten überwiegen, 
oft jogar weit überwiegen ſonnen. 
Schnell fertig iſt die Jugend mit dem Wort, und mit vem Urieil oft 
gleichfalls. Uns allen iſt es fo gegangen. Und häufig wundern Dir uns 
Beute Jelb)t über das Urteil, das wir in früßeren Zeiten über eine Saße 
abgegeben haben. Die Erfahrungen des Lebens haben uns gezeigt, daß 
25 zu ſchnell abgegeben war. Das8 führt uns zur Veodäctigkeir, zur Ge= 
wohnheit, die Dinge eingehend zu prüfen. So mag mander dann einer 
Kritif nicht gar ſo leicht und jchnell folgen, und Ia35 erwpedt bei Iem 
Kritiker wieder den Gindru> einer 3U langſamen, widerwilligen Prüfung 
Der erhobenen Ginwände. 
Die Menſchen ſind immer aufeinander angewieſen, wir in unſeren 
Orgamiſationen ganz beſonders. Das ſoll uns duldjam machen den 
anderen gegenüber. Wir müſſen unſere C&en anginander abichleifen. 
Wenn wir un3 bewußt ſmd, daß wir ſolche E>en haben, wir alle, feiner 
ausgenommen, dann wird un3 da3 veranlaſſten, fie nach Möglichkeit gein= 
zuziehen, damit andere möglichit wenig ſich daran ſioßen. Dann Wird 
in unſerem Tun und in umjeren Worten auch manche Härte ſchwinden, 
unſere Anſprachen werden ruhiger, beſonnener und -- fruchtbarer wer» 
den. Dann werden wir aber auch durc< unſere Kritik, ohne die -- wie 
ja ſ<on geſagt -- kein Fortihritt möglich itt, nicht böſes Blut "Haffen, 
Jondern gerade das Sireben, das Beſte zu erreichen, bei allen weden. 
Damn wird die wahre, e<te Kritik Erfolge zeitigen, alen zum Nuten, 
jedem zum Beſtien. 
In dieſem Sinne laßt uns kritifieren und laßi uns 
Kritik ohne Bitterkeit und in der Ueberzeugung aufnehmen, De 
Wille zum Guten zugrunde liegt. 
SS 
Wir laſſen unſer tiefe3 Gefithl, daß es iiberhaupt Recht und Uns 
recht, Wahrheit und Lüge im Geſcllſhaftäteben gibt, Hlind als Ve 
teidiger unſerer beſonderen Urteile über Recht und Unrecht in 
gegebenen Falle auftreten. Und was noch ſchlimmer it, dieſes Joziale 
Gerehtigkeit3gefühl wird ebenſo blind als Ankläger Dderienigen auf 
treten, deren fkontfrete Auffaſſung in dem vorliegenden Falle Unſerer 
eigenen widerſpricht. Indem wir an die Vaterlandsliebe unſerer eigenen 
Partei glauben, wird es uns ſchwer, nicht au Die vaterlandsloſe Ge= 
ſinwmung der Gegenpartei zu glauben; indem wir an die Ehrlichkeit 
unſerer eigenen Ueborzeugung glauben, neigen wir Jehr Dazu, an Die 
Unehrlichfeit der Ueberzeugung unjerer Gegner zu glauben. 
Unfere ſpeziellen ſozialen Vorurteile liegen größtenteils innerhalb 
der ſchüßenden Mauer des allgemeinen Jozialen Vorurteils, daß Die 
Perſonen öder Parteien, welche uns fremde ſoziale Anſchauungen ums 
faſſen, weniger ehrlich, weniger ethiſch und intelligent in ihren fozialen 
Veberzeugungen und Beſtrebungen fein anüſſen als wir Jelver. Sowohl 
innerhalb hochkonſervativer, dur< konventionelle Anſchauungen gefeſelz 
ter Kreiſe wie unter jungen ehrlichen Enihuſiaſten innerhalb ſozial= 
revolutionärer Parteien gewahrt man eine Tendenz, die Gegner als 
„Schurken“ oder „Jdioten“ ader beides zugleich anzuſehen. Da nun Die 
Monſchen einander, infolge ſozialer Voreingenommenheit, im dem 1ozia- 
len Jdeen- und JIntereſſenfampfe ſowohl unnötigen Schaden wie ge- 
dankfenloſen Schimpf zufügen, wird das Vorurteil, daß die jozialen 
Gegner in der Regel bo3haft und dumm ſeien, leider oft durc< die 
perſönliche Erfahrung ſehr vertieft. 
Guſtaf 3. Steffen, Die Irrivege ſozialer Erkenntnis. S. 135.
	        
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