Full text: Arbeiter-Jugend - 8.1916 (8)

 
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Eingetragen in die Poſt-Zeitungsliſte. 
Nr. 1 
Xeujahr 1916. 
DB enn es 6inen allmächtigen Lenker des Weltalls gäbe, und 
B wenn Menſchenwünſche ſeinen Willen zu beeinfluſſen im- 
ſtande wären, in diefer Silveſternacht wäre er durch den 
millionenſtimmigen Notſchrei, der „zu feinem Throne ſtieg, in ſeiner 
Allmacht überwältigt worden. So unüberſehbar aunc< in ihrer 
Mannigfaltigkeit die Forderungen ſein mögen, die die Menſchen 
an das Schijal ſtellen, und denen ſie nach altem, töricht-liebem 
Brauch in der geheimnis8vollen Mitternachtsſtunde der Jahre5- 
wende beſonder3 feierlich und inbrünſtig Ausdruck zu verleihen 
pflegen =- die3mal gab es in den zahlloſen Maſſen, die die Kultur- 
gemeinſchaft der Erde auS8Smachen, nur den einen, Ichmerzerſtiten 
Ruf: möge endlich der verzweifelten Kreatur Friede beſchert 
werden! Nie ja iſt unſer Geſchlecht, ſoweit ſeine geſchichtliche Er- 
innerung reicht, dur< cin ähnlich entſekliches, an Blut und 
Greueln und Tränen reiches Martyrium geſchleift worden, wie in 
dieſem Weltkrieg, der nun ſchon die Schwelle des dritten Jahres, 
das feinen Namen tragen wird, überſchreitet. Dörfer, Städte, 
ganze Länder liegen in Aſche und Trümmern; über Hundert- 
tauſenden, in der Blüte ihrer Kraft gefällten Kämpfern wölbt ſich 
Der Hügel; unüberichbar dehnt ſich der Leiden3zug der Krüppel 
und S Siechen, die bis ans Ende ihrer Tage die Male des großen 
Würgers mit ſich ſchleppen müſſen; und kaum, wenigſtens in den 
Kulturländern, vom Säugling im der Wiege bis zum Greis am 
Rande des Grabes ein Mitlebender, der nicht f9 oder jo, in der 
leiblichen oder in der ſeeliſchen Exiſtenz, die verhängni5volliten 
Erſchütterungen davontrüge. Wahrlich, wenn ſich ko3miſch das 
ungeheure Geſchehen auswirken könnte, unfer Menſchenſtern rollte 
durch dieſe Zeiten, umgeden von einer nachtfahlen Dunithülle von 
Out und Brand und Jammer. 
Auch dem nüchternſten Blick mag in dieſer Silveſternacht in 
jolcher apokalyptiſchen Geſtalt jich das Bild der Zukunft ver- 
I<leiert haben. Vergebens ſpähte er in alle Weiten nach daim 
Cichtſtrahl, der noch ſo beſcheidenen Andeutung einer kommenden 
Morgenröte, die das Dunkel erhellen ſollte. Und der Stern, 
der an Jürgen Brands Weihnacht8himmel exſtrahlte? Ac<, wie 
ſo mandher unſerer jungen Leſer mag ſich der Zweifel nicht er- 
wehrt haben, ob unſer Freund da nicht von vergangenen Herrlich- 
Feiten träumte, und ob fein Stern nicht zu jenen zählte, von denen 
es heißt: 
 
Gin Stern ging auf in finſt'rer Nacht 
Und zitterte falt dur<s Dunkel -- 
Gr hat die Nacht nicht hell gemacht 
Mit feinem bleichen Gefunkel. 
Und ſteigen auch in der Zeiten Lauſk, 
Wenn der Tag des Leben3 vollbracht iſt, 
Erinnerungen wie Sterne auf, 
. 'Sie zeigen nur, Daß es Nacht ſt. 
Iſt es wirklich N cacht, hoffnungslo] e Nacht, Nacht vor uns, 
wie Nacht hinter uns? Mußte jener millionenſtimmige 
Silveſterwunſch, der eher ein ungeheurer Hilf8ruf war, als eine 
hoffnungsbange Jrage ans Schickſal, mußte er, bevor er Laut ge- 
worden, in unjerer Bruſt erſticken, wenn anders wir uns nicht 
ſelbſt als klägliche Toren erſcheinen wollten? Denn daß wir in 
ſ<warzer Finſterni38 unjeren Weg tappen, wer vermöchte e3, wer 
wagte es zu leugnen? Nie hatte: der. Menſchengeiſt wohl be- 
gründetere Urjache, an feiner Gottähnlichkeit zu zweifeln, als in 
unſeren Tagen. Was wir ſtolz unſere Kultur nannten =-- wenn 
wir den Mut zur Wahrheit aufbringen, ſcheint e8 uns kaum be=- 
Berlin, 1. Januar 
Exvedition: Buchhandlung Vorwärts, Paul 
Singer G. m. b. H, Lindenſtraße 3. Alle Zu: 
ſchriften für die Redaktion find zu richten 
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 65 
1916 
langvoller zu ſein, als jene Knochen- und Muiſchelhaufen, in denen 
an Skandinaviens Küſten die nordiſchen Ahnen unſeres ( Geſchlechts 
die Müllhaufen ihrer „Kultur“ aufgetürmt haben. Biitſemichaft 
und Technik, in denen wir es io herrlich weit gebracht t? RKeint 
andere Funktion ſc<einen fie in der Entwiekelung der Menſchheit 
zu erfüllen, als ihr um fo furchtbarere, umfatiendere Werkzeuge 
zur gegenſeitigen Zerſtörung zu liefern. Vom Fauitfeil des Ur- 
menſchen, von dem an anderer Stelle dieſer Nummer die Rede 
iſt, dis zum Maſchinengewehr oder 422-Zentineter-Geoickutg diele> 
Weltfrieges =- der „märchenhofte Fort tichritt“ beit cht doch weientſ- 
lich darin, daß der Menſch von heute ein unendlich gefährlicheros 
und ſ<ädlicheres Tier geworden iſt, als er es in der Urzeit 
geweſen. Heute klingt es uns wie ein Hirtenidyll aus Paradicſes- 
tagen, daß der Menich dem Wenſchon wie ein Wolf gegenüber- 
tebe, heute, wo die WMäallionenheere nit Zerttörungsmitteln 
übereinander berfallen, denen gegenüber alle natürlichen Waſen 
der Geſchöpfe, geſchweige denn jolc< ein Wolſsgebiy, wie di? 
Wimperhaare eines Flimmertierchens anmuten. Und 10 
denn imnitien diefes Chaos manchem fritiichen Beobachter die 
Vermutung dämmern, 9b ein zufünftiger Kulturbhintorifer, der 
unſerer Epoche, der ſogenannten Neuzeit, in der Entwickelungs- 
goſchichte der Menſchheit die Stelling anzuweien hat, 110 mil m 
FU und Recht als eine bloße Phaie der barbartichen Ur? 
noch im direkten faulturelſen Zufamimenbang mit der 
ſtehe, <arafteritieren müſſe, höchſtens, wie getagt, durc<> die D 
vollfonmmung der Angriffs 5Derf3e ige von jener geſchieden: „dc 
nals mordeten die Menſchen jich noch gegenteitig". Und wen 
als Motiv dieſes Maſſenmordens hbenie 19 hochtrabend der 
SitperialiSmus bezeichnet wird == was itt JimperialiSmus a 
als, in8 Große und Maſienhafte überfeßt, der x vamp ims Futter 
imd um den Futterplaß, das uralte Ziel alle menglimen Wie 
tieriſchen Triebe? So garinſt uns chon aus ven Zügen unſerer 
wilden Ahnen, wie ſie (in der Abbildung auf Seite 5 dieſer 
Nummer) der Forſcher rekonſtruiert hat, die „Ethif“ des modernen 
Kulturmenichen entgegen. 
Nacht alfo um uns, wie Nacht hinter uns? Wom droht da 
nicht der Mut zum Weiterleben zu entſinken, wenn er aus der 
Hölle dieſer Silveſtergedanfen in das Frühlicht der kommenden 
Täge ſchreiten ſol? Fürwahr, der Wille zur Tapferkeit, der vor 
einem Jahr an dieſer Stelle als Zentralfeuer des menichlichen 
Seooelonbetrichbs aeprieſen wurde, der Zähne zufanmmenbeißende 
tapfere Wille zum Leben tut heute bitterer not als damals und jc 
vordem in der Exiſtenz der Zeitgenoſſen. Höher und höher ſteigt 
das Blutmeer, in immer entlegenere Fernen ſcheint der Leuchtturm 
des Iriedens zu entweichen. Von außen, aus keimem Sternen- 
binmel und von keinem SchifalsSlenfer fommt uns Rettung. 
Unſere Wünſche haben wir erſtickt, denn ohnmächtiger als je er- 
ſc<ceint uns in dieſer Neuiahr8nacht jeder Seufzer der Sehnſucht. = 
Und dennoch: wann ſtirbt im Menſchenherzen die Hoffnung, ehe es 
zu ſeinem leßten Schlag ausSholt? Leuchten uns in der Tat nicht 
noch andere Sterne, als jene falten KoöSmosfunken da oben, die 
bloß zeigen, „daß e8 Nacht iſt“? ZJſt nicht auch uns, wie mur 
je einem früheren Geſchlecht, das Promethens8-Evangelium ver 
findet: 
Wer half mir wider der Titanen Uebermut, 
Wer rettete vor Tod mich, vor Sflavereti? 
Haſt Du nicht alles f elbſt vollendet, 
Tir 
veilig qlühend 
Ö er3? 
Im Mythos ſicht der Dichter, was fommen wird und konnen 
muß. Noch iſt Promethen8 Menſchheit nicht erlöſt, aber wenn 

	        
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