Full text: Arbeiter-Jugend - 8.1916 (8)

 
54 . Arbeiter-Iugend 
angezogen von Mord und Blut, in die ſichtbare hineintreten, ſind 
dem Dichter Manifeſtationen der unſichtbaren Kraft. Auf dieſem 
Hintergrunde erſ<einen, aufgefaßt mit dem ſchweren RealiSmus 
der germaniſchen Einbildungskraft, tragiſche Geſtalten, deren 1n- 
bändige Leidenſchaft na< Blut zu verlangen ſcheint.“ Sie ſelber 
alfo, dieſe tragiſchen Geſtalten füllen den Vordergrund. Der 
Dichter ſieht nur ſie, ſie bewegen ſich ganz aus ihrer Kraft und 
haben immer da8 Ziel, ſicher zu ſtehen und Gewißheit zu erlangen. 
Den Kampf um Macht hatte das ſechzehnte Jahrhundert ent- 
Feſſolt, in England gab ſie ihm mit den ungeheuer günjtigen 
Möglichkeiten einen ungeheuren Antricb. Das beſtimmte auch die 
gejellihaftliche Bewegung. Alles wollie Beſik und perſönliche 
Sicherheit; auch Shakeſpeare war mit dieſer Sehnſucht als junger 
Meni< aus Stratford nach London gekommen. (Schluß folgt.) 
1) Vergl. den Auffaß „Don Quixote, ſeine Zeit und ſein Wert" in 
Nrn. 2 und 3 dieſes Jahrgangs. Nn 
2) Sprich: ſchä<ſpier oder ſchähtſpier. Die erſte Ausſprache (mit 
furgem Vokal in der erſtän Silbe) iſt in England Üblich, die andere in 
Deutſchland. Shakeſpeare wurde geboren 1564 (der Tag iſt unbeſtimmt) 
und ſiarb am 23. April 1616. 
3) Von humanus (lat.) = menſc<lich. Die wiſſenjchaftliche Nich- 
tung der Renaiſſance, die in dem Leben und der Literatur des klaſſiſchen 
Altertums das Muſterbild menſchlicher Vollkommenheit jah. 
N.4 
Aufblis. 
Wir halten off im blutigen Shaffen, - 
Wie einſt im lärmenden Maſchinenſaal, . 
| Eine Minute ſtille Rafi. " 
Da ſind wir bei uns ſelbſt zu Gaftk 
Und fremd erſcgeinen uns die Waſſen. 
Die Sehnjucht fommt uns auf einmal, 
Zerſprengt die donnerſtarfe Hülle, 
Die ſ<Gwer auf unfer Defein drüdt, 
Und dvr< den Riß jehn wir enfzüsk 
Des jd;önen Lebens wunderbare Fülle. 
Wir jehn die großen Räder kreijen, 
Bom Hauch der neuen Brüderſchaftf umweht, 
Der werbend dur< die Länder geht, 
Die lekfen Keiten zu zerreißen. 
Wir ſehn -- o Gnade der Geſichte! -- 
Stolz aus dem Blut der Gegenwart 
Die neue Zeit, die neue Urf 
Uufſtreben in der Weltgeſchichte. 
Cine Granate ſchlägt den Traum zunichte. 
7 Max Bacthel (Argonnen). 
Bom Reden und Zuhören. 
Y & njerc Jugendverſammlungen haben gegenüber den Verſamme- 
ZF 8 1ungen der Erwadcjenen zwei große Vorzüge: es wird nicht 
TT getrunfen, und e3 wird nicht geraucht. Kein Kellner näſelt 
jein „Bier gefällig?“ oder klappert mit Flaſchen und Gläſern, 
 
während der Redner die Zuhörerſchaft an ſeine Worte zu feſſeln 
jucht. Tief kann auch die Lunge Atem holen, ohne dabei einige 
Kubikmeter Rauch von der Superior-Zigarette „Hindenburg“ 
oder der ho<hfeinen Sechöpfennigzigarre „Unſer Kronprinz“ mit- 
jhluden zu müſſen. Jugendverſammlungen ſind daher für 
manchen Redner, der jahrau8, jahrein in raucherfüllten Räumen 
jprechen. muß, eine wahre Erholung. Auch deShalb, weil er nicht 
zu befürchten braucht, daß die Zuhörer mehr auf den friſchen An- 
ſtich als auf ſeine Worte lauſchen, und der Genoſſe Ehrjam den 
Genoſſen Waer zuproſtet, während der Redner gerade einen 
beſonders glühenden Aufruf zu Kampf und Opferwilligkeit an 
die Verſammlung richtet, 
Troß dieſer Vorzüge unſerer Jugendverſammlungen fühlt 
ſich ſo mancher Redner bei un8 doch nicht recht wohl. Jragt man 
ihn nach den Gründen, ſo kommt manchmal die Antwort, daß er 
doh eine aufmerkſamere, dankbarere Zuhörerſchaft erwartet hätte. 
Vielleicht trägt bisSweilen der Redner ſelbſt daran einige Schuld, 
weil -er Jnhalt und Form ſeines Vortrage3 dem Verſtändnis der 
lungen Leute nicht anzupaſſen wußte. Meiſt aber liegt die Schuld 
an der Rücſfichtsloſigkeit, Ungeduld und Gedankenloſigkeit der 
Jugend. Vielleicht iſt e8 nicht ganz ohne Nußen, wenn wir uns 
einige unſerer Berſammlungsſinden vorhalten. 
Da gailt zunächſt, daß wir uns Achtung und Ver- 
ſtfäandni3 für die Leiſtung des Redners anzuerziehen haben. 
ſt doch feim Vortrag kein Daherreden, wie ihm gerade die Worte 
in den Mind konmen, ſondern in der Regel das Ergebni38 ge- 
wiſſenhafter Vorbereitung, vielleicht ein Extrakt jahrelangen 
Lofſens und Denkens. Er opfert uns ein oder zwei Stunden - 
feiner Enapp genug bemeſſenen Zeit, um uns ſeine Gedanken 
vorzutragen. Der Jugendaus5ſchuß bat ihn eingeladen, vielleicht 
wiederholt gebeten, ehe er zuſagte. Da kann ver Redner doch wohl 
verlangen, daß wir ihn mit Achtung und Aufmerkſamkeit lohnen, 
um ſo mehr, als dies in den meiſten Fällen wohl ſein einziger 
Cohn bleiben wird. - | 
- Zwingen wir un3 dann vor allem zur Pünktlichfeit! 
Wenn der Redner laut der Ankündigung um 3 Uhr nachmittags 
erſcheint, fol er nicht zu warten brauchen, bis um 3%4 Uhr die 
verchrlichen freien Jünglinge und Jungfrauen einzutreffen be- 
ginnen. Nicht8 ſtimmt den Redner, beſonders den guten, mehr 
herab al8 das Warten auf die Zuhörer und der Anblick leerer 
Stühle. Ein verſtimmter oder enttäuſchter Redner wird aber me - 
ſo gut ſprechen wie der, den ein vollbeſeßter Saal mit innerer 
reude erfüllt. 
Icder Nachzügler iſt ein Störenfried. Daran denken 
wohl dic wenigſten, die nach Beginn des Vortrags mit un- 
befümmerter Gemütlie<keit durch den Verſammlungö3raum tappen. 
Dieſe Nachzügler ſind. dem Redner ein Greuel. Muß er doh, um 
wirken zu können, mit ſeinen Zuhörern eine möglichſt innige geiſtige 
Gemeinſ<aft herſtellen. Dieſer geiſtige Faden, der ſich vom 
Rednerpult um die Verſammlung ſpinnt, wird durc) die Später- 
kommenden jäh und rauh zerriſſen. Die Tür klappt, Schuhe 
knarren, und unwillkürlich ſieht fi auch der aufmerkjamſte 
Lauſcher nac<ß der Störung um. Der Redner fühlt, wie die Ver- 
bindung zwiſchen ihm und der Verſammlung aufhört. Zit er 
geſchi>t und erfahren, ſo gelingt es ihm, die Zuhörer bald von 
neuem zu feſſeln. Wiederholt ſich die Störung aber öfter, ſo kann 
die Wirkung eines vielleicht wertvollen Vortrages völlig zum 
Teufel gehen. Redner und Hörer verlaſſen dann die Verjanmn- 
Jung unbefriedigt und enttäuſcht. 
Wer während des Vortrages hinausläuft, verübt dieſelbe 
Störung. Wenn die Kirc<engänger oft bis zu zwei Stunden au- 
dächtig im Gotte8hauſe verweilen, dürfen wir dann im unteren 
Veranſtaltungen ein geringeres Maß von Geduld un D 
Selbſtbeherrſ<ung zeigen? Sicherlich nicht! Dabei it 
der Inhalt unſerer Vorträge, und ſeien ſie ernſter, wiſſenſchaft 
lißer Art, für einen jungen Geiſt gewiß leichter zu ertragen als 
die Kanzelpredigt. | | 
Gewöhne man ſich auch. daran, dem Redner ſo zuzuhören, al 3 
ſpräche er unmittelbar zu jedem einzelnen von 
uns! In Wirklichfeit tut er das ja auch. Jſt die Verſammlung 
nicht zu groß, ſo wird der geübte Redner im Laufe jeines Vor- 
trages faſt jeden Zuhörer mehrmals in38 Auge faſſen. Ein Redner, 
der nicht mehr vom Lampenfieber beſeſſen iſt, lieſt unaufhörlich in 
den Geſichtern der vor ihm Sitenden. Ihre Aufmerkjamkeit, ihre 
geſpannten Geſichtszüge beleben ſeinen Vortrag, beflügeln jeine 
Gedanken. Gelangweilte Mienen, Lächeln, Unruhe ſtören ihn, 
lenfen ihn ab und machen ihn nervö8. Nur wer ſelbſt häufig 
ſpricht, weiß, wie auch die ſcheinbar geringfügigſien Vorgänge in 
der Verſammlung dem Redner nicht entgehen. 
Wer dem Vortragenden einen großen Dienſt erweiſen umd 
ihn in feiner Arbeit unterſtüßen will, ſ<aue ihm frei ins Ge- 
ſic<t! Der Bli>k in tauſend Augenpaare verwirrt keinen wirk- 
lichen Redner, aber die Unaufmerkſamkeit, die Gleichgültigkeit 
oder der Unfug eines Dußend38 unerzogener Beſucher können auch 
den beſten Sprecher zur Verzweiflung bringen. 
Wer vie Abſicht hat, nac dem Bortrage eine Frage zu ſtellen 
oder ſich zur Aus8ſprache zu melden, ſchreibe ſich kurze Be- 
merfungen mieder. Das ſtört ven Vortragenden nacht, weil er bei 
dem Screibenden -beſondere Aufmerkſamkeit vorausſeßen darf. 
Anders iſt e38, wenn der oder jener iin Saale glaubt, über ſeine 
Zuſtimmung oder ſeine Kritik ſchon während de38 Vortrage3 cine 
Unterhaltung mit ſeinen Nachbarn führen zu müſſen. Aud) der 
leiſeſte Flüſterton iſt dem Redner und den aufmerkſamen Z11- 
höorern peinlich. Man unterlaſſe de38halb Privatgeſprähe! 
Leider rufen oft genug ſogar VerſammlungsSsleiter 
fjelbſt unangenehme Störungen hervor. In Seelenruhe über- 
geben ſie während de8 Vortrags einem eifrigen Jugendgenoſſen 
einen Packen Flugblätter, mit deren Verteilung dieſer Freund 
ſeclenruhig und gewiſſenhaft eine halbe Stunde ausfüllt. Daß 
während der Rede Aufnahmeſcheime verteilt und den mit der 
Unterſchrift Zögernden mehr oder minder ſanft zugeredet wird, 
gehört auch nicht zu den Seltenheiten. Dieſe guten Jugend- 
genoſſen verderben die Verſammlung gründlich, ohne es zu wiſſen. 
Der Leiter ſoll durc Bli und Gebärde, nötigenfalls durch „die 
Gloc>ce des Präſidenten“ die Zuhörer zur Aufmerkſamkeit anhalten, 
nicht aber ſelbſt Störungen hervorrufen. -- | 
Damit möge es für heute genua ſein. Jeder Verjammlungs3- 
befucher prüfe ſich ſelbſt, ob er gegen dieſe Gebote des angemeſſenen
	        
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