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Arbeiter- Iugend
Zunt Schluß nod einige Worte über die Frage der loſen oder
geſ<loſſenen Organiſation. Welche Form die beſte iſt, wird ſich
immer nach den örtlichen Verhältniſſen zu richten haben. Schreiber
dieſer Zeilen hat viele Jahre an verſchiedenen Orten unter beiden
Syſtemen gearbeitet, und e8 liegt im Allgemeinintereſſe, die ge-
ſammelten Erfahrungen der Oeffentlichkeit zugänglich zu machen.
Beide Formen haben etwas für ſich. Wo e3 die Verhältniſſe ge-
ſtatten, iſt unter alſen Umſtänden auf eine Umwandelung in die
feſte Organiſation hinzuarbeiten. Vorauſetzung iſt aber, daß die
vom Rarteitag und Gewerkſchaft8kongreß beſchloſſenen Bedin-
gungen für die Mitarbeit der Erwachſenen in der Jugendbewegung
erfüllt werden.
Der geſchloſſene Verein hat zweifello38 jür die Jugend eine
ganz andere Werbekraft als die loſe Forn. Dieſe Frage läßt jich
am beſten entſcheiden, wenn wir uns in das Scelenleben der Jugend
hineindenken. Wir Aeiteren ſind auch einmal jung geweſen. Wor
jeinerzeit Mitglied eines konfeſſionellen Jugendvereins gewoſon
iſt, denn andere gab es damal3 nicht, wird ſich erinnern, wie ſtolz
er auf „ſeinen“ Verein war, obgleich die Jugend darm nicht allzu“
viel zu jagen hatte. Um wieviel ſelbſtbewußter kann unſere Jugend
ſcin, wenn ſie ſelbſt mithelfen kann, ihren Verein zu einer Mutſter-
vrgamſation auszubauen. Die Jungen und Mädel3 arbeiten mun
gaanz anderer Begeiſterung, als wenn ſie nur in loſer Form als
Abonnenten der „Arbeiter-Jugend“ uſammenkommen. Schon der
Name „Jugendbildungsverein“ oder „Verein der arbeitenden
Jugend“ hat etwas Locendes für ſie. Ein geſchloſſener Verein,
in dem ihr Wille ausſchlaggebend iſt, wird jich unter der Jugen?
jederzeit größerer Sympathien erfreuen al38 irgend ein ander?3
Gebilde. Das ſind zwar alles nur rein äußerliche Dinge, die für
die Sake ſelbſt von untergeordneter Bedeutung ſind, mit denon
wir aber rec<nen müſſen, wenn wir unſere Bewegung vorwärts
bringen wollen.
Mögen alfo dieſe, in jahrelanger Praxis erprobten Fingerzuge
dazu beitragen, daß allorort3 eine in ſich gefeſtigte und gekräftigte
Organiſation erſteht, die allen Stürmen und namentlich dem
häufig 1o verhängnisvollen „Berſonenwechſel in der Leitung“ zu
wäderſtehen wit der Lage iſg. Mit etwas gutem Willen und
Vintan) itellung von V Vorurteilen und lieben Gewohnheiten wird da3
ißberall möglich fein. Den Nußen wird nicht nur die Bewegung
am Ort, onder al! H d ie Geſfamtbewegung haben.
N Tronicke-
Nan kann kein But in ſich hineintrinfen, ſondern der Organis-
nus muß ſich das Blut ſelbſt aus den Nahrungsmitteln bereiten. --
Breinerhaven.
Cbenſowenig tanmn man ſich im höchſten Sinne fremde Erfahrungen
aneignen, ſondern man muß ſie ſelbſt machen. Fr. Hebbel,
Der Schuß der jugendlichen Arbeiker
nach den Berichfen der Gewerbeaufſichk.
m die Ynnehaltung der Arbeiterſhußvorſchriften zu über-
"wachen, ſind Gewerbeinſpektionen eingelckt, die
inSbeſondere durc< Reviſionen der Betriebe ihrer Aufgabe
gerecht werden ſollen. Sie ſind gehalten, alljährlich über ihre amt-
liche Tätigkeit Bericht zu erſtatten. Dieſe Berichte galten immer
als ein wichtiges Mittel der Kontrolle, dur die die Deffentlichkeit
ſich über die Durchführung des Arbeiterſhuße3 vergewiſſern
konnte. Während des Kriegs iſt bedauerlicherweiſe dic Voroffent-
lichung der Berichte eingeſtellt worden, Auf Drängen des Neich3-
tag38 hat ſich jeßt aber der preußiſche Paniſter für Handel und
Gewerbe dazu verſtanden, einige Ueberſichten über die Beſchäfti-
gung der Arbeiter in gewerblichen Betrieben und die Ueber-
wachungstätigkeit der Gewerbeauffichtsbeamten herauszugeben.
Beomerkenswert an dieſer Veröffentlichung it zunächſt die
Zunahme der jugendlichen Arbeiter, worunter das Geſc Rer-
jonen zwiſchen 14 und 16 Jahren verſteht. Die Zahl dieſer jugend-
lichen Arbeiter vermehrte ſich in Preußen in den "Zabrifen“ (das
jind die Betriebe mit zehn und mehr Arbeitern) und den dieſen
alcichgeſtellten Betrieben von 274 378 im Jahr 1912 auf 280 148
im Jahr 1913 und 827 904 im Jahr 1917. Die Zunahme erſtre>t
jich auf beide Geſchlechter gleihmäßig. Die männlichen jugend-
lichen Arbeiter vermehrten ſich von 190 799 im Jahr 1913 auf
2995 907 im Jahr 1917, die weiblichen von 89 349 auf 101997. Die
Zahl der in den Fabriken tätigen Kinder unter 14 Jahren, die nur
unter beſtimmten Beſchränkungen beſchäftigt werden dürfen, ver-
ehrte ſich von 8584 im Jahr 1913 auf 6012 im Jahr 1917. Hier
vermehrte jich beſonders die Zahl der Knaben, und zwar von 2405
auf 4: 53, während die Zahl der Mädc<hen nur von 1179 auf 1459
anwuchs. Beſonders jtark iſt die Zunahme der be) <häftigten jungen
Laute und Kinder im Bergbau, wo jich ihre Zahl von 1383 im
Jahr 1913 auf 3925 im Jahr 1917 vermehrte, ferner in den An-
lagen der Großinduſtrie, wo ſie von 7988 auf 21 406 anwuchs, in
der Induſtrie der Maſchinen und Inſtrumente, wo ſie ſich von
48 917 auf 88 929 erhöhte ujw. Die Zahl der Fabriken, in denen
jugendliche Arbeiter überhaupt beſchäftigt werden, verminderte ſich
von 60 814 im Jahr 1918 auf 47 412 im Jahr 1917. Dieſe auf-
fällige Abnahme iſt darauf zurü&zuführen, daß viele Betriebe
wegen der damit verbundenen „Scherereien“ jugendliche Arbeiter
überhaupt nicht mehr beſchäftigten, daß aber die anderen Fabriken,
die ſich darauf eingerichtet haben, deren Einſtellung um ſo au8-
gedehnter geſtalteten. BVorzngsweije jind es die großen Betriebe,
die die Beſchäftigung jugendlicher Arbeiter mit Hochdruc> betreiben.
Die Goſamtzahl der Fabrifreviſionen hat abgenommen, und
zwar von 177 432 im Jahr 1913 auf 129 464 im Jahr 1917. D
iſt auf die Verminderung der Zahl der Gewerbeaufſichtsbeamten
um rund ein Viertel und auf ihre Belaſtung mit ſonſtigen Auf-
gaben zurüczuführen, die außerhalb ihres eigentlichen Arbeits3-
gebietes liegen. Eine beſondere Abnahme hat die Beſichtigung
Siegesfeiern.
as Zahr 1895 war für uns höhere Schüler einer kleinen deutſchen
Reſidenzſtadt ein rechtes Jubeljahr. Mit dem achtzigſten Ge-
burtstag des Altreichsfanzlerxr3 Bismar> am 1, April begannen
die Feiern und Feſte und ſetzten ſich bis zum 2, „September, dem Jahre3=
tag der Schlacht bei Sedan, fort, Da3 waren Zeiten! Immer wieder
gab es Fackelzüge, Freudenfeuer, Militärmuſik, Bratwürſte, Freibier,
Sdchülertanzen und vor allem ſchulfreige Tage, immer wieder ſchulfreie
Tage! Denn Deutſchland feierte die Gedenktage an ſeinen großen
Cinigungskrieg, den es vor fünfundzwanzig JZahren gegen Frankreich
führte, und wir fühlten uns mit unſeren vierzchn Jahren allejamt als.
urdeutſhe Helderſöhne. „Wir“ hatten ja Anno 70 die Franzoſen
jämmerlich verhauen. Darauf waren wir ſo ſtolz, al8 hätten Wirklich
wir bei Weißenburg und Wörth die Turko8 aus den Hopfengärten ge-
jagt und bei Sedan den Kaiſer Napoleon gefangen genommen,
Unſer Schuldirektor gab ſich redliche Mühe, uns zu einer anderen
geſchichtlichen Auffaſſung des deutſc<-franzöſiſchen Krieges zu erziehen.
An jedem wichtigeren Gedenktage verſammelte ex un8 in der Aula, dem
Teſtraum des Gymnaſiums, um un3 geſchichtliche Vorträge zu halten.
Aber die Gelehrſ ſamfeit des guten Greiſes ließ die kampfeslüſterne
Jugend kalt. Sie verlängte nach Grlebtem, nicht nach Erleſenem. Wir
jebten de2halb unſerem Beichenlehrer, einem Veteranen : von 1870, ſo
lange zu, bis er uns in jeder Unterrichtsſtunde einen Abſchnitt ſeiner
Kriegserlebhniſſe erzählte. Wenn der Mann, Säbelnarben im Geſicht,
ZU Un5 ſprach, war keiner im Schulzimmer, der. nicht mit glühender Bes
geiſterung ihm zugehört hätte. Wir waren eben vierzehnjährige
Gymnaſiaſten. Die Schülerbücherei mit ihren illuſtrierten Kriegs-
geſchichten und mit ihren Grzählung5büchern von jungen Schlachten-
helden tat ein übrige2, uns alle mit kriegeriſchen Träumen zu erfüllen,
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Wie vi iele von unz mögen damals im ibren Phanta ien als ruhmbededte
Feldherren über blutige Schlachtfelder geſprengt ſein!
Ginſtweilen hatten wir freilich noch keine Franzoſen zu bekriegen.
Aber wir wußten Rat. Wir merkten, daß aud) die Volksſchüler von
mächtigen Krieg2gelüſten exfüllt waren, und bald fam e38 da und dort in
winkligen Gaſſen zu Vorpoſtengefechten zwiſchen „Gymnaſiſten“, wie
die Volksſ<hüler uns, und „Proleten“, wie wir die Voltfsſchüler nannten.
Veber den Urſprung des Wortes Proſlet als eigentlich einer Bezeichnung
für Beſitloſe war ſic< natürlic feiner von unz klar. Ebenſowenig
wußte einer von uns etwas von Klaſſenkämpfen zwiſchen Beſißende1
und Beſitzloſen, Wir hielten das „Prolet“ für ein böſes Schimpfwort,
das von alteröher die Gymnaſiaſten den Volksſchülern angehängt hätten.
Kleine Zuſammenſtöße zwiſchen „Gymnaſiſten“ und „Proleten“
batte es ſchon von jeher gegeben. In dem heißen Sommer von 1895.
wurde es aber unier dem Sinfluß der kriegeriſchen Gedenktage und der
KriegSerlebniſſe unſeres Zeichßenlehrer8 beſonders arg. Ein regelrechter
Kriegzzuſtand brach aus. Auf diplomatiſche Verhandlungen wurde
beiderſeit3 verzichtet, und an einem wunderſchönen Sonnabendnach-
mittag ſtanden wir uns auf einer Wieſe vor dem Tor in Schlachtlinie
gegenüber, Wohl hundert Mann auf jeder Seite. Mit furc<tbarem
Gebrüll ſtürzten ſich die Hecerhaufen aufeinander. E38 fam zu einer
Schlägerei, die gefährlicher ausfehen mochte, al3 ſie wirklich war, Denn
man ſchrie und fuchtelte mehr, als daß man ernſtlich zuſchlug. Schlimmer
ſchon war die „Seeſchlacht“, die zur gleichen Zeit ausgefochten wurde.
Ginige angehends Admirale hatten aus alten Balken ein wacliges Floß
gebaut, das jie kühn „Schlachtſchiff Wörth“ getauft hatten, Sie ver-
ſuchten nun auf dem beſcheidenen Fluſſe vergeblich, ihren Schlachtkreuzer
in die Nähe der tobenden Landſchlacht zu bringen. Etliche handfeſte
„Proleten“ waren in den nur knietiefen Fluß geſprungen und hatten
das ſtolze Kriegsfahrzeug mit der ganzen Beſatzung umgekippt und auf