Full text: Arbeiter-Jugend - 10.1918 (10)

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Arbeiter- Iugend 
 
 
Zunt Schluß nod einige Worte über die Frage der loſen oder 
geſ<loſſenen Organiſation. Welche Form die beſte iſt, wird ſich 
immer nach den örtlichen Verhältniſſen zu richten haben. Schreiber 
dieſer Zeilen hat viele Jahre an verſchiedenen Orten unter beiden 
Syſtemen gearbeitet, und e8 liegt im Allgemeinintereſſe, die ge- 
ſammelten Erfahrungen der Oeffentlichkeit zugänglich zu machen. 
Beide Formen haben etwas für ſich. Wo e3 die Verhältniſſe ge- 
ſtatten, iſt unter alſen Umſtänden auf eine Umwandelung in die 
feſte Organiſation hinzuarbeiten. Vorauſetzung iſt aber, daß die 
vom Rarteitag und Gewerkſchaft8kongreß beſchloſſenen Bedin- 
gungen für die Mitarbeit der Erwachſenen in der Jugendbewegung 
erfüllt werden. 
Der geſchloſſene Verein hat zweifello38 jür die Jugend eine 
ganz andere Werbekraft als die loſe Forn. Dieſe Frage läßt jich 
am beſten entſcheiden, wenn wir uns in das Scelenleben der Jugend 
hineindenken. Wir Aeiteren ſind auch einmal jung geweſen. Wor 
jeinerzeit Mitglied eines konfeſſionellen Jugendvereins gewoſon 
iſt, denn andere gab es damal3 nicht, wird ſich erinnern, wie ſtolz 
er auf „ſeinen“ Verein war, obgleich die Jugend darm nicht allzu“ 
viel zu jagen hatte. Um wieviel ſelbſtbewußter kann unſere Jugend 
ſcin, wenn ſie ſelbſt mithelfen kann, ihren Verein zu einer Mutſter- 
vrgamſation auszubauen. Die Jungen und Mädel3 arbeiten mun 
gaanz anderer Begeiſterung, als wenn ſie nur in loſer Form als 
Abonnenten der „Arbeiter-Jugend“ uſammenkommen. Schon der 
Name „Jugendbildungsverein“ oder „Verein der arbeitenden 
Jugend“ hat etwas Locendes für ſie. Ein geſchloſſener Verein, 
in dem ihr Wille ausſchlaggebend iſt, wird jich unter der Jugen? 
jederzeit größerer Sympathien erfreuen al38 irgend ein ander?3 
Gebilde. Das ſind zwar alles nur rein äußerliche Dinge, die für 
die Sake ſelbſt von untergeordneter Bedeutung ſind, mit denon 
wir aber rec<nen müſſen, wenn wir unſere Bewegung vorwärts 
bringen wollen. 
Mögen alfo dieſe, in jahrelanger Praxis erprobten Fingerzuge 
dazu beitragen, daß allorort3 eine in ſich gefeſtigte und gekräftigte 
Organiſation erſteht, die allen Stürmen und namentlich dem 
häufig 1o verhängnisvollen „Berſonenwechſel in der Leitung“ zu 
wäderſtehen wit der Lage iſg. Mit etwas gutem Willen und 
Vintan) itellung von V Vorurteilen und lieben Gewohnheiten wird da3 
ißberall möglich fein. Den Nußen wird nicht nur die Bewegung 
am Ort, onder al! H d ie Geſfamtbewegung haben. 
N Tronicke- 
Nan kann kein But in ſich hineintrinfen, ſondern der Organis- 
nus muß ſich das Blut ſelbſt aus den Nahrungsmitteln bereiten. -- 
Breinerhaven. 
Cbenſowenig tanmn man ſich im höchſten Sinne fremde Erfahrungen 
aneignen, ſondern man muß ſie ſelbſt machen. Fr. Hebbel, 
Der Schuß der jugendlichen Arbeiker 
nach den Berichfen der Gewerbeaufſichk. 
m die Ynnehaltung der Arbeiterſhußvorſchriften zu über- 
"wachen, ſind Gewerbeinſpektionen eingelckt, die 
inSbeſondere durc< Reviſionen der Betriebe ihrer Aufgabe 
gerecht werden ſollen. Sie ſind gehalten, alljährlich über ihre amt- 
liche Tätigkeit Bericht zu erſtatten. Dieſe Berichte galten immer 
als ein wichtiges Mittel der Kontrolle, dur die die Deffentlichkeit 
ſich über die Durchführung des Arbeiterſhuße3 vergewiſſern 
konnte. Während des Kriegs iſt bedauerlicherweiſe dic Voroffent- 
lichung der Berichte eingeſtellt worden, Auf Drängen des Neich3- 
tag38 hat ſich jeßt aber der preußiſche Paniſter für Handel und 
Gewerbe dazu verſtanden, einige Ueberſichten über die Beſchäfti- 
gung der Arbeiter in gewerblichen Betrieben und die Ueber- 
wachungstätigkeit der Gewerbeauffichtsbeamten herauszugeben. 
Beomerkenswert an dieſer Veröffentlichung it zunächſt die 
Zunahme der jugendlichen Arbeiter, worunter das Geſc Rer- 
jonen zwiſchen 14 und 16 Jahren verſteht. Die Zahl dieſer jugend- 
lichen Arbeiter vermehrte ſich in Preußen in den "Zabrifen“ (das 
jind die Betriebe mit zehn und mehr Arbeitern) und den dieſen 
alcichgeſtellten Betrieben von 274 378 im Jahr 1912 auf 280 148 
im Jahr 1913 und 827 904 im Jahr 1917. Die Zunahme erſtre>t 
jich auf beide Geſchlechter gleihmäßig. Die männlichen jugend- 
lichen Arbeiter vermehrten ſich von 190 799 im Jahr 1913 auf 
2995 907 im Jahr 1917, die weiblichen von 89 349 auf 101997. Die 
Zahl der in den Fabriken tätigen Kinder unter 14 Jahren, die nur 
unter beſtimmten Beſchränkungen beſchäftigt werden dürfen, ver- 
ehrte ſich von 8584 im Jahr 1913 auf 6012 im Jahr 1917. Hier 
vermehrte jich beſonders die Zahl der Knaben, und zwar von 2405 
auf 4: 53, während die Zahl der Mädc<hen nur von 1179 auf 1459 
anwuchs. Beſonders jtark iſt die Zunahme der be) <häftigten jungen 
Laute und Kinder im Bergbau, wo jich ihre Zahl von 1383 im 
Jahr 1913 auf 3925 im Jahr 1917 vermehrte, ferner in den An- 
lagen der Großinduſtrie, wo ſie von 7988 auf 21 406 anwuchs, in 
der Induſtrie der Maſchinen und Inſtrumente, wo ſie ſich von 
48 917 auf 88 929 erhöhte ujw. Die Zahl der Fabriken, in denen 
jugendliche Arbeiter überhaupt beſchäftigt werden, verminderte ſich 
von 60 814 im Jahr 1918 auf 47 412 im Jahr 1917. Dieſe auf- 
fällige Abnahme iſt darauf zurü&zuführen, daß viele Betriebe 
wegen der damit verbundenen „Scherereien“ jugendliche Arbeiter 
überhaupt nicht mehr beſchäftigten, daß aber die anderen Fabriken, 
die ſich darauf eingerichtet haben, deren Einſtellung um ſo au8- 
gedehnter geſtalteten. BVorzngsweije jind es die großen Betriebe, 
die die Beſchäftigung jugendlicher Arbeiter mit Hochdruc> betreiben. 
Die Goſamtzahl der Fabrifreviſionen hat abgenommen, und 
zwar von 177 432 im Jahr 1913 auf 129 464 im Jahr 1917. D 
iſt auf die Verminderung der Zahl der Gewerbeaufſichtsbeamten 
um rund ein Viertel und auf ihre Belaſtung mit ſonſtigen Auf- 
gaben zurüczuführen, die außerhalb ihres eigentlichen Arbeits3- 
gebietes liegen. Eine beſondere Abnahme hat die Beſichtigung 
 
 
 
Siegesfeiern. 
as Zahr 1895 war für uns höhere Schüler einer kleinen deutſchen 
Reſidenzſtadt ein rechtes Jubeljahr. Mit dem achtzigſten Ge- 
burtstag des Altreichsfanzlerxr3 Bismar> am 1, April begannen 
die Feiern und Feſte und ſetzten ſich bis zum 2, „September, dem Jahre3= 
tag der Schlacht bei Sedan, fort, Da3 waren Zeiten! Immer wieder 
gab es Fackelzüge, Freudenfeuer, Militärmuſik, Bratwürſte, Freibier, 
Sdchülertanzen und vor allem ſchulfreige Tage, immer wieder ſchulfreie 
Tage! Denn Deutſchland feierte die Gedenktage an ſeinen großen 
Cinigungskrieg, den es vor fünfundzwanzig JZahren gegen Frankreich 
führte, und wir fühlten uns mit unſeren vierzchn Jahren allejamt als. 
urdeutſhe Helderſöhne. „Wir“ hatten ja Anno 70 die Franzoſen 
jämmerlich verhauen. Darauf waren wir ſo ſtolz, al8 hätten Wirklich 
wir bei Weißenburg und Wörth die Turko8 aus den Hopfengärten ge- 
jagt und bei Sedan den Kaiſer Napoleon gefangen genommen, 
Unſer Schuldirektor gab ſich redliche Mühe, uns zu einer anderen 
geſchichtlichen Auffaſſung des deutſc<-franzöſiſchen Krieges zu erziehen. 
An jedem wichtigeren Gedenktage verſammelte ex un8 in der Aula, dem 
Teſtraum des Gymnaſiums, um un3 geſchichtliche Vorträge zu halten. 
Aber die Gelehrſ ſamfeit des guten Greiſes ließ die kampfeslüſterne 
Jugend kalt. Sie verlängte nach Grlebtem, nicht nach Erleſenem. Wir 
jebten de2halb unſerem Beichenlehrer, einem Veteranen : von 1870, ſo 
lange zu, bis er uns in jeder Unterrichtsſtunde einen Abſchnitt ſeiner 
Kriegserlebhniſſe erzählte. Wenn der Mann, Säbelnarben im Geſicht, 
ZU Un5 ſprach, war keiner im Schulzimmer, der. nicht mit glühender Bes 
geiſterung ihm zugehört hätte. Wir waren eben vierzehnjährige 
Gymnaſiaſten. Die Schülerbücherei mit ihren illuſtrierten Kriegs- 
geſchichten und mit ihren Grzählung5büchern von jungen Schlachten- 
helden tat ein übrige2, uns alle mit kriegeriſchen Träumen zu erfüllen, 
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Wie vi iele von unz mögen damals im ibren Phanta ien als ruhmbededte 
Feldherren über blutige Schlachtfelder geſprengt ſein! 
Ginſtweilen hatten wir freilich noch keine Franzoſen zu bekriegen. 
Aber wir wußten Rat. Wir merkten, daß aud) die Volksſchüler von 
mächtigen Krieg2gelüſten exfüllt waren, und bald fam e38 da und dort in 
winkligen Gaſſen zu Vorpoſtengefechten zwiſchen „Gymnaſiſten“, wie 
die Volksſ<hüler uns, und „Proleten“, wie wir die Voltfsſchüler nannten. 
Veber den Urſprung des Wortes Proſlet als eigentlich einer Bezeichnung 
für Beſitloſe war ſic< natürlic feiner von unz klar. Ebenſowenig 
wußte einer von uns etwas von Klaſſenkämpfen zwiſchen Beſißende1 
und Beſitzloſen, Wir hielten das „Prolet“ für ein böſes Schimpfwort, 
das von alteröher die Gymnaſiaſten den Volksſchülern angehängt hätten. 
Kleine Zuſammenſtöße zwiſchen „Gymnaſiſten“ und „Proleten“ 
batte es ſchon von jeher gegeben. In dem heißen Sommer von 1895. 
wurde es aber unier dem Sinfluß der kriegeriſchen Gedenktage und der 
KriegSerlebniſſe unſeres Zeichßenlehrer8 beſonders arg. Ein regelrechter 
Kriegzzuſtand brach aus. Auf diplomatiſche Verhandlungen wurde 
beiderſeit3 verzichtet, und an einem wunderſchönen Sonnabendnach- 
mittag ſtanden wir uns auf einer Wieſe vor dem Tor in Schlachtlinie 
gegenüber, Wohl hundert Mann auf jeder Seite. Mit furc<tbarem 
Gebrüll ſtürzten ſich die Hecerhaufen aufeinander. E38 fam zu einer 
Schlägerei, die gefährlicher ausfehen mochte, al3 ſie wirklich war, Denn 
man ſchrie und fuchtelte mehr, als daß man ernſtlich zuſchlug. Schlimmer 
ſchon war die „Seeſchlacht“, die zur gleichen Zeit ausgefochten wurde. 
Ginige angehends Admirale hatten aus alten Balken ein wacliges Floß 
gebaut, das jie kühn „Schlachtſchiff Wörth“ getauft hatten, Sie ver- 
ſuchten nun auf dem beſcheidenen Fluſſe vergeblich, ihren Schlachtkreuzer 
in die Nähe der tobenden Landſchlacht zu bringen. Etliche handfeſte 
„Proleten“ waren in den nur knietiefen Fluß geſprungen und hatten 
das ſtolze Kriegsfahrzeug mit der ganzen Beſatzung umgekippt und auf
	        
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