Full text: Arbeiter-Jugend - 10.1918 (10)

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ſtehen. Die alte Bewegung -- alt, ſo wenig Jahre ſie bis zum 
Kriog3ausbruch zählte -- gehört endgültig der Geſchichte an. Sie 
war weſentlich auf Kritik und Kampf geſtellt. Wider alle Büttel 
de3 Gewaltſtaat3 hatten wir uns zu behaupten, gegen eine Welt 
von Feinden uns unſerer Haut zu wehren. Die neue -Bewegung 
wird im Zeichen der Arbeit ſtehen. E3 gilt, das junge Geſchlecht 
auszurüſten, daß e8 der neuen Geſellſchaft die Bürger ſtellt, die 
ihrer würdig ſind. Auch in der alten Bewegung hatten wir an 
uns gearbeitet, aber e3 geſchah im aller Seimlichkeit, in den Winkeln 
und Verſtecken, in die man uns trieb, und ſozuſagen in den Pauſen 
nur, wenn wir im Kampf um die nate Exiſtenz Atem ſchöpften. 
Und zu Gebot ſtanden uns bloß die ärmlichen Mittel, die das 
Aſchenbrödel der Geſeklſchaft, das Proletariat, ſich für die Sache 
feines Jungvolk8 am Mund abdarbte. Künftig werden wir im 
vollen Tageslicht arbeiten können. Und auch wir, die Jugend 
des Proletariat3 =- bald wird e8 heißen des einſtigen Proletartats 
--- werden unſer Erſtgeburt3rec<ht in Anſpruch nehmen, der Jugend 
ewiges Recht auf Sonne und Glü> und Erkenntnis. 
Und wir dürfen e3 nehmen, dürfen in vollen Zügen die 
Quft der Freiheit atmen, dürfen an allen Bornen der Kunſt und 
- des Wiſſen3 ſchöpfen, denn hinter uns ſteht mit jeinen reichen 
Händen das neue Volk, das endlic< für ſein gejamtes heran- 
wachſendes Geſchlecht wahrmachen wird, was ehedem bloß für die 
Sprößlinge der beſigenden Schichten galt: für unſere Jugend iſt 
un3 da3 Beſte gerade gut genug. 
Darum die Herzen hoch, Kameraden, e8 weht Morgenluft: 
Zu neuen Ufern lo>t der neue Tag! 
WB 
Demokratie und Sozialismus. 
„ie ein ungeheure3 Beben erſchüttert die Weltrevolution die 
Menſchheit. Tauſend feurige Zungen kommen über ſie; 
orkanartig brauſt es unter ihnen, in ihnen, über ſie hinweg. 
Dem ruhigſten, nüchternſten, verſtandesklarſten ſo gut wie dem 
fanatiſchſten, bis zum lezten Moment mithandelnden Kämpfer war 
'e8 eine kurze Spanne, als ob. alles Bewußtſein ſc<hwände, als ob 
man ſich duefen müßte unter der elementaren Wucht einer Ent- 
faltung, die aus allertiefſten Tiefen des Leben3 ſelbſt quoll, ſich 
duden müßte unter Naturweſen, dem Urinſtinkt eines LebenZ- 
gefühl3 und Wollen8, da8 aus jahrhundertelanger dumpfer Ent- 
wicklung herau8 auf einmal mit gigantiſch ſpielender Kraft alle 
Hüllen zerſprengte und in das Licht ſtieg. 
In ſolcher Zeit ſteht wie von ſelbſt, aus NRaturtrieb, jung 
und alt noch näher al8 ſonſt zufammen, und ein -erſchütternde3 
„Endlich, endlich!“ löſt ſich von den Lippen, von den Lippen aller 
Proletarier, aller Entrechteten. Eine Stimmung ergreift ſie, die 
ſo unendlich verſchieden iſt von jener rauſcherzeugten und ſchnell 
verflogenen etwa des erſten Kriegstaumels =- eine Begeiſterung 
- aber Sklaverei und politiſche Ungleichheit der Bevölkerung. 
Arbeiter-JIugend 
und Opferkraft, die aus dem Innerſten glüht, bei aller Erregtheit 
Glü> und Ruhe atmet, deren Kraft nicht raſch zerfällt, ſondern 
mit dem Widerſtande ſich verdoppelt. 
Aber im Wirbeln und Zerflattern geiprungener Hüllen heißt 
e3 mehr als je: klar fehen. Klar ſehen über die Zukunft de3 
Soziali3mus3 Wir haben noh keine ſozialiſtiſche 'Republ'ik, 
nur eine Republik, an deren Spike Sozialiſten ſtehen. Sie wollen 
den foztaliſttichen Staat begründen auf dem Wege über die Demo- 
ratie. 
: Wa38 heißt Demokratie? Wilſon nennt ſich Demokrat. 
Amerika, England, Frankreich wollen demokratiſche Staaten ſein 
und verlangen, daß Deutſchland es wird. Wollen wir .nun die 
gleichen Verfaſſungen und Einrichtungen haben wie diefe Länder? 
Demokratie iſt vieldeutig wie alle Worte, die mit dem Geiſt 
von Jahrhunderten belaſtet ſind. E3 bedeutet urſprünglich Volk3- 
herrſchaft. Regiert in jenen Großſtaaten das Volk? Wir blicken 
zurük. Das alte Griechenland kannte die Demokratte, hatte jo- 
genannte demokratiſche Stadtſtaaten. Dieſe Demokratien hatten 
att 
der römiſchen Republik kam es zu jahrhundertelangen Kämpfen 
zwiſchen beſitenden und beſikßloſen Klaſſen, zwiſchen Patriziern und 
Plebejern um da3 demokratiſche Prinzip, um die Forderung, daß 
alle Klaſſen und Stände de3 Volke38 in gleichberecht:ater Weiſe in 
der Volksverſammlung zu entſcheiden hätten. Von. emer vollen 
Durchſetzung dieſer Forderung kann keine Rede jein, wenn au 
Schritt für Schritt Boden von den Plebejern gewonnen wurde. 
Berm Durchfliegen der deutſchen Geſchichte wird man ſehr bald 
erkennen, daß bei aller Verſchiedenheit wechſelnder Verfaſſung3- 
formen do< in keiner Weiſe von Demokratie, von jozialer 
Gleichberechtigung jener Bevölberungsſchichten geſprochen werder. 
kann, die doch den weitaus größten Teil des Volkes aus8machten. 
Das Blut der Bauernkriege ſtrömte neben dieſem Wege. Erſt in 
der Franzöſiſchen Nevolution kam mit dem blutigen, erbarmungs- 
loſen Ernſt von Naturgewalten ein Durchbruch der alten Klaſſen- 
gliederung .der Maſſen, ein Sturz aller geſellichaftlich-ſtändiſchen 
Vorrechte und die Forderung nach wirklicher Demokratie, nac) 
Freiheit und Gleichheit. 
„Wir wiſſen, daß dieſe Formen kapitaliſtiſcher Freiheit und 
Gleichheit dem Proletariat die furchtbaren Ketten geſchmiedet 
haben, die e8 heute nach unausdenkbarem Elend in furchtbaren 
Zukungen zerbrechen wird. Aber es darf auch nicht verkannt 
werden, daß ſeit der Franzöſiſchen Revolution =- beſonders vom 
bürgerlichen Standpunkt aus =- eine Reihe demokratiſcher Forde- 
rungen durchgeſekt wurden, Forderungen, die die Macht langſam 
der Hand einer kleinen Clique entwanden. Solche demokratiſchen 
Errungenſ<aften beſtanden 3. B. in der Machteinſchränkung der 
Herrfcher. Zur JlUuſtration mag der junge Lejer an die heutigen 
Schwurgerichte denken und an jenen Friedrich Wilhelm T., den 
Vater des alten Friß, der ohne jedes Gericht ſelbſtändig wegen 
Diebſtahl38 eine3 Taler3 eine Dienſtmagd hinrichten ließ. =- Recht- 
ſprechung und Verwaltung wurden moderniſiert. Es war wenig- 
ſtens die Möglichkeit, daß größere Volk8maſſen ihre Stimme zu 
Gehör bringen bonnten. Ein, wenn noc< ſo erbärmliches 'Wahl- 
 
 
 
Unſer Lehrgeſelle Ladislaus. 
Lon Theodor Thomas3. 
enn ich an Labislaus denke, muß ich heut noch lachen. Genau 
ſo wie an jenem Tage, an dem ich ihm zum erſtenmal ſah. Es 
war morgen2 vor der Werkſtatt. Wir ſtanden am Tor, das 
noch geſchloſſen war, als er auf un3 zukam. Gim himmellanger Menſch, 
- trug er oben, wie eine Glühbirne, den läcßerlich keinen. Kopf. Wa 
. gwiſchen der „Glühbirne“ und den Lattenſtüdern, die ſeine Beine dar- 
ſtellten, noch zu fehen war, nahm ſich merkwürdig genug aus. Etwa als 
ob eine Straßenwalze über ihn gefommen wäre und ſein Mittelſtük wie 
- Nudelteig in die Länge getrieben hätte. Kamm, Seife und Bürſte 
ſchienen ihm fremde Begriffe. Wie ich ſpäter erfuhr, war ſem Wahl- 
ſpruch: „Waſchen tu ich mich felten, aber kämmen alle acht Tage.“ 
Dabei hatte er eine Stimme, die klang, al8 wenn jemand mit einer 
Raſpel über Schuhnägel fährt. Und um iden lczten Reſt von Schönheit 
wegzuwiſchen, den ihm Mutter Natur etwa noch um die Wiege mitge- 
geben hatte, trug er Narben im Geſicht, al8 ob er mit den vorderen 
Backen auf einem Rohrſtuhl geſefſen hätte. 
Wer wird ſich wundern, daß ich lachte, vechtſchaffen lachte, al3 dieſer 
Mann auf mich zukam, 
Er hieß Ladislaus Waßlek und ſtammte aus dem Böhmiſchen, Dieſe 
„Böhmaken“, wie ſie ſich ſelbſt nannten, kamen immer Montags früh 
au3 ihrer Heimat angezogen, fümmerten ſich weder um Gott, noch un 
die Welb und fragten den Teufel danach, wie ſich die Ginheimiſchen 
quälten, um vernünftige Arbeit3verhältniſſe zu ſchaffen. Eſſen und 
Trinken brachten ſie mit. Samstags kaſſierten ſie ihre 21 Mark, gaben 
davon. 1,50 Mark Schlafgeld an ihre Wirts8frau ab und nahmen den 
Hauptteil: dev Summe mit hinüber über die böhmiſche Grenze, Wegen 
 
ibrerx Arb, rücſichtslo8 nur das eigene Seelewheil zu verfolgen, waren 
ſie zu jener Zeit ehrlich gebaßt. Ladislaus verdiente dieſen Zorn ganz 
beſonder3, weil er ein abſchrefendes Beiſpiel dafür war, wie Arbeiter 
nicht ſein ſollen, 
Wie e3 kam, weiß ich ſelbſt nicht, aber er hatte noch kein Wort zü 
» mir geſagt, da waren wir ſchon Feinde, Ex fühlte e3 im gleichen Maße 
wie ich, deſſen bin ich ſicher. - Später wurde er min) noch mehr verleidet, 
durch ſeine Ohrfeigen. Das waren Keulenſchläge. Wer von ihm welche 
befam, batte noch nach Tagen ein Klingew 1m Gehör, als würden ſämts=- 
liche Gloden in .der Umgegend geläutet. J< befam die meiſten und 
nicht die zarteſten. Es ärgerte ihn, daß ich nicht ſo dumm war, wie es 
in ſeine Pläne paßte. Manchen unverdienten Bacenſtreich habe ich ledig- 
lich de2halb von ihm befommen, weil ich nach ſeiner Meinung frech war. 
Als Arbeiter genoß er keinen guten Ruf. In ſeinem böhmiſchen 
Dorf war er eigentlich Meiſter. Ex kam 1ummer nur zu uns, wenn. er 
dort nicht3 zu meiſtrieren hatte. Am liebſten war ihm fertige Arbeit 
und Schlafen. Nur wenn er Akkord bekommen konnte, ſchufiete er wie 
ein wilde3 Tier, aß nicht, ſah faum 'von ider Arbeit auf. Die Pauſen 
waren ihm ein Greuel. Wenn wir Lehrbuben txoßdem unſere halbe 
Stunde einhielten, warf er uns Augen zu wie Scheinwerfer; wenn 
Blicke töten könnten, wäre er bei ſolchen Gelegenheiten zum Mörder 
geworden. War er ſo in Wut, klang jedes Wort wie Ausſpucken. -An=- 
der3 war Ladislaus, wenn er im Tagelchn arbeitete; dann konnte er, 
während wir Jungen für ihn mitſchuften mußten, liegen und ſchnar» 
<hen, al8 ob ein Dampfaufzug m der Nähe fauchte. | 
Fam der Meiſter und wir weckten ihn nicht rechtzeitig, gabs Keile. 
Für das Wecken hatte er un3 ein ganz beitimmtes Signal beigebracht. 
Störte der Meiſter feinen Schlaf, ſo mußten wir ihn derb ſchütteln und 
rufen: „Ladislaus, wieviel Zoll ſoll das Breit lang ſeim?“ Kam ein
	        
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