Full text: Arbeiter-Jugend - 10.1918 (10)

 
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recht brachte die Maſſen langſam in Fühlung mit der ſonſt wie in | 
dumpfes Schi>ſal über ihnen ſchwebenden Staat8maſ<hine. Den 
'Uebergriffen und dem brutalen Zwang von Kirche und Junfertum 
Xkonnten neue und immer ſtärkere Dämme entgegengeſtellt werden. 
Da3 Militärweſen bekam etwa38 humanere Form; die Steuervor- 
rechte zerbröelten eins nach dem andern. Gegen polizeiliche Be- 
vormundung und Bureaukratentum wurde Sturm gelaufen. Die 
Schulen waren nicht mehr reine Standeseinrichtungen. Die Preſſe 
erzwang ſich mit immer neuen Märtyrern mehr und mehr ihr 
Rocht auf freie8 Wort. Unter dauernden, erbitterten Widerſtänden 
kämpfte man um Verſammlungs- und Koalitions8freiheit. Kurz, 
alle jene Forderungen, die man demokratiſche nannte, begannen 
- Wurzel zu ſchlagen und in dem Bewußtſein der Maſſen zu Forde- 
rungen von zwingender Notwendigkeit zu werden. 
Wenn jetzt Deutſchland auf dem Wege zur Durchſetzung der 
Demokratie iſt, muß +3 ſelbſtverſtändlich auf die umliegenden 
“ Großmächte der Demokratie ſehen. Jſt dort wirklich Demokratie? 
„Iſt dort ein Leben, in dem die Intereſſen aller Klaſſen und Beruf3- 
ſtände, in dem alle Beſtrebungen und Individualitäten ihrer Größe 
und Stärbe nac zur Geltung kommen? Db in Amerika, deſſen 
halber Nativnalreichtum in der Hand von wenigen Milliardären 
iſt, wirklich alle3 ſo iſt, wie e8 das Volk will? Jſt dort nicht 
noch ein wunderliches Chaos millionenfach durcheinanderwogender 
Widerſprüche, bei dem keine3weg38 immer das, was getan wird, 
als wahrer. Au8druc> eines ganzen Volkes gelten kann, das in Fre1- 
heit ſich entſcheidet? Jſt die Preſſe unabhängig? Und Wiljon3 
Stellung ſelbſt -- iſt die wirklich demokratiſc<7? Niemand kann 
das bejahen, am wenigſten der Sozialiſt, der genau weiß, an welche 
faſt hoffnungslo8 ſtarke Mauern dort ſeine Brüder anrennen 
müſſen. Das gleiche gilt für England. Gewiß iſt das engliſche 
Volk frei von einer Menge kleinlicher, ſpezifiſch deutſch-bureaukra- 
tiſcher Schikanen. Aber ſehen wir die engliſch-nationale Beſchränfkt- 
heit, die unter Freiheit eigentlich immer die abſolut unſtürzbare 
Weltmachtſtellung der engliſchen Nation verſtand bis weit in die 
Reihen des Protetariats ſelbſt, ſehen wir die noch in den Anfängen 
internationalen märviſtiſchen Denkens ſteckenden engliſche Arbeiter- 
parteien, ſehen wir die Machtſtellung des engliſchen Promer- 
miniſters uſw., ſo werden wir von einer Vollendung der Demokratie 
gewiß: nicht ſprechen können, geſchweige von SoztaliSmus. Ueber 
die franzöſiſchen Zuſtände: mag man ſich in den großen Romanen 
Romain- Rollands orientieren, der ausführliche Zeitbilder auf- 
rollt. Aber wir wiſſen auch ſo, daß franzöſiſche Preſſe, franzöſiſche 
Kammer, franzöſiſches Kleinbürgertum kein erhebendes Bild einer 
ſiegreichen Demokratie ſind, die Freiheit und Gleichheit in jeder 
Form zum Siege kommen läßt. 
Jeder jugendliche Leſer wird heute in den TageSzeitungen 
letfen, was die augenblickliche ſozialiſtiſche Regierung für Geſete 
und Programme verfündet, demokratiſche, ic brauche das hier 
nicht: anzuführen. Er wird auch jehen, welch unglaublicher Wuſt 
aus dem Wege geräumt werden muß, um nur dem Wäichtiaſten, 
Allererſten den Weg zu bahnen. Freilich wird er ſofort merken, 
daß der SozialiSmus als Ziel weit darüber hinausgeht. Das 
eigentlich ſozialiſtiſche Programm beginnt erſt mit dem Wort der 
neuen Regierung: „Vergefellſchaftung“. Hier iſt der Anfang eine38 
noc unendlich mühevollen Weges. Vergeſellſchaftung aller Pro- 
duftionsmittel! Erjt damit wird eine rcſtloje Auflöſung der jetzigen 
Klaſſen erfolgen und eine Vereinheitlichung des Geſamtwollen3. 
Noch find wir erſt in den allererſten Anfängen zur Schaffung 
der: Grundlagen einer Demokrat:e, einer wirklichen Herrſchaft des 
Volkes, in dem jede8 Glied das Bewußtjein hat, daß dem Maß 
ſeiner Bedeutung das Maß des Durchſezen3 entſpricht. Vorläufig 
ſind nur die Vorrechte feudal geſinnter Herrenhäusler geſtürzt, die 
Throne der GotteSgnadenmänner geſtürzt, noh iſt an das Bewußt- 
ſein der bürgerlichen Klaſſe nur leiſe geklopft. Wir Sozialiſten, 
und die Jugend mit, ſtehen vor gewaltgſten Aufgaben. Mehr als 
je gilt es: Immer volle Klarheit, entſchloſſene Schritte, aber zurüc 
von Phraſen und Schlagworten, die nur hypnotiſieren! -- 
& Kuril SYhröder. 
Treue den vielen! 
Das Alte iſt vergangen, - 
Und es iſt alles neu geworden. 
Die Schönheit, auf Unrecht aufgebaut, iſt keine Sdcyönheit'! 
Es iſt ein häßlicher Fle>en an ihr, 
Der ſie zugrunde richtet. 
Darum iſt die Sd "nheit Griechenlands untergegangen, 
Denn ſie war gebaut auf Sklaverei. 
Die Schönheit, die wir aufrichten wollen. 
Soll gebaut ſein auf Menſchenliebe, 
Und darum wird ſie leben bleiben. 
Viele ſollen nicht treu ſein einem, 
Aber einer ſoll treu ſein vielen. 
Viele ſollen nicht dankbar ſein einem, 
Aber einer ſoll dankbar ſein vielen. 
Jeder, der gequält iſt, 
Soll auf ſeine gequälten Brüder ſehen, 
Daß er ihnen helfe, 
So wird einer treu ſein vielen, 
Jeder, der minder gequält iſt, 
Soll auf ſeine Brüder ſehen, die mehr gequält ſind 
So wird einer dankbar ſein vielen. 
Alles, was den Menſchen niedrig macht, 
Iſt in der Treue gegen einen; 
Alles, was den Merſchen hoch erhebt, 
Iſt in der Treue gegen viele. 
Wer vielen treu iſt, 
Der muß frei werden; 
Wer einem treu iſt, der muß ein Sklave ſein, 
Und er wird es bleiben. L Jacoby. 
 
 
 
 
 
andever Menſch in die Nähe, riefen wir: „LadiSlau3, das Brett iſt zu 
kurz.“ Dann ſprang er auf, rieb ſich den Schlaf aus den Augen und 
tat, als wenn er: gerade von irgendwoher käme und ein Stü> Werkzeug 
geſucht hätte. D, er verſtand das Handwerk aus dem ff! 
'Stet3 wußte er uns in Angſt zu halten, dafür ſorgten ſchon: ſeine 
Hände. Er hatte nämkich zwei ſolche Gliedmaßen aus den Aermeln 
heraushängen, bveit wie Kalkſchaufeln. Schlagen konnte er damit, als 
- ſeien es Dreſchflegel. 39 mußte dieſe Hände immer mit dem kleinen 
Kopf vergleichen, den ev in ſeine klobigen Floſſen nehmen konnte wie 
einen: Apfel. Seine Greifwerkzeuge waren denn auch bei uns ſehr ge- 
fürchtet: Einmal hatte ex mich wegen umpünktlichen Wec>ens ſo ver- 
drofehen, daß ich in gewiſſen Körperteilen wochenlang ohne Empfindung 
wav... Seitdem rief er mich nicht ander3 als „Halunke“, während ich 
ihn ſtatt Ladislau's „Laß die Laus" nannte. 
Dergeſtalt waren unſere menſchlichen Bezrehungen. Bei den Übri- 
gen Gehilfen war er wegen ſeiner Faulheit verhaßt. Auch ſeine Un- 
follegialität wurmte die gange Werkſtatt, denn e€3 war ihm ein Haupt- 
vergnügen, den Angeber zu ſpielen, Der Meiſter hielt anfang3 zu ihm; 
eine Organiſation, die einem ſolchen Schädling das Handwerk gelegt 
hätte, gab e8 damals noch nicht. 
'Beſonder3 unſer Altgoſelle Auguſt Ober war ihm nicht grün. Er 
hätte ihn. gewiß wegen ſeiner Heimtücke manchmal gern vervdroſchen, traute 
ſich aber nicht am ihn heran, weil der „Alte“ den Spaßenkopf iaunmer be- 
vorzugte. Dagegen machten die anderen Geſellen uns Lehvbuben ſcharf. 
Wir ſollten idem „faulen Hund“ doch nicht noch helfen, ſondern ihn ein- 
fach „verſaden“ laſſen. | 
„So einen falſchen Bruder darf man nicht noch in Schuß nehmen. 
Das iſt ein? unrec<te Handlung," ſagte der Altgeſelle einſtens zu mix. 
 
„Aber e3 iſt do&; unſer Lehrgeſelle," wagte ich verſchmißt einzu- 
wenden, „dem ſind wir doch Gehorſam ſchuldig.“ 
„Ganz vec<t, wenn er ſich al8 Menſch und Kollege zeigt. Aber Guch 
ausnüßen und dann noFh die and.ren „Mitarbeiter verfaufen, da hört 
do4) jeder Reſpekt auf.“ 
Den zarten Wink verſtanden wir natürlich gut und LTicßen es8 unz 
nicht zweimal ſagen. Ladislaus aber ſchien etwas gemerkt zu haben, Er 
grinſte uns an dieſem Morgen beſonders ſchäbig an; ſeine Augen ſchil- 
lerten ordentlich grün, als er uns mitnahm. 
„Ihr miſt'ge Brut könnt heute was erleben,“ ſchimpfte er ſchon 
früh in der Werkſtatt, al8 wir wieder mit ihm lo8ziehen mußten. „Euch 
Werd ich den Schleifſtein drehen, ihr Luder!“ 
Es war ein Montag; tags zuvor war ex in ſeiner Heimat geweſen. 
An ſolchen Tagen kam er immer körperlich vollſtändig gebrochen, mit 
Alkohol bis zum Rand gefüllt, zurü>k. Da war er oft zwei Tage lang 
nicht zu gebrauchem. 
Wir fameon alſo auf den Bau. Solange der Lehrherr zugegen war, 
1eß er ſich nicht3 merken. Kaum aber war er allein mit uns auf wei- 
ter Flur, da hieß e35: „Wenn der Olle kommt, we>t Jhr mich!“ AlsSbald 
legte er ſich in einen Winkel, um ſeimen heimatlichen Rauſch aus8zu- 
ſchlafen. Wir zwei Buben hämmerten luſt:g drauf lo8, während LadiZs- 
laus von ſeinen böhmiſchen Wäidern träumte. Wir hatten auch de3- 
halb einen tiefen Gvimm gegen ihn im H.rzen, weil cx inimer Schinken 
und Spe> mit aus ſeiner Heimat brachte, un8 be.de: aber nicht einmal 
daran riechen ließ, obgleich er wußte, daß wir ſolche 8 Dinge nur ſelten 
ZU ſc<hmeden befamen. -- 
„Du,“ ſagte ich zu meinem Lehrkollegen, „heute laſſcn wir die Laus 
reinſauſen. Heute wird ſie nicht gewe>t, wenn der Olle kommt,“ 
(Scinß folgt.)
	        
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