Full text: Arbeiter-Jugend - 10.1918 (10)

Arbeiter- Jugend 
 
und un3 grimdlich für dieſe gewaltige Aufgabe ſchulen zu können, 
- mußten wir uns durc mehr als vier furchtbare Jahre hindurch in 
beiſpielloſer Art ſ<wächen und ausbluten, uns wirtſchaftlich um 
Jahrzehnte zurückwerfen laſſen. | 
- Sugendlichem Begeiſterungsbedürfni38 mag all dies nicht an- 
genehm in den Ohren klingen. Der geſchulte Jugendgenoſſe aber 
weiß, daß an der Schwelle alles erfolgreichen Beginnens die Erkennt- 
ni8 deſſen ſteht, wa 3 iſt. Das Erfurter Programm der deutichen 
Sozialdemokratie ſagt: „Die Arbeiterklaſſe kann den Uebergang der 
- Produktionsmittel in den Beſitz der Geſamtheit nicht bewirken, ohne 
in den Beſitz der politiſchen Macht gekommen zu ſein.“ Im gegen- 
wärtiaen Augenblick hat die dontſche Arbeiterklaſſe die politiſche Macht 
in Händen. Iſt dieſe Macht aber auch ausreichend befeſtigt? Jſt das 
deutſche Voll in ſeiner wahlberechtigten Mehrheit genügend politiſch 
vorgebildet, um von dieſer Macht vernunftgemäßen Gebrauch zu 
machen? Wird da8 Volk in ſeiner Mehrheit den erprobten Führern 
der vergangenen Kampfjahre folgen, oder wird es ſich weiter von 
den Lok>tönen derer täuſchen laſſen, die e8 in das Verderben dieſer 
Kriegsjahre getrieben haben, nun e8 aber für angebracht halten, ſich 
den Anſchein freiheit3- und volk3freundlicher Parteien zu. geben? 
Das ſind alles Fragen, die uns deutlich darauf hinweiſen, daß das 
Werk der großen Umwälzung zwar verheißung3voll begann, aber 
no< lange nicht zum glücklichen Ende geführt iſt. 
Auch für. unſere Jugendbewegung darf man, ohne zu über- 
treiben, behaupten, daß ihre Arbeit für die Folgezeit unendlich be- 
deutung3voller geworden, als ſie jemals vorher geweſen ift. Schon 
allein die Tatſache, daß das Alter der Wahlberechtigung um fünf 
ahre berabgeſezt worden iſt, daß künftig alle Zwanzigjährigen 
wählen können, gibt der Tätigkeit der Jugendorganiſation eine 
Bedeutung für da3 politiſche Leben, die gar nicht hoch genug be- 
wertet werden kann. Fünf Jahre ſtaatsbürgerlicher Auklärung und 
Schulung, die vordem der politiſchen Partei oblagen, fallen nun zu 
einem erheblichen Teil uns zu. Dix weibliche Jugendpropaganda 
aber iſt angeſicht3 des Frauenwahlrebts auf vine vollig neue 
Grundlage geftellt. 
Wir alle ſind plößlich um fünf Jahre älter geworden; die 
Arbeit dicſes Jahrfünft3 jedoch iſt ungetan, licat noc) unerledigt 
vor uns. Aber nicht nur ſie haben wir nachzuholen: viel mehr als 
biSher bedarf die Arbeiterbewegung unſerer praktiſchen Mitarbeit. 
Die neue Zeit der Selbſtbeſtimmung und Selbſtverwaltung des 
deutſchen Volkes ſchreit geradezu nach der Mithilfe ungezählber 
Kräfte und Köpfe. Das deutſche Proletariat ſteht vor dem Tor 
des ſozialiſtiſchen. Volksſtaat3; ſeiner Kulturarbeit werden ſich 
Hunderttauſende paſſiv ſowohl wie tätig hindernd im den Weg 
ſtellen, weil ſie an der Erhaltung de8 Beſtehenden und der Wieder- 
eroberung des Geweſenen intereſſiert ſind. Und wer mag daran 
zweifeln, daß die ehedem „ſtaatSerhaltenden“ Parteigruppen ſich 
mit noch weit größerem Eifer auf die Gewinnung der Jugend 
werfen werden! Aber auch ohnedies würde die vor uns liegende 
neue Arbeit einen unüberſehbaren Berg darſtellen. Das ſoll uns 
nicht nur nicht ſchre&en, ſondern e8 muß uns aufs neue anſpornen, 
muß die im unſern Herzen lodernde Begeiſterung um ein Viel- 
fache3 ſteigern. Nie haben wir das Ziel unſeres Hoffens und 
Scehnens8 näher vor Augen geſehen. Darum mit verſtärkter Kraft 
und erhöhter Ausdauer, aber auch mit geſteigerter Begeiſterung 
weiter geſchafft an dem glüdverheißenden Werk! 
no; 
Aus Hamburgs Revolukionskagen. 
er dritte, der ſechſte und der neunte November, das waren 
die drei Tage, an denen die deutſche Nevolution 1918 zum 
Siege ſ<ritt. In Kiel fiel am dritten der erſte Schuß; er 
brachte die Matrofen- und Soldatenerhebung in Fluß; am ſechſten 
triumphierte ſie mit Sturmgewalt in Hamburg-Altona; 
am neunten erfocht ſie in Berlin den entſcheidenden Sieg. 
E3 ſoll hier nur von: der mittleren der drei Etappen ein 
Weoniges erzuhlt werden. 
Daß Hamburg am 6. November wieder, wie ſchon einmal vor 
zwölf Jahren, einen „roten Mittwoch“ erleben würde, war aus 
mancherlei Anzeichen bereits am frühen Morgen zu ahnen, B18 
tief an die vorhergehende Nacht hinein hatte ſich eine von der 
Unabhängigen Sozialdemokratie einberufene Volk8verjammlung im 
Geowerkſchaft8haus hingezogen, in der nach einer zündenden Nede 
des Reich3tags8abgeordneten W. Dittmann ein Matroſe aus Kiel 
zur Sympathiekundgebung für die dortige Bewegung und zur Ver- 
bhrüderung der Arbeiter, Matroſen und Soldaten aufgefordert 
hatte. Der Vorſchlag war von der überaus ſtarkbeſuchten Ver- 
jammlung mit ſtürmiſchem Jubel aufgenommen worden, Die 
„Erregung hatte ſich noh geſteigert, als etwa 150 Soldaten, die 
ſich aus der Militärgefangenſchaft ſelbſt befreit hatten, im Saal 
erſchienen waren. Damit war da8 Signal für den kommenden 
Tag: Befreiung aller Opfer der Kaſernendiſziplin und de8 Be- 
lagerung3zuſtande3, gegeben. In den erſten Morgenſtunden 
herrichte die „Stille vor dem Sturm“. Von einer allgemeinen 
ArbeitScinſtellung, zu der einzelne Redner in der Verjammlung 
aufgefordert hatten, war möicht8s zu bemerken, denn die Gewerk- 
ſ<aften hatten noc<h keinen Beſchluß gefaßt. So ſtrömte alles den 
Arbeitsſtätten zu. Vor den Gericht3- und Gefängni8gebäuden am 
Zolſtenplaß ſtarrten den Vorübereilenden aber ſchon die Maſchinen- 
gewehre entgegen, die das von Fart befallene Generalkommando 
zur Verbeidigung der Gefängmi8mauern hatte auffahren laſſen. 
Gewehrpyrantden mit den dazu agchörigen Mannſchaften ftanden 
dabei. Troßdem öffneten ſich die Gefängmistore kurze Zeit ſpäter 
faſt von fclbſt. Unterdeſſen hatten auch ſchon die im Hafen liegen- 
den Kriegsfahrzeuge die roten Wimpel aufgezogen, und Matrojen 
mit roten Abzeichen hielten die Zugänge zu den Werften bejckt. 
Je weiter der Tag vorſchritt, dvſto mehr breitete ſich die rote 
Woge über das ganze Stadtgebiet aus. Im Zeitraum weniger 
Stunden waren überall die Kokarden verſ<wunden, Offiziere und 
noch im alten Dienſt befindliche Mannſchaften entwaffnet und 
alles Militär, ſoweit es ſich auf der Straße, in Bahnwazen und 
öffentlichen Gebänden ſehon ließ, der Befehlsgewalt des Arbeiter- 
und Soldatenrats unterſtellt, der im Gewerkſchaftshaus fein Haupt- 
quartier aufgeſchlagen hatte. Vor dem Kaus hatte man die Wagen 
der Straßenbahn angehalten und zu einer Wagenburg vereinigt, 
die das Hauptquartier "vor Ueberrumpelung ſchützte. Revolver- 
bewaffnete Matrofen hielten die Wagenburg befekt; hinter 1ihr 
taten die Maſchinengewehre zur Probe für eventuelle Ueberfälle. 
Während hier nor alle8 in Erwartung der Dinge war, die 
kommen jollten, ſpielte ſich an der Bundesſtraße boi den Kaſernen 
eim blutiger Kampf ab, dem zehn brave Vorkämppfer der Revolution 
zum Opfer fielen. Sie wurden durc; Kugeln, die aus den Kafernen- 
fenjtern Offiziere und umaufgeklärte Soldaten abfeuerten, nieder- 
geſtre>t. Der Mut der angreifenden Kämpfer wurde dadurch nur 
noch erhöht. Die Kaſernen wurden geſtürmt, die Dffiziere zur 
Uebergabe gezwungen -= ein einziger Matroſe entwaffnete fünf 
Offiziere! == und alle Mannſchaften in den Kafernen ſchloſſen ſich 
der Bewegung an. - 
Von dor Verfammlung am HSeiligengeittfeld au8, wo ſich um 
die Wäattag8zeit mehrere Tauſend Menſchen, darunter viele 
Soldaten, unter roten Fahnen, eingefunden hatten, bildete ſich ein 
Zug, der unter Vorantritt Bewaffneter nach Altona ntarſchterte, um 
dem dortigen Generalkommando den Aus8brud) der newen Zoit zu 
verfündigen. Unterweg3 wurde der Zug aus Häuſern wiederum 
von Offizieren, die ſich verſte>t hielten, beſchoſſen. E3 gab auc) 
hier kurzen, beftigen Straßenkampf mit neuen Opfern. Aber der 
Siege8marſch war ſchon nicht mehr aufzuhalten. 
Das Generalkommando war beim Eintreffen des Zuges von 
den früheren Befehl3habern geräumt, der kommandierende General 
v. Jalk mit ſeinem ganzen Stabe ſpurlos verſchwunden. Von nun 
an hatte das Kommando ein junger 28jähriger Unteroffizier 
Zeller, den ein Zufall mitten in die Bewegung geworfen und 
zu Ihrem Führer gemacht hatte. Auf der Fahrt von Antwerpen 
nach Kiel begriffen, um dort eine Beſchwerde anzubringen, war 
er im Hamburger Hauptbahnhof mit gleichgeſinnten Kameraden 
zuſammengetroffen, die die Bewegung in Kiel mitgemacht hatten 
und nun nach Hamburg verſprengt waren. Im Verein mit ihnen 
übernahm er die Leitung des Soldatenrat8 und traf energiſche 
Maßnahmen, die den Einwohnern Hamburgs zwar zuerſt etwas 
„paniſch“ vorkamen, dann aber toch allgemeine Billigung fanden, 
weil ſie die Aufrehterhaltung der Drdönung und Sicherheit ver- 
bürgten. So mußten in der Nacht, die dieſem Revolutionstag 
folgte, von 9 Uhr ab die Straßen von der Zivilbevölkerung geräumt 
und alle Lichter nach den Straßen zu gelöſcht ſein. Das Knallen 
der 'Schrecſchüſſe, mitunter auch lebhaftere8s Geknatter, das der 
Verſcheinhung von DiebeSgelichter galt, hallte dann durch die Stadt 
und gab den im dunklen Zimmer verſchüchtert Beiſammenſißenden 
ein kloine38 Beiſpiel davon, wie es den Bewohnern der vom Kriege 
beimgeſuchten Gebiete jahrlang zu Mute geweſen. 
Einige Tage ſpäter waren die Aufregungen des 6. November 
ſchon faſt vergeſſen. Der Arbeiter- und Soldatenrat hatte ſich 
neukonſtituiert, bekannte Führer der Hamburger Ardeiterbewegung 
waren an ſeine Spitze getreten, den Opfern var blutigen Fampfe 
war oin ehrenvolle3 Begräbnis auf dem Obhl3dorfer Friedhof be- 
roitet worden, der Ordnungs8- und SicherheitSidenſt funktionierte, 
wenn auch nicht mehr in der alten, ſo doch in der neuen Weiſe. 
Und al3 am nächſten Mittwoch, dem 18. November, vom Rathaus 
herab die rote Flagge wehte, zum Zeichen, daß der Arbeiter- und 
Soldatenrat nun auch dieſen Sikß ver hamburgiſchen Staat3- und 
Stadtregierung in Beſchlag genommen, da ging dieſer „Staats- 
ſtreich“, der gewiſſermaßen den Abſchluß der Hamburger Nevolu- 
tion3woche bildete, fo glatt vonſtatten, wie früher ein wohlvor- 
bereiteter Stapellauf. Nur einem hohen Senat war gewiß nicht 
ſo wohl dabei. R, P,
	        
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