Full text: Arbeiter-Jugend - 10.1918 (10)

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eben ihre Weltanſ<hauung, entpuppt ſi< als ſoziales Gebilde, 
geradezu al38 Kundgebung der Geſamterkenntnis und de8 Geſamt- 
willen8 der Gattung, der Geſellſhaft und ihrer Gruppen, ihrer 
Klaſſen. | 
In einem weiteren Artikel ſollen die wichtigſten der heute 
miteinander ringenden Weltanſchauungen, die <riſtliche, die 
bürgerliche und die ſozialiſtiſG<e <harakteriſiert und in ihren Weſens- 
unterſchieden einander gegenübergeſtelt werden. Aber auch in 
dieſen allgemeinen Bemerkungen haben wir bereit3 ein.wefentliches 
Merkmal der ſozialiſtiſ<en Weltanſchauung dargelegt, daß ſie näm- 
.Ii< nicht als willkürliches, von der Einzelperſönlichkeit im freiem, 
“ſchöpferiſ<em Betrieb erzeugtes Geiſte3produkt aufgefaßt werden 
will, ſondern ſich bewußt al3 Ausfluß der geſellſchaftlichen, ſozialen 
Natur de8 Menſchen fühlt. Unſere Unterſuchung des Welt- 
anſchauungs8begriff8 war alſo eine Unterſu<ung vom Standpunkt 
der ſozialiſtiſQen Weltanſchauung ſelber. 
nN: 
Die Enkwiklung der deukſchen Sprache. 
(Fortſeßhung ſtatt Schlu.) 
. m biberigen haben wir ſtet3 nur die Entwicklung der 
Wortformen betrachtet. Damit erſchöpft ſich aber die Ent- 
wicklung der Sprache keinesSwegs. Nicht nur die Form der 
Worte ändert ſich im Lauf der Jahrhunderte, ſondern vielfoch noh 
weſentlich raſcher der Inhalt der Worte, ihr Sinn, ihre 
Bedeutung. Auch dieſer ſprachlichen Entwieklung iſt nach- 
geſpürt worden. Die Fortentwicklung einzelner Begriffe läßt ſich 
genau verfolgen, und ſie wirft dann nicht ſelten Licht auf den 
Kulturzuſtand, auf Sitte und Gebrauc<h der Zeit, in welcher der 
Wandel ſic<ß vollzog. Dabei gibt e38 aber no< viel weniger feſt- 
ſtehende Regeln al3 für den Wandel der Formen. Aedes einzelne 
Wort tritt da wie eine einzelne Perſönlichkeit auf, die teil3 ihre 
Geſetze in ſich ſelbſt trägt: ihre urſprüngliche Anlage --, teils 
von außen her in ihrem Werdegang beeinflußt wird: die Wirkung 
der Umwelt. Für dieſe Bedeutung3entwicklung laſſen ſich geſchicht- 
liche Abgrenzungen einzelner Perioden kaum oder doch nur mit 
großer Willkürlichkeit aufſtellen, während die Weiterentwi>lung 
der Formen ſich in wohlabgrenzbaren Einzelſchüben vollzog. 
Eigentlich ſelbſtverſtändlich iſt es, daß der Wandel ſich nicht 
an einem beſtimmten Tag, nicht einmal innerhalb eines beſtimmten 
Jahres vollzog, daß er auch nicht überall gleichzeitig eintrat. Nord 
und Sid vor allem, auch Oſt und Weſt gingen oft ihre eigenen 
Wege, den übrigen voraus oder hinterdrein. Auch Stadt und 
Land, Hoh und Nieder unterſchieden ſich nicht ſelten im Gebrauch 
der einzelnen Formen, ſo wie ſich heute no<? ihre Sprechweiſe 
vielfach unterſcheidet troß der gleicmachenden Wirkſamkeit der 
Mein Phokographiealbum. 
Eine Jugenderinnerung von Th. Thomas. (Sthluß.) 
F: wurde e38 mix aber doh ungemütlich. In erregtem Ton fragte 
 
im, was eigentlic lo3 ſei. Statt aller Amtwort - holte ſte eine 
Beitung hinter dem Schanktiſch vor. 
Unter der Peberſchrift: „Grober Unfug“ war folgendes zu leſen: 
Spielende Kinder fanden am Montag auf der Wieſe hinter dem 
Stadtwald ein anſcheinend verlorengegangene38 Photographiealbum, 
da3 eine Neihe Bilder hieſiger bekannter und ac<tbarer Perſönlichkeiten 
enthielt, die durch hinzugefügte Bemerkungen ſtark beſchimpft 
werden, Die Polizei ſtellte ſofort Nachforſchungen an. Dabei fand ſie 
heraus, ' daß ſelbiges dem Lehrling einer bekannten hieſigen Firma 
gehört, Wie dasſelbe und die Bilder in den Beſib des Jungen ge- 
kommen find, iſt bis jeßt noch nicht feſtgeſtellt, und ſein Meiſter konnte 
keine Erklärung dafür abgeben. In "den Kreiſen der Beteiligten 
herrſchte anfangs begreiflicherweiſe keine geringe Aufregung über den 
Dummenjungenſtreich. Hoffentlich wird demſelben ſein Sitleder 
ordentlich vergerbt, damit ihm ſolche krankhaften Gelüſte in Zukunft 
vergehen. 
Währeniddem war auch der Wirt hinzugetreten. Der Schweiß ſtand 
mir auf der Stirn, al3 ich diefen morxaliichen Ste>kbrief geleſen hatte. 
„Na, da haſte dir ne ſcheene Sache auf den Hal3 geladen," ſagte der 
Wirt. Er machte zwar nur Spaß, wie ich ſpäter erfuhr, aber iG nahm 
jedes Wort für bittere Wahrheit, 
Zu meiner Rechtfertigung erzählte ic ihm den ganzen Sachverhalt, 
Er lachte dabei noc< mehr als ſeine beſſere Hälfte. 
„Menſch," meinte er ſchließlich, „das iſt ja en ganzer Rattenkönig 
von Paragraphen, wo du da gefreſſen haſt. Da is erſtens Diebſtahl von 
Bildern, dann Erregung öffenilichen Aergermiſſes, grober Unfug, Be- 
leidigung etcetera --- da macht en findiger Staatsanwalt ene ganz ſc<eene 
Soſe draus,“ : 
Arbeiter- Jugend 
E38 war das „Kveisblatt“. 
nee 
beſſeren Verbindungen, die raſch von einer Landſchaft in die 
andere führen, und tro der weiten Verbreitung des geſchriebenen 
Wortes, das heutzutage allen Kreiſen zugänglich und verſtändlich 
iſt. Leicht begreiflich iſt es, um das no< zu jagen, daß häufig die 
Verſchiebung der Form und der Bedeutung eine8 Wortes zeitlich 
Hand in Hand gingen, wenn aud) ihrem Weſen nad) voneinander 
gänzlich unabhängig. = 
Wann das erſte deutſche Wort erklungen, wie e3 lautete, was 
e3 bedeutet hat, wir ahnen e8 nicht. Weit im Dunkel der Ge- 
ſ<ichte verliert ſi< jener Augenbli>, gleichwie es unmöglich iſt, 
zu ſagen, wann der erſte deutſche Mann durch den Urwald ſchritt, 
die erſte deutſche Frau ihre8 Heime3 wartete. Und hätte e3 dieſen 
Mann, dieſe Frau gegeben, ſie hätten ſelbſt nichts von ihrer Be- 
deutung als Stammvater und -mutter gewußt; ſie waren die 
Kinder ihrer Eltern, und ihre Sprache war die Sprache ihrer 
Eltern, ihres Stammes -- mit kleinen, gewiß ſehr kleinen Aende- 
rungen. 
Wenn ſie ihren Stammbaum weiter, zu ihren Ahnen hinauf 
verfolgt hätten, ſo wie es in viel, viel ſpäterer Zeit die Gelehrten 
getan haben, ſo hätten ſie nur das eine gewußt: ihre Ahnen ſaßen 
nicht immer auf deutſchem Boden, ihre Ahnen waren jene Fndo - 
germanen, von denen außer ihnen no< viele andere Völker- 
ſchaften ihren Urſprung genommen haben, die Inder, die Perſer, 
die Griechen, die Römer, die Slawen und einige andere. Mit 
ihnen allen hätten ſie ſi< urverwandt fühlen müſſen; mit ihnen 
zuſammen waren ſie einſtmals in grauer Urzeit ein Volk geweſen, 
mit ihnen zuſammen haben ſie eine Sprache geredet, das Jndo- 
germaniſjche. Irgendwo in Aſien hat dieſes Volk geſeſſen, und 
von dort aus hat es fich ausgebreitet. Wie e8 geſprochen hat, das 
iſt uns nicht überliefert; wir haben nur verſucht, uns ein Bild 
davon zu machen, indem wir all das, was den Sprachen jener 
Enkelvölker gemeinſam iſt, al8 gemeinfam vom Stammpwpolk über- 
kommene3 Erbe anſehen, während die ſprachlichen Verſchieden- 
heiten jedes einzelne von ihnen al38 eigene Erwerbung hinzu- 
gefügt hat. 
Das Germaniſche z. B., wie wir ſtatt des „Deutſchen“ 
zunächſt einmal ſagen wollen, hat eine Eigentümlichkeit ange- 
nommen. E38 hat ein f geſeßt, wo der Indogermane Pp hatte, 
ein h, wo er k ſagte, p, t und Kk, wo e3 zuvor db, d und g gelautet 
hatte, und einiges mehr. E3 läßt ſic) leicht verſtehen, daß eine 
Sprache durd< eine ſolche „Lautverſchiebung“, zu der noh eine 
Aenderung der Betonung hinzutrat, ein ganz neue3 Geſicht bekam; 
no<h blieben Familienähnlichkeiten in großer Zahl, aber die Ab- 
weichungen waren do< ſo bedeutend, daß man ſich, um im Bild 
zu bleiben, nicht mehr ohne weiteres erkannte, d. h. nicht mehr 
vorſtand, alſo eine andere Sprache gebrauchte. 
Solche „Lautverſ<iebungen“ nun waren es, die au 
weiterhin vor allem die ſprachlichen Formveränderungen aus- 
machten. Es ſind ihrer no< mehrere eingetreten, und ſo blieb 
auc<“ das Germaniſche keine einheitliche Sprache. Vom „Deutſchen“ 
Beide lachten, derweilen i< vor Aufregung ſc<wißte, Sie wußten 
vielleicht gar nicht, welche Angſt im ausſtand, 
- Dann ſtürzte ich aus dem Lokal. Der Wirt wollte mich halten, wollte 
mir zureden, doch ich fegte zur Stadt hinaus. Draußen zwiſchen den 
hohen Pappeln aber, wo ih allein war, fing ich an, ganz entſeßlich zu 
heulen. Die Pappelbäums&ſchienen mix wie lauter warnende Finger in 
den Himmel zu ragen. Immer um die Stadt becum lief ich. Von jedem, 
ver: mir entgegenfam, dachte ich: der will dich holen. Ganz allmählich 
nur fam ich zu einer ruhigeren Auffaſſung meiner Lage. Gar ſo ſc<limm 
könnte es ſchon nicht werden, ſagte ich mir ſchließlich. Aber erſt gegen 
Mitternacht wagte ich mich wieder zurü> in meine Dachkammer. 
Am anderen Morgen mußte ich zum Polizeikommiſſar kommen. 
Mein Lehrherr ging mit. Das war mix ſehr unangenehm. Unterwegs 
fagte er wohl noch ein dußendmal: „Lümmel, Lümmel, Lümmel,“ aber 
ic< ließ mich auf nichts mehr ein. Gegenüber dem Beamten hatte iM 
faſt gar keine Angſt mehr. .'Als wir eintraten, glaubte ich ſogar zu be= 
merken, wie ein Lächeln über ſein Geſicht huſchte. Vielleicht habe ich mich 
auch geirrt. Wir mußten uns ſeßen. Es dauerte noch eine Weile, bi3 
wir an die Reihe kamen. Vorher wurde eine Frau vernommen, die 
ihren Hund ohne Maulkorb hatte herumlaufen laſſen. Mein Meiſter war 
währenddem aufgeregter als ich, 
Endlich wanidte ſich der Grauhaarige zu uns, begrüßte meinen 
Führer freundlich und ſagte dann: 
. „Alſo das iſt der keine Mann mit ſeiner großen Damenbekanntſchaft 
aus den vornehmſten Kreiſen? Das iſt ja eine tolle Sche!“ Seine 
Augen lachten, während er ſich Mühe gab, ein eniſeklich ſtrenges Geſicht 
zu machen. “ 
„Nun erzähle mal, wig du zu Den vornehnfen Bekanntſchaften ge- 
kommen biſt! Wer iſt denn das?" . Damit nahm er eines der Bilder und 
hielt e3 mir vor. 
Ich hatte feine Ahnung. Ich wußte nur, in meinem Buch hatte dieſe. 
Dame mit den Puffärmeln an fünfter Stelle vangiert, mit der Umſchrift?
	        
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