Full text: Arbeiter-Jugend - 10.1918 (10)

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unſer Projeiſor, daß es bei einen Sträaßenbahnführer haupt- 
iächlic) auf zwei Dinge anfomme: erſtens darauf, daß emer raſch 
ficht, vb jemand, der innerhalb des Geleiſes geht oder über das 
Weleiſe gehen will, noch) rechtzeitig hinüberfommunt, bevor der 
Straßenbahmvagen bei ihm iſt und ihn ſtreiſt oder ihn umiwverfen 
vder ſonſtwie verletzen fann, und zweitens darauf, ob der Straßen- 
vahnführer, wenn er ficht, daß jemand nicht rechtzeitig aus- 
weicht, raſch genug brei men kann, iv daß das Unalict vielleicht 
no verhütet wird. Danach ſtellte er mit allen Straßenvahn- 
führern dieſe zwei Vorfuche an. 
Zunächſt nahm er eine Art Brett, das mittels eines (veſtells 
imkrecht aufgeſtellt werden kann und auf dem ein Bild befeſtigt 
war. Ueber dieſes Brett ließ er ein zweites Brett, das mit einem 
AnSichnitt verſehen war, Hherunterrutſchen. Cs galt nun, das 
Vild, ſo lange es ſichtbar war, ſcharf in5 Ange zu faſſen und ſich 
jeine Einzelheiten zu merken. Nun hatte der Profeſſor auf iveißes 
Zzeichenpapier zivei fenkrechte ſchwarze Linien gezeichnet, dieJe 
jollten die ; zwei Schienen oder das Geleiſe der Straßenbahn dar- 
itellen, „zwiſchen amd um dieſe zivei Linien herum waren viele 
ſmwarze und rote Punkte gezeichnet. Dieſe Punkte ſollten die 
Leute darſtellen, dit auf der Straße, zwiſchen, neben und über 
deit Schienen gingen, , Der Straßenbahnführer Hatte nun jedes 
nol „anzugeben, wieviel rote Punkte er ſah: denn die pedeuteten 
die Lente, die nicht rechtzeitig iber die Schienen famen,. Dir 
Straßenbahnführer ſaaten, daß ſie hierbei ganz fo aufpaſſen 
maßten, wie wenn ſie ihren Wagen führten. Wer ſonſt wenig Un- 
alle hatte, gab aml) meiſtens die Zahl der roten Punkte richtig 
a" Der Verſi var alto gelungen, 
Jeht mußte nod) heransgefunden verden, ob einer auch ſchnell 
genug bremen konnte, um die Leute, die nicht rechtzeitig über 'das 
Weuleiſe famen, nicht zu verlekßen oder „gar zu töten. Da hatt 
nun dor Straßenbahnführer auf einen Taſter zu drücken, wenn er 
eine Linie auf einer ' Trommel erſcheinen jah. Sobald dieſe Linie 
ſichtbar wurde, machte ein Zeiger einen Strich auf eine Rolle, die 
jich ſchnell aber fehr regelmäßig beweate. Ein eleftrifſcher < Strom, 
der durc< den Taſter geſchloſſen wurde, drückte einein Hebel nieder, 
der dam ebenfalls ein Zeichen auf die Polle machte, 
zvurde außerdem jede Viertel» oder Zehntel« oder Hundertitel- 
tefunde ein Strich gemacht, und man branc<hte dann nur abzu- 
zählen, wieviele Jolcher Hundertſtelſekundenſtriche zwiſchen den 
bei den oben genannten Strichen waren, um zu wiſſen, wie lanac 
einer brauchte, mm zu bremien, wenn er jemand fab, der nicht 
rechtzeitig über die Schienen fam. 
Ihr denkt wohl, da dürfe überhaupt keine Zeit verſtreichen? 
Das ſtinuut aber nicht. Kein Menſc< bringt es fertig, in derſelben 
Hundertſtel- oder gar Tanfondſteiſekunde zu brennen, wo er den 
Strich oder die gefährdete Perſon ſicht. Alles hraucht feine „Zeit, 
md wenns au nicht einmal eine Sckunde iſt. Seht, der muß fich 
doch zuerſt überlegen (wenn das auch ganz raſc< geht, viel <neller, 
als ihr es hier leſt): „Das &ind komuit nicht mehr über das Ge: 
teifoe, ich muß bremſen.“ Und jetzt gibt jein Gehirn den Befehl: 
„Die Bremſe ſtart anziehen!“ an „den “Arm diveiter, und die 
vil ich dann einen Pla angewief, on befommen Hatie, begamm ich 
mich allmählich zurechtzufinden. Die großen Jungen im Alter von 12 
nd 13 Jahren, die uns Krabben in Die erſten Geheimniſſe der Schrifi- 
zeichen einzuführen. hatten, und zu deuen wir mit einem gewaltigen, 
aber doch zugleich mit Vertraulichkeit gemiſchien Neſpeki auffahen, Übton 
ihr Amt mit gutmütiger Nachſicht aus, Die Zeit verlief ſchnell und 
angereat, Als um 10 Uhr die Frühſtüdspanfe eintrat, fühlte ich mic 
vereits wie zu Dmitſe. 
Die ungewohnte * Lernarbeit aber hatte ſehr anregend auf meineu- 
vppetit eingewirkt. Schnell wollte ich nach meinem Brot greifen. Doch, 
ov weh! ich batte feines, Im der Angſt und Aufregung hatte ich es da- 
heim liegen laſſen. Schnell entſchloſſen machte ich. mich auf den Weg, es 
zU holy, 
Als ich zu Hauſe aungefommen var, 
Großmutter ausgegangen ävar, Auch die Brotſtulle dvar nicht ; 
ſtellte ſich heraus, daß die 
ZU eni- 
deen. Was nun tun? Flugs hielt ich in dex Küche Nachſchau nach 
eliwas Gſßbarem: Daz Glü> jovtr mir hold. dm Schrank auf einem 
Teller lagen. zivei gekochte Tauben. Schnelt die eine in die Hoſentaſche 
und fort! 
Als ich ſchweißtriefeub auf dem Schulplſalz anfam uud nun glaubte, 
mich dem Genuß meiner Boutte hingeben zu können, wurde bereits das 
Zeichen zum Wiederbeginm des Unterrichts gegeben. Groß und flein 
. ſtrömte in das Haus. Der Lehrer ſtand in dex Tür und ging fofori mit 
ins Schulzimmex, um den Unterricht zu beginnen: 
dex Taube fonnte ich deshalb nicht denken, ſo ſehr mich auc<ß der Hunger 
peinigte. 
Aber die velegenbe it fand ſich hald. Der „Schaumeſter“ beſchäftigie 
ſich angelegentlich mit den großen Schülern; wir Kleinen, die an einer 
YSängsfeitenwand ſaßen, wurden in Nuhe gelaſſen. 
Arbeiter- Jugend 51 
Auf dieſer- 
Au. die Verxrſpeifung 
Muskeln des Arms5 und der Hand fpannen fich und drücken den 
Hebel zurück. Das aeht 3. B., wenn einer Schnaps getrunten hat 
vder jehr miide iſt oder 3evr nuit einem andern geſprochen bat, 
nicht fo ſchnell, als wenn er ſtets aufmerkſam, tüchtig ausgernht 
und ganz nüchtern iſt. Deshalb iſt es auch den Straßenbahn- 
- führern in manchen StädVn verboten, altoholiſche Getränke, vor 
allem ſtarfen Wein oder Branntwein, während oder kurz vor der 
Dienſtzeit zu ſich zu nehmen. 
- Wer hier alſo zu viele Fehler macht, der "quet fich nicht zun 
Straßenbahnführer. So kann man auch für andere Verufe foſt- 
ſtellen, ob einer dafür paßt oder nicht. Das pflegt aver b15 jevt 
nur in ganz wenigen Fällen zu geſchehen. Wenn man das erſt 
für eine größere Anzahl Berufe eingeführt hat, dann kann man 
die Jungen, die aus der Schule kommen, zuerſt einmal durch 
ſolche einfache Verſuche prüfen und ihnen dann eventuell raten, 
den Beruf, den ſie aern erlernen wollen, nicht zu ergreifen, fonderi 
etwas anderes zu erlernen, weil ſie ſich für jenen Beruf gar micht 
eignen. Und dadurc< wird vielen Jungen mance bittere Cnt- 
tänſchung und harte Erfahrung erjpart 
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Die Zukunft. 
Ihr Kinder, meine Hoffnung und mein Glüd! 
Mein Leben ward zerbrochen Stü> für Stü. 
An meiner Wiege hielt die Armui Wacht, 
Ums Kinderlachen hat ſie mich gebracht. 
Nach allen Höhen ſtand der Jugend Sinn, 
Ich gab der Not eins na dem andern hin. 
Dann hatt' ich euch! Und leuchtend ward mir s 
Daß eure Zukunft Aller Zukunft war. 
3 flar, 
Und doppelt fehrt der Kampfesmut zurück 
Fürs große Ziel, für aller Menſchen Glück. 
Und nun? So viele Trümmer weit und brzit! 
Das Glü> der Menſchheit jo unendlich weit! 
War alles denn umſonſt was wir vollbracht? 
Kommt ſtatt des Morgens eine neug Nacht? 
Doc) als ich mutlos wollt zur Seite gehn 
Hab ich der Jugend ſtolzen Bli> geſehn. 
Der ſprach zu mir: Was klagſt und bangſt du viol, 
Weil d u noch nicht erreicht das große Ziel? 
Halfſt du doch mit, die Steine zu behaun, 
Mit denen wir das Haus der Zukunft daun! 
Und ſtehn wir einſtmals frei im Erdenrund;: 
Du bauteſt mit, wenn auch im tiefſten Grund. 
Drum leg in unſre Hand, was du geſchafft: 
Wir ſind die Iukunft und wir ſind die Kraft" Emma Dö. 
Sobald ich mich unbeo achtet 1 ud icher fühlte, 30a ich meinte Taue 
hervor uud aß munter darauf los. Weine tieinten Wachvarn, 
Appeiit beim Anblie> dieſes 'außergeiwöhnlichen Frühſtücks angeregt 
wurde und die mir durch Blicke nd „FAnuife " ihr oittereſie zu veeſteohetnt 
gaben, befamen nach der Reihe cin Siüc> ab, der eine emen Filtael, dec 
andere ein Beizt, ver Dritte den Hals, dor vierto den Sterz, 19 dat ZU: 
guterſckt eine eifrige Schmanſerei im Gange war. Die arößeren ; Schier 
und Schülerinnen ſchauten unſerem Treiven erſt erſtaunt, danu !achend 
21 und ſchließlich fingen ſix an, heraunszuplatzen, jv daß ein allgemeiner 
Tumult entſtand, 
Der Sch mmeſter, tor uns &unirxpfen mh Bücken 
zmtorrichtot halte, ſah ſich jezt nau der UÜrfawe des 
fonnte an feinen Mienen die Verblüffung ablofen, 218 
Dutzend Fauwertzeun: in eifriger Tätigkeit fab, Uuf ſeine eerage: 
gibi 28 da?“ ſtand ſofort einer von jener vekammen Sorto, dio es Uber 
all und Meral in Hülle und Fülle gibt, auf uma meldete gerentic: 
„Salzmann hat eine Taube miigebtacbi!“ 
Das war nun ſchon das zweitemal, daß ich im WMittelpunit dor ail- 
acmeinen Aufmerkſamkeit ſtand. Der Lehrer wandie ficy mir „Jächeind 
o Als ich unter Stottern erzählte, wie ich zu vom ſekkeren Frühjtik 
gefommuen ivar, ſagte ex mahnend: „Mein Junge, Du daxrfſt während 
der Schulzeit nicht eſſe, erſt recht keine Tauben. Darauf ſteht Sirafe. 
Für dieſesmal mag es Dir noc< geſchentt ſein, aber wenn es wieder 
vorfommt, dann gibt es was!“ 
Damit zvar der Fall, der nach ſeivem Bekanntivexden im gangen 
dereit 
zugefeb und eiri 
Lärms wn. Wan 
ex uner halb2s 
«4 =. 
eA vy 7 =» 
Dorf und beſonders von meiner Großmutter herzlich belacht wurde, er- 
Er iſt mix eine liebe Erinnerung geblieben. I< wünſchie, daß 
Läge waren, zum Frühſtück Tauben zu verzebren, 
Tedigi. 
wir heute noch in der 
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