Erſcheint alle 14 Tage.
Nr. 8
Eingetragen in die Poſt - »Zeitungsliſte:
Charakterbildung in der Lehrzeik.
ie Wahl de8 Berufs3 für den die Schule verlaſſenden jungen
Menſchen iſt im allgemeinen Sache der Eltern. Oft genug
: kümmern ſich auch dieſe kaum daxum, ſo daß der Junge
felbſt, meiſt mur dem Zufall vertrauend, ſein zukünftiges Hand-
werk erwählt. So ergreifen viele einen Beruf, den ſie oft nur dem
Namen nach kennen. Weit ſind wir ja noch, wie e38 ſcheint, von
dem Ziel entfernt, daß die S<Hule es al3 eine ihrer wichtigſten
Aufgaben betrachtet, die Jugend auf den zukünftigen Beruf vor-
zubereiten. Was ſich in dieſer Richtung neuerdings in einzelnen
Großſtädten herausgebildet hat in der Schaffung von ſtädtiſchen
Jugendämtern mit Berufsberatung, ſind wohl erſt die ſchwachen
Anfänge einer ſyſtematiſchen Anleitung der Jugend für den zu er-
greifenden Beruf, und die Schule ſelbſt iſt nur nebenbei daran beteiligt.
Hier hätte nun zuerſt die Aufgabe eines gewiſſenhaften Lehr-
herrn einzuſezen; er müßte, ſchon im Intereſſe de3 Gewerbes,
das nacc<holen, was die Schule bis jezt no< unterläßt. Fehlt
nämlich dem jungen Lehrling die notwendige Veranlagung für
den Beruf, ſo wird ſelbſt der beſte Meiſter ihm nichts beizubringen
vermögen, und der größte Fleiß des Lehrlings bleibt vergebliche
Mübe.. In einem anderen Beruf hätte diefer vielleicht Vorzüg-
liches leiſten können, aber nun iſt er faſt nur auf die Gnade ſeiner
Arbeitgeber angewieſen. Zeit ſeine3 Leben3 laſtet dieſer unglück-
liche Umſtand auf all ſeinem Denken und Tun. Der falſch ge-
wählte Beruf iſt ihm zum Fluch geworden.
Welche Wirkung muß allein dieſe Tatſache auf den Charaktor
des werdenden Menſchen ausüben!
ſpöttiſch belächelt, im günſtigen Falle mitleidig angeſehen, wird
er bald jedes Selbſtvertrauen verlieren. Bittend nur noc< wagt
er ſich zu nahen; und würde man ihn ungerecht behandeln, er
wagte nicht zu widerſprechen. Das ſind jene Unſfelbſtändigen, die
man bemitleiden -- leider oft auc<h fürchten muß! Häufig benußt
nämlich der ſogenanxte Stümper Schleichwege, um Vorteile für
ſich zu erreichen, die er durc< ſeine Fachkenntniſſe und Fertigkeiten
niemal38 erlangen könnte. Die Verführung iſt ja zu groß. Das
peinigende Gefühl, immer hinter den anderen zuriickgefegt zu ſein,
die Sorge um die Erhaltung ſeiner Exiſtenz, treibt den ſchwachen
Charakter dazu, Schmeichler ſeiner Arbeitgeber und ſchließlich
' Verräter ſeiner Kollegen zu werden. | |
Keinem, der das Wort Kollege als Ehrentitel empfindet, darf
es darum gleichgültig ſein, aus welchen Elementen ſich der Beruf
zuſammenſetzt. Und wenn bei der Lehrling3ausbildung ſic Zu-
ſtände entwidelt Haben, die geeignet ſind, den Charakter angehen-
der Kollegen in ſchlechtem Sinn zu beeinfluſſen, ſo haben wir die
Pflicht, an der Beſeitigung "dieſer Mißſtände tatfräftig mitzu-
arbeiten. Verſuchen wir, uns über einige fſolher Mißſtände klar
zu werden!
Die dümmſte, aber leider gebräuchlichſte Art, ſich dem Lehr-
ling gegenüber Reſpekt zu verſchaffen, iſt die Erwe>ung der
Furcht. Benußt man dazu noch das herrliche Prügelſyſtem, ſo kann
man des Mißerfolgs von vornherein ſicher ſein. Wirklich ſchlechte
Anlagen laſſen ſich durch körperliche Züchtigungen ja gar nicht be-
jeitigen: Auch der von Haus aus fc<lec<ht geartete Jugendliche wird
ſich gegen eine ſolche Behandlung aufbäumen. Im günſtigſten
Fall behält er ſeine üblen Eigenſchaften aus Troß bei, öfter aber
wird er ſich in hinterhältige, kleinliche Rachegedanken verbohren,
wodurch das Uebel nur ſ<limmer wird. Daß Prügel für mangel-
hafte Arbeit dem Lehrling die Liebe zur Arbeit vollemd8 rauben
müſſen, leuchtet ohne weiteres ein. Aengſtlichkeit, Unſicherheit und
is der Einzel»-N 70 i : s
Pibomnement Berteljährlich 50 fene Berlin, 20. April
Veberall nur gedaldet, oft.
Expedition: Buchhandlung Vorwärts, Paul
Singer G. m. bb. H, Lindenſtraße 3. e Zu-
ſchriften für die Redaktion find zu Geen
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 68
als Folge vermehrte Unfähigkeit, da38 iſt die Wirkung dieſer
Methode, die mehr auf Denkfaulheit beim Lehrmeiſter al38 beim
Lehrling ſchließen läßt. Nur zu häufig trifft e3 ja zu, daß dieſe
Art Erzieher wohl eine ſehr loſe Hand haben, ſonſt aber kaum im-
ſtande ſind, die einfachſten vechniſſ<en Fragen dem Lehrling in
leicht faßlicher Weiſe zu erläutern. Der inſtinktive Aerger über
die eigene Unfähigkeit reizt ſie dann dazu, ihren Grimm an irgend
jemand auszulaſſen. Gegen ſol<&e Behandlung müßten in erſter
Linie die Eltern des Lehrlings ſich ernſtlich auflehnen. Mindeſtens
ſollten es ſich die gewerkſchaftlich organiſierten Gehilfen angelegen.
ſein laſſen, in allen ſolchen Fällen einzuſchreiten. Dann wird auch
der werdende Kollege Vertrauen zu ſeinen älteren Mitarbeitern
gewinnen.
Auf eine andere Unſitte möchten wir hinweiſen, die bei den
&ehrherren, die ſie in Anwendung bringen -- und das ſind leider
nicht wenige --, auf da8 Fehlen jeder erzieheriſchen Befähigung
ſchließen läßt. Unverſtand und Gewiſſenloſigkeit läßt ſie förmlich
mit dem Charakter de3 Lehrlings ſpielen. Wir meinen die Un-
ſitte, die Lehrlinge- als geheime Aufpaſſer über die Gehilfen zu
benußen. Dadurch werden dieſe geradezu ſyſtematiſch zu Lumpen
erzogen; jede38 Ehrgefühl wird in dem Lehrling erſtikt. Schaden
aber haben beide Teile von dem unſaubern Handel. Der Lehrling
wird die Situation, wenn er ſonſt die nötige Verſchlagenheit be-
ſitt, nach Möglichkeit für ſi aus8zunutßen ſuchen. Der Lehrherr
wiederum verliert jede moraliſche Gewalt über den Lehrling, mit
dem er in der Charakterloſigkeit gemeinſame Sache macht. Jit
ſich aber der Lehrling erſt dieſes Uebergewicht3 über ſeinen Lehr-
herrn bewußt geworden, ſo wird er nicht zögern, feine „Macht“
bald auch gegen ſeine Lehrkollegen und gegen die Gehilfen au3-
zuſpielen. Die wirtſchaftliche Abhängigkeit der Gehilfen verhindert
dieſe leider oft, den hinterhältigen Umtrieben eines ſolchen jungen
Menſchen wirkſam entgegenzutreten. Doh auc< auf die andern
Lehrlinge wird jenes verräteriſche Treiben nic<t ohne Einfluß
bleiben; ſie fühlen ja, wie ſie zurüſtehen müſſen. Auch ſie lernen
bald den moraliſchen Wert ihres Meiſter3 gering a<ten. Jeder
noch ſo berechtigte Vorwurf von ſeiner Seite wird illuſoriſch ge-
. macht durch die grenzenloſe Verachtung, durc< den Ekel, den der
ehrliche Lehrling vor ſolch einem Erzieher haben muß.
Geogen die geſchilderten Mißſtände werden naturgemäß am
wenigſten Widerſtand die Eltern leiſten können, deren eigene
Jugend in traurigen Verhältniſſen dahinging. Einem ſolchen, in
ſ<werer Arbeit, in Elend und ewigen Sorgen alt gewordenen
Vater oder einer ſol<hen Mutter wird kaum das Bedenkliche der
eben geſchilderten Verhältniſſe ſo recht zum Bewußtſein kommen.
Ziehen wir dazu in Betracht, daß heute nor der größte Teil
aller Arbeiter elf Stunden und mehr am Tag vom Hauſe entfernt
iſt und dann müde umd abgeſpannt heimfehrt, daß ſie ſelbſt aus
Sorge um ihre Exiſtenz in der Werkſtatt ihren Unwillen oft ge-
waltſam unterdrüden müſſen, ſo wird -uns ihre Gleichgültigkeit
in ſo wichtigen Dingen einigermaßen erklärlich. Darum legt ja
die Arbeiterſchaft mit Recht ſo hohen Wert auf eine Verkürzung
der Arbeits8zeit, '"damit da38 Gemeinſchaft8sleben in der Familie
beſſer gepflegt, aber auch die Fürſorge der Eltern für die heran» -
wachſenden Kinder ſich energiſcher betätigen kann. Erſt wenn dieſe
Vorbedingungen erfüllt ſind, dürfen wir auf ein verſtändigeres
Zuſammenwirken zwiſchen Elternhaus und Lehrwerkſtatt hoffen.
. Die Notwendigkeit eines planmäßigen JIneinandergreifens
jener Lehr- und Erziehungs3berechtigten iſt leicht zu begreifen. Nur
wenn Eltern, Schule und Lehre ſich in das ſchwierige Werk teilen
und ſich gegenſeitig ergänzen, iſt die Heranbildung eines tüchtigen