Full text: Arbeiter-Jugend - 10.1918 (10)

aber gemeſſen an den ſozialiſtiſchen Forderungen, tut ſie das nur 
in ſehr beſchränktem Umfang. Und ſie verfolgt nicht etwa die 
Abſicht, das arbeitsloſe Einkommen zu beſeitigen, ſondern ſie iſt 
im Gegenteil einzig de3halb geſchaffen, um -die beſtehende kapita- 
liſtiſ<e: Wirtſhaft8ordnung aufrehtzuerhalten. Während der 
Sozialiamus durch Steigerung der Gütererzeugung eine möglichſt 
reichliche Befriedigung des Bedarfs aller Geſellichaft8mitglieder 
erzielen will, kommt es der Kriegswirtſc<haft8politik vor allem 
darauf an, daß der einzelne in der Befriedigung feines Bedarfs 
eingeſchränft wird, damit nicht bei der Knappheit der vorhandenen 
Vorräte ein Teil de38 Volke8 ganz leer au8geht. Dabei hat die 
Kriegswirtſchaft8politik dieſe3 ihr Ziel nur ſehr unvollkommen exr- 
reicht; troß der Fülle der Verordnungen können die Landwirte 
und auc<ß die Wohlhabenden no immer viel beſſer leben als die 
aroße Maſſe der mittelloſen Induſtriebevölkferung. 
Aber auch dieſer Mißerfolg der Kriegswirtſc<aft erklärt ſich 
leicht durc< ihren fundamentalen Unterſchied vont Soziali8mus, 
Die kriegswirtſchaf tlichen Maßnahmen mußten unter dem Druck 
der Not in ganz furzer Zeit plößlich vorgenommen werden, während 
der SozialiSmus inimer nur mit einem allmählichen und vor» 
ſichtigen Umbau der Volkswirtſchaft gerechnet hat. Außerdem iſt 
man aus Rückſicht auf die Wünſche der Gütererzeuger nur zögernd 
vorgegangen und hat ſich oft mit Halbheiten begnügt. Daher 
können die ungenügenden Erfolge der Krieg8wirtſchafts3politik gat 
nichts für oder wider die Zwe>mäßigkeit und Durchführbarkeit 
de8 Sozialiamus8 beweiſen. Wenn man aber durc<aus irgend 
etwas als bewieſen anſehen wollte, ſo könnte man die wirtichaſft- 
lichen Erfahrungen der Kriegs8zeit nur zugunſten de8 SozialiSmus 
deuten. Nur dadurch, daß man jekt, in der Zeit der ärgſten Not, 
in das freie Spiel der Kräfte eingegriffen hat, iſt e3 gelungen, 
das Schlinumſte zu vermeiden. Wäre 03 nach den Leuten gegangen, 
die überhaupt nichts wiſſen wollen von Eingriffen des Staats 
in das Wirtſchaft5leben, fo müßten wahrſc<einlich für alle Waren 
ſo hohe Preiſe gezahlt werden, wie ſie heute im ſogenannten 
Schleichhandel üblich ſind. Die Neichen könnten ſo weiterleben 
wie im Frieden, aber die breiten Maſſen würden nicht nur hum 
gern, ſondern ein Teil der Bevölkerung würde bei dem Mangel 
an Nahrungs3mitteln, den der Krieg über Deutſchland gebracht hat, 
geradezu verhungern, und dann wäre auch die Verteidigung 
unſeres Landes nach außen nicht mehr möglich. 
Deswegen fann man wohl mit Fug und Recht ſagen, daß 
unſere Kriegswirtſchaftspolitif, ſoviel auch mmumer an ihr auszit- 
ſeßen bleibt, Deutſchland vor einer fürchterlichen Kataſtrophe be- 
wahrt hat. Aber mit SozialiäSmus hat fie nichts zu ſchaffen, 
Maz Sads. 
Trude, der Lausbub. 
- Von Th. Thomas. 
ir nanuten fie einfach Trudhen. Auf ihrem Schsnſchreibheft 
5 ſtand Gertrud Staußenbac<h. Wäre ſie ein Junge geweſen, die 
Abteilung „Lausbuben I mit eincm Strich“, wie unſer Lehrer 
fagte, hätte an ihr ein würdiges Mitglied gehabt. 
Wenn Trude auftaudte, ſpißten wir die Ohren, weil dann immer 
ein „Mords8ſkanda!l“ in Ausſicht ſtand, Ehrlich geſagt, die Jungens in 
der Schule konnten ſie nie ſo recgzt leiden. Wir ſtupften uns gegenſeitig 
in die Rippen, wenn ſie ſich zeigte. Sie hatte ſo etwas Schnippiſches, 
oder auh Ueverlegene3 an ſich. 
Manchmal verulkten wir Trude, aber nur, wenn wir außer ihrem 
Bereich waren. Ihr macte es nämlich gar nichts au2, ab und zu einen 
von uns „Erſtfläſſigen“ gehörig zu verdreſchen. Aver nicht mit. offenem 
Hieb in offener Schlacht -- i wo! Ganz ſchmeicieriſch kam ſie auf ihr 
Opfer zu, das meiſt keine Ahnung hatte, weil ſich Trude mit ihrer Rache 
immex reichlich Zeit ließ, um ſie dann um ſo ergiebiger au8zuüben, Zu 
ver Regel ſpielte ſich ihr Angriff etwa ſo ab: 
„Du, Heinrich, ich hab' e' ſchönes Buchzeichen für D 
haben?“ Heinrich ahnungslo3: „Gi fein, Du. Wo denn, zeig 3 
„Komm nur her, hier in der Bibel hab' ich's.“ 
Hatte ſie ihr Opfer nahe genug herangelodt, ſo blätterte ſie ſchein- 
bar noch ein paar Seiten um. Aber au3 ihren Augen ſprühten Bliße, 
die Lippen ſchloſſen ſich zu einer ſchmalen, dünnen Linie. Auf eimmal: 
Rrrrrrt, fauchte ſie wie eine Schlange lo8. Sie biß und kraßte ſa derb 
um ſich, daß der Betroffene allemal abzog, wie ein naſſex Pudel, oder 
013 ob ihn zehn Meßgerhunde in der Arbeit gehabt hätten. Dann ſchmiſz 
Trude dem Zerſ<hundenen gewöhnlich noh ein ſaftiges Schimpfwort 
nach und hing ihre Flagge raus. Jhxre Flagge, das war ihre Zunge, 
Veberhaupt ihre Zunge « « „ na ..» 
mal!“ 
Sozialismus und Ethik.*) 
ämpfend muß der SozialiSmus jeden Fußbreit Boden der 
Zukunft abringen; mit vollen Lungen atmet er Kritik der 
Vergangenheit. Er iſt Mutter und Tochter einer Philoſophie 
zugleich. Er wurzelt in der Wirtſchaft3- und Geiſte3geſchichte der 
Menſchheit und gebiert aus ſich eine neue. Sein Element iſt das 
volle lebendige Leben der Menſchen untereinander. Das betrachtet, 
ſtudiert er mit den ſcharfen Augen ſeiner jungen Wiſſenſchaft. Er 
betrachtet es aber nicht nur, er beurteilt es auch, er vergleicht, er 
legt einen Maßſtab an, er wertet e8, Er will, daß da8, wa38 er für 
richtig erfannt hat, auch durchgeſeßt wird. Er will die Welt 
ändern, beſſern. Iſt jo das erſte Erfordernis für den Sozialiſten 
Klarheit des Erkennens, Schulung ſeine3 Denkens, Wiſſenſchaft 
in ihrem ſtrengen, kühlen Sinn, ſo iſt nicht minder wichtig für ihn, 
ja untrennbar damit verbunden, ſtarkes Wollen, energiſches 
Werten, Entſcheidung für das als recht Erkannte. 
Damit begibt ſich der SozialiSmus, wie die Bürgerliche 
ſagen, auf das philoſophiſche Gebiet der Ethif, der Sittlichkeit. 
Nac) ſeiner eigenen Auffaſſung entfaltet er aus ſich, erlebt und 
lebt ex eine neue Ethik, eine neue Sittlichkeit. Er begründet eine 
neue Theorie von dem, was gut iſt, was gut ſein foll. Und inner- 
halb des großen Werdens einer ſozialiſtiſchen Weltanſchauung 
wird von allen und, man kann ſagen am leidenſchaftlichſt en gerade 
von den Ungeſchulten, von denen, die zunächſt nicht aus voller Er- 
kenntnis, aber doch mit dem ganzen Herzen zum Soziali8n1ms 
ſtehen, dieſe neue Sittlichkeit diskutiert, dagegen die Sittlichkait 
de3 Bürgertums, des Chriſtentums kritiſiert. 
Schon dem Unbefangenſten fällt ja auf, daß überall, wo in 
der Welt Menſchen zuſammenleben, gewertet wird, von Gut und 
Böſe geſprochen wird. Mag er ſich in der Geſchichte umſehen, bei 
primitiven Völkern, bei Chineſen und Indern, in der Zeit des 
Sklaventums, des JFeudaliveſens, des Kapitali8mus, mag er unter 
<riſtlich Gefinnten leben oder unter Verbrechern: inner kann er 
beobachten, wie Völker und Staaten werten, anklagen umd ic 
verteidigen. Er kennt als Sozialiſt den Gegenſaß der Klaſſen. 
ſelbſt lebt unter beſtimmten Geſ ſeen, einer Wertordnung, die iv 
mit iunmer drohender Gebärde einzwiagen will, was ihrer An- 
jhauung nach recht iſt. Sie umdroht ihn al3. Anyänger der Partei. 
und als Mitglied der Gewerkſchaft. Er führt einen ſtetigen Kampf 
nit ihr, am deutlichſten ſichtbar im Streik. 
Die Sprache ſchon zeigt uns, wie brennend all dieje Fragen 
für Menſchen waren und ſind. Sie kennt unzählige Ansdricke, die 
fich irgendwie auf Wollen, Sollen und Handeln beziehen: unwahr- 
haftig, lieblos, gierig, feige uſw. Dieſe Wertungen ſind etivas 
andere38 als bloße Feſtſtellungen, Konſtatierungen eines Tat- 
beſtandes, wie etwa: rot, blau, muſikaliſch, ſ<werhörig uſw. Ju 
albernſten Klatſch kommt dieſer Hang zum Ausdru>. Abor auch 
gerade hierin iſt am klarſten zu erkennen, wie wichtig für jeden 
*) Vgl. Artikel „Was iſt Philoſophie?“ in Nr, 3/4, 
 
Wir hatten von unſerem Lehrer Natmann ztvar gelernt, die Zunge 
ſes ein fräftiger und beweglicher Muskel, der vermittelſt dex zahlioſen 
in ihm endigenden Geſchmad3nerven vox allem zum Schmegcen diene, 
Mag ſein! Aber Trudes Zunge war ſichex nicht für dieſen Ziwe> exrx- 
Ichaffen: fie wax ihr cine wertvolle, für die übrige Mitwelt jedod) ſehr 
gefährliche Waffe. Was dem Wilden ſein Pfeil, dem Jäger ſeine 
Büchſe, da3 war Trude ihr Geſchmadzsorgan. 
Von der gerade ſichtbaren, roſigen Spile, die ſic necliſch- zierlich 
zwiſchen den Zähnen zeigte, wobei ſie ihre etwas ſehieſen Acuglein her- 
unterzog, bis zum wütenden Herausreißen des muskulsöfen Organs it 
ſeiner ganzen Länge handhabte ſie ihren „Sähmedbecßer“ in allen Lagen- 
mit einer Meiſterſchaft, die verblüffend wirkte, Sie beſaß die fkunſt- 
volle Begabung, mit Hilfe der Zunge ihre Feinde auf zehn Meter Ents- 
fernung und mehr zu „deforieren“. Sie tvaf faſt immer, kam auch nie 
in Verlegenheit wegen der flüſſigen Munition, . .. - 
Wir Jungens beneideten ſie aufrichtig um dieſe Kuuſt und gaben 
ans allge Mühe, ſic auch zu erlernen. Aber unſere Zunge var zu ſchiper- 
fällig, dex Mund zu troden -- wir kamen nicht mit. 
Eince3 Tages, ais ſie mich beſonders auszgeichnete und ich mit ihr 
wielen durfte, verſuchte ich, Einzelunterricht bei ihr zu nehmen: 
„Txude, Du kannſt ſo fein ſpuden, wic machſte das eigentlic) ?* 
„Hc he, das i3 doch ganz einfach. Du kannſt e3 ſelber, Du Affe . . .“ 
I< ließ mich aber fo leicht nicht abweiſen, zudem war ihr Künftler- 
fiolz ein flein wenig geſchmeichelt. 
„Paß mal uf, wie De das machſt," ſagte ſie. Schnell lief ſie mitten 
auf die Straße, ſal) mit blißenden Augen auf mich =- und noch ehe ich 
recht begriffen hatte, was e3 nun geben ſollte, mußte ich mich auch ſchon 
mit deim Taſchentuch abtro>nen. 
„So, uu 1wecſt es, Du Duſſeltier, Dat denkſt wohl, Du kannſt mich 
veralbern, Du Stachelſchwein!"“ Damit rannte ſie fort. JI aber ſtand 
da und ließ mid) auslachen, |
	        
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