Full text: Arbeiter-Jugend - 10.1918 (10)

Arbeiter-Zugend . | | 91 
 
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die Fähigkeit und Schulung rechten Erkennens und ebenſolche des 
rehten Wollen8 iſt. Am wüſten Gowäſch und ſinnloſen Wider- 
ſprechen neidiſher Urteile wird am erſten begriffen, daß -- wie 
Einheit und Folgerichtigkeit des Erkennens, des Denkens die erſte 
Vorausſetung für den Sozialiſten ſind -- ſo in innigem Zuſam- 
menhang damit für ihn Durchbildung ſeines Urteilens, jeines 
Wertens und Wollens notwendig iſt. Erſt die Einheit beider ver- 
leiht ihm dic rechte Schlagkraft, zehnfach in einer Zeit, die in ihrem 
wirren Horenſabbath in einem Atem anbetet, was ſie verdanmnte, 
und wieder verdammt, was ſic anbetete. 
Wahrhaftig, wer eine Kultur betrachtet, die mit ſo viel 
Sorgen, Jammer und Elend, mit Tränen und Meeren von Blut 
erfauft iſt, die Millionen zerſchmettert und achtlos zu Boden 
ſtampft, die ſich mit Vorzweiflung und Wahnſinn bezahlt macht, =- 
wer daran denkt, daß ſelbſt das jämmerlichſte Sterben im Krieg 
noch lange nicht das Schre>lichſte iſt, ſondern unendlich übertroffen 
wird durch das jahrzehntelange Leiden der folgenden Generation, 
das entſceßliche Martyrium all der verwaiſten Kinder, der möchte 
verzweifeln an der Menſchheit, ſich in die Einſamkeit flüchten und. 
die Welt verfluchen. | 
Und do alles Reſignieren hilft nicht38. Wir dürfen uns kein 
falſches Bild von den Menſchen machen, müſſen ſie zunächſt ſo be- 
aroifen, wie ſie ſind und warum ſie ſo ſind, Wir müſſen uns beugen 
vor dem ewig neuen Drang zum Leben, dem unausrottbaren, 
überwältigenden Wollen des Lebendigen, 'beſonders dem Wollen 
der Jugend. Sic will und ſie muß mit der Zukunft fertig werden, 
b1i3 ſic abgelöſt wird von friſchem Wollen. Aber, wie geſagt, dieſes 
Wollen muß getragen ſein von ernſter Durchbildung, Erziehung 
und Selbſterziehung, von nimmermüder Kritik. Ohne das kann 
man nicht Sozialiſt ſein, nur Schwätzer und Mitlänfer, eine leichte 
Bente der Schönredner und Rechtsverdreher. -- 
Der Sozialismus trägt alſ9 in ſich und entlädt aus ſich nicht 
nur eine neue Erkenntnis, ſondern auch eine neue Sittlichkeit. 
Damit wird er vorerſt, wie auch die Ethik der bisherigen Rhilo- 
jophie, in der Hauptſache zwei Aufgaben zu löſen verſuchen. Er 
wird zunächſt nach dem Urſprung des Sittlichen fragen. Er 
wird das tun zur geſchichtlichen Orientierung, zur Erklärung dor 
Jdeen und Zdeale der Vergangenheit und Gegenwart, und damit 
zur Klärung ſeiner ſelbſt, zur Erprobung ſeiner wiſſenſchaftlichen 
Vorausſezungen. Von der Philoſophie iſt dieſer Urſprung ſehr 
verſchieden, aber für den tiefer Blienden doch im Cinflang mit 
ihrer Zeit beſtimmt worden. Danach iſt die Ethik, um einigeo3 
Wichtige herauszuheben, autoritativ oder autonom; d. h. eine 
Autorität, ein« höchſte Inſtanz, ein Gott, ein S Schöpfer iſt ihr Ur- 
heber, oder der Menſc< aibt ſich ſelbſt die Geſeke“ für das, was er 
tun ſoll (autos, gried). = felbſt, homos, griech. = Geſetz). So iſt 
3. B. die Sittenlehre des Chriſtentums autoritativ. Weiter wird 
der Urſprung des Sittlichen aprioriſtiſch*) begründet, wobei 
*) a priori, wörtlich = vom früheren her, d. h. von einem vor dor 
Crfahrung (egenden Standpunkt aus begründet, 
aprioriſtiſch bedeutet, daß das Gute etwas von aller Erfahrung 
Unabhängiges, daß es von einer Allgemeinheit und Notwendigkeit 
iſt, die über alle Erfahrung bhinausgeht. Demaegenüber wird auf 
cine evolutioniſtiſche (evolutio, lat. = Entwicklung) Erklärung 
hingewieſen, die in groben Umriſſen ſagt: Wie alles auf der Wolt 
jich entwielt, jo iſt auch Gut und Böſe ein wandelbares Produkt. 
Je nachdem ein Philoſoph den Urſprung des Sittlichen mehr 
in den Intellekt (Geiſt) oder in den Willen (roluntas, lat.) ver- 
legt, ſpricht man auch von einer intelleftnaliſtiſchen oder volunta- 
riſtiſchen Ethif. Da nun alle Ethif nicht nur beſchreibt und erklärt, 
ſondern auch Normen, Vorſchriften, (Seicbe aufftellen will, jo wird 
man gerade von der Ethik eines Philoſophen aus am eheſten in 
feine innerſte Werkſtatt dringen. 
Die zweite aroße Frage will über den Zwe des ſittlichen 
Handelns, über das Ziel alles Guten Aufſchluß haben. Sie will 
wiſſen, warum iman dies und das tun joll. Dic Antworten darauf 
ſind wieder ganz verſchieden ausgefallen und entſchleicrn ſich all- 
mählich nur dem raſtloſen Wahrheitsfucher. Obenhin geſehen bc- 
ſtand und beſteht ein ſIchillerndes Durch- und Nebeneinander. Mait 
hat aeſagt und ſagt noch: Ziel und Zweck des Sittlichen iſt, Luſt 
zu erzeugen, Sinnenluſt und auch geiſtigen Genuß (Hedonismus, 
hedone, griech. == Luſt); oder Ziel iſt die Glückſeligkeit (Eudäa- 
monismus, eundaimonia, gries. = Glüdſeliakeit), oder was dem 
Menſchen nüßt (UtilitarisSmus, utilitas, lat. == Nuten), oder 
endlich die Vervollkommnung des „Zudwiduums (Perfectionismus, 
perfectio, lat. == : Vollendung). Ie nachdem ſich das Wollen mm 
auf das Wohl uſw. des Individuun!s oder der Geſellichaft richtet, 
fann man von individnaliſtiſcher oder ſozialiſtiſcher (zunächſt 
nicht in unferm Sinn) Ethik iprechen. Es iſt auch möglich, das 
Gute ſich erichöpfen zu laſſen in der Aufopferung für andere; dies 
wird als Altruismus (alter, lat. == ein anderer) bezeichnet. Als 
Peſſimiömus (pessimus, lat. == der ſchlechteſte) wird jene Rich- 
tung angeſprochen, die weſentlich nur die Niederträchtigkeit und 
Vergänglichfeit des Daſeins ſieht und Erlöſung von 1hr ſucht. 
Doh jollen dies alles nur Andeutungen ſein. Der Sozialiſt 
wird auch hier feine wiſſenſchaftliche Theorie zu erproben und je 
nachdem zu korrigieren haben. Im übrigen wird ſeine Arbeit 
dahin gehen, die Fäden zu knüpfen, wo ſie mit der Vergangenheit, 
wenn auch noch unſichtbar, verbunden ſind, inſofern er die Sittlich- 
foit als eine geſellſchaftliche Erſcheinungsform betrachtet, als ein 
Produkt, das von der jeweiligen Entwi>lungshöhe der Geſellſchaft 
abhängt. 'Seine neue Ethik aber wird cr autonom zu erbauen 
haben, als otwas iunmer JFortſhreitendes, nic reitlos Aufgehendes, 
als einen Prozeß in die Unendlichkeit, der dem ſeiner fortichreiten- 
den Erkenntnis entſpricht. 
Für unſere vorwärtsdrängende Jugend iſt hier im Verein 
mit dem Bemühen um Einſicht in die hiſtoriſc<en und die wirt- 
I<haftlichen Zuſammenhänge eim gewaltiges Feld ſtarker geiſtiger 
Hingabe, der Arbeit und Erarbeitung einer nenen Sittlichkeit. 
“Z Karl Schröder. 
 
 
Gegen Trude fam, wie geſagt, keiner auf. T Dabei Hatte fie nicht 
gtiva einen ſchlechten Charakter, im Gegenteil, ſie war, im Grunde ge- 
nommen, gutmütig und gab uns 3. B, oft von ihrem Brot. Aber dabeim 
mußte ſie den geſamten HausShalt allein beſorgen, da Vater und Mutter 
den ganzen Tag abweſend waren. Dadurch fehlte ihr jede Leitung, ſie 
wwUrthe früh Felbſtändig und bubenhaft =- keine mahnende Stimme wies 
ſie zurecht. 
Große Laſt machte ſic auch den Lehrern. Beſonders einer, namens 
Zeidler, der ſchon ohnehin leberfrank wax, ärgerte ſich viel mit ihr. Als 
ihm dic Streiche des Wildfangs doch zu 2 dumm wurden, ſchrieb er einen 
Brief an ihren Vater, der ſo lautete: 
Schr geehrter Herr Staußenbach! 
Ihre Tochter Gertrud gewöhnt ſich in der lebten Zeit ein ſebr 
ſchlechtes Betragen an. Da ſie geiſtig zu meinen beſten Schülerinnen 
gehört, macht mich ihr ettliches Verhalten direkt unglücklich, da ich 
für ihre Zufunft beſorgt bin, Können Sie nicht einmal zwe>s Rück- 
Iprache: deSwegen zu mir fommen ? 
. Ergeben]t Zeidler, Lehrer, 
Dieſen Brief erhielt Trude zur Beſoraung aun die Eltern. Er war 
Zivax in einem verſchloſſenen Umſchlag, aber daran ſtörte ſich die kleine 
Briefträgerin nicht. Sie hatte ſo eine Ahnung, daß das Schreiben wohl 
Feine Lobe3hymne auf fie enthalten möchte. Kurz ontſchloſſen öffnete 
fie den Brief. Nachdem ſie geleſen hatte, war ſie mit ſich bald im 
Reinen, daß die Botſchaft in dieſer Faſſung nic<t in die Hände ihres 
Vaters fallen dürfe. Dex ließ nämlich nicht mit ſich ſpaßen. Nun hatte 
Trude aber in ihrem Griffelkaſten cim ganzes M ujterlager von Hilfs- 
mitteln, unter anderm auch einen famofen Gummi „Tintentot“. Mit 
„doſſen Hilfe „verbeſſerte" ſie mun den Text des Schreibens, indem ſie ihr 
„hlechtes“ Betragen in ein „echtes“ aind den „unglücklichen“ Zeidler 
in einen ' „glü&lichen“ verivandelte, vu dieſe Weiſe erfuhr Vater 
Etaußenbach, daß -ſeine Tochter ihren Tehrex Zeidler durc< ihr echtes 
„zeichen ſollte „ſie“ 
 
Betragen direkt glücklich „mache. Was wollte der Mann alfo von ihm? 
Trude erklärte es ihm: Der Lehrer kabe vor, ſie nach der Entlaßjung 
in ein Stift zu bringen, wo ſie weiterſtudieren ſolle. 
O teh -- da hätte man aber den Trambabner Staußenbach ſeben 
müſſen „in die Höhe gehen“: 
„Geld ſollſt Du verdienen, wenit Du mit der Schule fertig biit. 
Dreizehn Jahre habe ich Dich großgefüttert, immerzu haſte nur ge- 
foſttet. Noch mebr Sqchulbänte dur<rutſchen, das fehlte gerade noch! 
Der jou mich in Rube laſſen . 
Der Brief wurde alſo nie beantwor tet. Lebrer Zeidler hai erſt 
nach Jahren erfabren, wie ſeine gutgemeinte Abſicht vereitelt wurde. 
Als wir fonfirmiert waren, kam Trude in eine Schokoladenfabvprik 
als Pa>mädchen. Nun liefen wir ihr alle na<ß. Grſtens war das 
„Fräulein“ Staußenbach wirklich ein präctiges Mädel geworden, na, 
und dann hatte ſie immer die Taſchen voll Süßigkeiten, für die auch 
ein Junge in dieſen Jahren ſtet3 Verwendung hat. Sie ging mit uns 
abex noch genau ſo ſchlecht um wie früber. Freilich: ſie ſpuckte und 
fraßzte nicht mehr, aber ſie fand hundert andere Teufeleien, die im - 
Grunde auf das gleiche hinauskamen, 
Cinen beſonderen „Pik“ hatte ſic auf Paulchen Ulrich. Das war 
Übrigens ein harmloſes Herlcben. Ex war damals WMitalied des Kirchen- 
<hor3 und ging ſpäter in die Unteroffigziers5ſchule; ſchließlich iſt er könia- 
lich preußiſcher Briefträger geworden. Dieſer ſchwächliche Unge, Der 
immer gleich weinte, = wir nannten ibn des8halb ſtatt Ullrich „Woeiner- 
lich“ =-, hatte mit einem Mädchen, das er felöſt noh nie geſehen hatte, 
durch cinen Kollegen ein Stelldichein verabredet, Als Erkennungs- 
eine weiße Roſe anſte>en; auch Paulchen wollte ſich 
ſo kenntlich machen. Wie Trude Staußenbach hinter dieſe harmloſe 
Sache fam, erfubr fein Monſch. Genug: ſic erhielt Kenntnis davon. 
Da „Weinerlich“ noch eine alte Rechnung bei ihr offen hatte, beſchloß 
fie, ihm den Spaß gehörig zu verſalzen, (Schlnß folgt.)
	        
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