Beilage zur .
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Nummer 15
(rbeiter- Jugen
Berlin, den 26. Zuli 1919
11. Jahrgang
Der Freiplaß. .
Erzählung in Briefen von Frit Müller.
M., den 4. Oktober.
Lieber Shorſcht =
< bin froh, daß wir jekt in der großen Städt ſind. Das iſt
= fein was andres als bei Euc<. Jhr habt ja noch nicht einmal
| eine Elektriſche. Vor zwei Wochen habe ich auch noh nicht
gewußt, wie ſo eine ausſc<haut. Weißt Du, ganz ohne Pferd vorn,
„Ind; oben. an. der langen Stange nur jo. ein kleines Röllerl, das die
elektriſche Kraft aus dem. Draht . herau3nimmt. - Eine- Menge
Drähte gehören nämlich auc dazu. Und ich habe 'gehört, wie
einer geſagt hat: „Das wird aber eine überſpannte Gſchicht in
der Stadt,“ und dann“ haben alle gela<mt. .
Ueberhanpt, es iſt ſchr“ luftig in der Stadt, und wir wohnen
in einem feinen Haus in der Bähnhofſtraße. In ganz Kirchheint
wär kein ſo ſchönes Haus wie das. Aber das Haus 'gehört nicht
uns, ſondern wir haben nur den dritten Stoc> gemietet. Auch der
dritte Sto> gehört uns nicht allein, ſondern nur die eine Hälfte.
* Und die Mutter vermietet an -Zimmerherren. - Weißt, Schorſch,
vor Dir habe ich noh nie ein -Geheimnis gehabt. Alſo muß id)
Dir auch ſagen, meine:-Mütter hat gefagt, wir müſſen ſparen.
De3wegen ſind wir ja auch in die Stadt gezogen, jeßt, als der
Vater geſtorben iſt. Man kann beſſer verdienen da, hat die Mutter
geſagt. Und mein großer Bruder, der Adolf, iſt ja au) da in der
Lebens3verſicherung, wo über hundert Leute angeſtellt ſind in.
vinem einzigen großen Haus aus Granit. Und meine Schweſter,
die Fanny, iſt jekt Lehrerin hier und verdient viel Geld, hat ſie
geſagt. I< glaube, ich werde auch einmal ein Lehrer. Aber es
iſt noch weit bi8 dahin, ſagt die Mutter.
Vorgeſtern habe i< die Aufnahmeprüfung in die vierte
Klaſſe gemacht, und geſtern hat der Herr Rektor ſchon das Re-
ſultat in der Aula verkündet. I< bin aufgenommen worden und
habe alfo doch kein Jahr verloren, wie Jhr alle gemeint habt. Das
iſt fein! Jekt verdiene ich auch um ein. Jahr früher etwas, hat
die Mutter geſagt. Ueberhaupt, hier in der großen Stadt ver-
dienen alle Leute. Sie gehen alle jeden Tag ins Geſchäft oder
i13 Bureau. Aber immer bleiben ſie in der Stadt und kommen
nur am Sonntag aufs Feld heraus oder in den Wald, aber nicht
um zu arbeiten. Gerade umgekehrt iſt e8 in Kirchberg, gelt?
Und hier kriegt man von der Arbeit keine ſ<mußigen Hände.
Nur ganz draußen in den Fabriken, wo die Stadt aufhört, da
wird man auch ſchmußig, ſagen die Leute. Abex da war ich noch nicht.
Denn ich muß jekt fleißig in die Schule, weißt Du. Du,
“ das iſt ein feines Gebäude. Sogar die Wandtafeln gehen mecha-,
niſc< an Rollen hinauf und hinunter, und die Tintenfäſſer. kann
man in Scharnieren hin- und herdrehen. -: Und das allerfeinſte
iſt im Phyſikſaal. Da drüc>t der Profeſſor auf einen Knöpf in
der Wand, und auf einen Schlag ſauſen alle Schaluſien herunter,
daß e8 ganz dunfel wird. Das iſt fein, mein Lieber: Und die
Bänke gehen in lauter Staffeln immer höher hinauf, daß man:
Und neulich hat der Phyſikprofeſſor ſogar Sie,
alles ſehen kann.
zu uns geſagt. Ueberhaupt, der Phyſikprofeſſor, das iſt ein feiner
Menſc<. Aber von den Lehrern erzähle ich Dir das nächſtemal-etwas.
Heute muß ich noch das Arch<himediſche Prinzip auswendig lernen.
- Aber Du mußt den Lehrern von Kir<heim nichts von der
ſchönen Schule ſagen, ſonſt ärgern ſie ſich. Aber der Johanna
darfſt Du es ſchon ſagen, wenn Du ſie ſiehſt, und auch einen
ſchönen Gruß von mir, und ich ſchreibe ſelber einmal einen Brief
an ſie, wenn e3 ihr recht iſt. - =
Gehſt Du au< noch hier und da in unſere IYndianerhütte im.
Oberforſt? Und iſt der Lederſtrumpf noch drin, den ich geſtiftet
habe? Und mein Tomahawk auch? Dem ziſchenden Pfeil mußt
Du auch einen Gruß ſagen und der großen Klapperſ<lange. I<
habe jekt keine Zeit, an alle zu ſchreiben.
Mutter ſoll ich Di) auch grüßen.
Dein treuer Jreund Walter...
. fommt.
-Alfo weißt, das iſt einfach ein Vieh.
Ein biſſel kannſt Du
ihnen auch meine Briefe an Dich leſen laſſen, wenn Du magſt.
Du mußt mir auch bald etwas ſchreiben, gelt? Von meiner..
M., den 3. November.
| | Lieber Schorſch!
. Das war ein feiner Brief von Dir. Wie ich den Brief fertig
geleſen hatte, da habe ich mich doch wieder ein biſſel nac) Kirch-
berg zurücgeſehnt. Vor allem unſere Indianerhütte könnten wir
hier-gut branchen, weißt Du.. Aber da iſt gar fein Drandenkfen.
Eine Stunde muß man laufen, bis man hier in einen Wald
' Und meine Mitſchüler ſagen, da täten ſie nie mit bei
einer ſolchen Kinderei, und ſie hätten ſchon in der Volkſchule keine
Indianerbücher mehr geleſen. Ueberhaupt glaube ich, ſie ſchauen
mich -alle ein. wenig mitleidig an. J< bin nämlich der einzige
in der Klaſſe, der einen: Liegkragen hat, und ſie haben alle Steh-
kragen. I< habe es der Mutter auch geſagt, aber ſie fagt, zuerſt
müſſen die Liegkragen alle aufgetragen werden.
* - Aber -ich- habe Dir ja verſprochen, daß ich Dir von den
Lohrern was erzähle Alſo, da iſt zuerſt der Herr Rektor. Er iſt
ganz, ganz dünn und lang, und ganz langjam ſpricht er. In jedom
Saß macht er einmal ganz feierlich die Augendecel zu und wieder
auf. Alle Lehrer haben einen großen Reſpekt vor ihm. Aber wir
müſſen manichmal im geheimen über ihn lachen, beſonders wenn
er jo durch die Naſe redet. Und er ſagt immer wieder das Naium-
liche. Gleich wie die Schulordnung verlejen worden iſt in der
Aula, hat er hinter jedem zweiten Paragraphen inimer Die
Augende&>el niedergeſchlagen und“ geſagt: „Auf dieſen Para-
graphen mache ich Euch ganz beſonders aufmerkjam, Wer ihn
übertritt, wird unnachſichtlich beſtraft.“ Unnachſichtlich iſt über-
haupt ſein Lieblingswort. Einmal hat er geſagt: „Das Turnen
iſt unnachſichtlic) auf den Freitag verlegt worden.“ Aber da paßt
da8 Unnachſichtlich doh gar nicht, gelt? Neulich iſt er in die Klajje
gekommen, wie wir gerade Phyſik hatten. Er hat gar nicht an-
geklopft. Vielleicht hat er den Profeſſor überraſchen wollen. Aber
der hat ſich gar nicht um ihn gekümmert und hat immerfort unter-
richtet, als ob der Herr Rektor gar nicht dageweſen wäre. Tas
war fein. Und überhaupt, der Phyſikprofeſſor iſt der einzige von
den Lehrern, glaube ich, der ich nichts aefallen läßt. Vielleicht
Fommt e3 au< daber, weil der Rektor von der Phyſik aar nichts
verſteht. Das hat uns ein Sitzengebliebener geſagt. Aver di2
andern zittern alle vor ihm.
Beſonders der Auffaßiehrer. Zu dem iſt er neulich auch in
die Klaſſe hereingeſchoſſen und hat ſich auf das Katheder gejeßt.
Ich ſage Dir, ganz weiß iſt der Auffſabprofeſſor geworden und hat
immer ſchneller geredet. Dann hat er lauter Sachen, die wir
ſ<on ein paarmal gehabt haben, noch einmal aufjagen laſſen und
hat fo getan, als ob es ganz neu wäre. Und den Diümmſten in
dert Klaſſe, den Bärmann, hat er deklinieren laſſen: Das Schloß, des
Schloſſes, die Schlöſſer. Und dann hat er gefragt: „So, Barmani,
und jekt dekliniere noc< das Roß.“ Und der Bärmann hat natür-
lich geſagt: „Das Noß, des Roſſes, die Röſer.“ Und wir haben
alle golac<t. Aber der Nektor hat nicht gelacht, ſondern hat ſeine
Augende>kel zugemacht und wieder auf und hat ganz langjam
gejagt: „Herr Kollege, das gehört nicht in die deutſche Aufſaß-
ſtunde, bitte.“ Dann iſt er ganz geſchwind hinausgegangen. Aber
der Profeſſor iſt no< weißer geworden wie vorher und hat eine
Viertelſtunde zum Fenſter hinausgeſchaut. Aber wir haben keine
Dummheiten derweil gemacht, weil er uns ganz leid getan hat.
Voin' Shönſchreiblehrer muß ich Dir aud) noch was ſagen.
So ſagt man nämlich hier.
Da3 iſt gar nichts Sclechtes, ſondern faſt im Gegenteil. Alfo
der kann ſich keinen einzigen Namen merken. Immer zwit er
das linfe Auge zu und ſagt: „Der in der eins--zwei--drei--vier--
fünften Bank, der mit dem grünen Kragen ſoll amal rauskommen
mit ſeim Heft.“ Der mit dem grünen Kragen, das war der
Meißner, der Sitkengebliebene. Und der hat immer lauter Faxen
in die Klaſſe hineingemacht, wie ihm der Profeſſor draußen das
Heft durchgeſchaut hat und zu ihm geſagt hat: „Ah--a--a-a,
das ſind nette Unterlängen, ah--a--a-a, ſchämen ſollteſt du
dich über ſol<Hhe Unterlängen, von die Haarſtrich will ich gar nix
fagen. Jekt will ich dir amal was ſagen, du Laas8bob, du älender,