Full text: Arbeiter-Jugend - 11.1919 (11)

) 
Der das große Unglück angeſtiftet hat, geht unangetaſtet fort 
und hat das Ganze auch ſchon vergeſſen. Er hat nicht einmal das 
Bewußtſein, eine Kataſtrophe angerichtet zu haben. Da iſt nie- 
mand, der ihm „Maſſenmörder“ nachſchreit. Das Ameiſenblut 
ſchreit nicht nac; Rache zum Himmel. Niemand zieht ihn zur 
Verantwortung, nicht einmal ſein eigenes Gewiſſen. 
Der Meni< hat ja nur Verantwortung und Gewiſſen gegen- 
über den Menſchen. Wir beherrſchen die Erde, ſchlagen tot und 
kalfaktern um, wa38 un3 gelüſtet, ſchaffen Gejetße, Gemeinweſen, 
Staaten, Götter =- alle3 nur zu Shußz und Schirm der Menjiſchen. 
E3 kam ein Gott, um die Kinder der Erniedrigung, die Sklaven, 
die Unterdrückten, den Abſchaum der Menſc<heit zu erlöſen. Aber 
ſoweit iſt noch niemand der herrſchenden Kaſte =-- der Menſchheit =- 
in Gerechtigkeitsgefiihl gegenüber all dem lebendigen Leben, gegen- 
über all unſren Mitgeſchöpfen gegangen, die Forderung nad) 
einem Gott: für die Tiere aufzuſtellen, einem Gott, all dem ge- 
meinſam, das lebt. Blut wird nur reſpektiert, wenn es Menſchen- 
blut iſt. Vergeblich ruft das rote Blut nach Verwandtſchaft, wenn 
es in Tierkörpern rinnt. Und do) kann das Auge keinen Unter- 
ſchied zwiſchen “dem Blut eines Ochſen und dem Blut eines 
Menſchen ſehen. 
Der Menſ< findet das8 Daſein ſinnlos und unmöglich ohne 
den Glauben an eine Vorſehung. Aber wohlgemerkt, nur einer 
Vorſehung, die un3 ſelbſt vorbehalten iſt. Die Forderung einer 
Lorſehung entſpringt dem puren Menſchheit3egoiSmus. Gabe 
es wirklicß eine „Alliebe“, dann müßten wir doh ſelbſt ihre Au3- 
über und Helfer ſein. Sind wir darin einig, daß der erträumte 
Gott, der unſre Vorſehung ſein ſoll, unendlich größer iſt als wir 
Menſchen, dann haben wir kein Recht, Beweiſe ſeiner Vorſehung 
für un3 zu verlangen, wenn wir nicht ſelbſt als Vorſehung für das 
Ceben wirken, das im Verhältnis zu un3 klein iſt, wie wir im Ver- 
hältnis zu dieſem Gott klein ſind. Im Vergleich mit dem Oberijten 
der Welt ſtehen wir in der Naturgeſchichte des All3 kaum höher 
al38 die niedrigſten Weichtiere im Verhältnis zu uns. Aber welches 
Intereſſe oder welche8 Verſtändnis hat der Menſ< zum Beiſpiel 
für das Seelenleben einer Ameiſe, um nicht zu ſagen einer Auſter? 
Wollen wir gerecht ſein, dann müſſen wir einräumen, daß wir 
nicht das Recht haben, mehr „Vorſehung“ von. oben zu verlangen, 
als wir ſelbſt nach unten geben. 
Von einem ſolHen ſolidariſchen Verhältnis zu allem Lebenden 
wiſſen wir nicht das allergeringſte. No<4 heute kommt das 
Menſ<entum auf den großen barbariſchen Raubtrieb hinaus, auf 
das alleinige Recht ans Leben, auf die Oberherrſc<aft über alle 
anderen Leben8formen. Mit ſouveräner Verachtung vernichten 
und töten wir all das Leben, das wir für gut finden, ohne den 
Schatten eines Zweifel8 an unſrem Recht dazu, - 
Und doch ſtehen Nacht für Nacht dieſelben Sterne an dem- 
ſelben Simmel als ſtumme Betrachter des kleinen Ameiſenhaufens, 
den unſer Rlanet im Weltall bildet. Und wir können ziemlich 
überzeugt ſein, daß die Blicke, die unſre ſchwachen Augen in den 
Raum hinausſenden, von mindeſtens ebenſo ſtarken gefreuzt wer- 
den, die unſrem kleinen halbdunklen Neſt von einem Planeten ent- - 
gegen oder gleichgültig an ihm vorbei wandern. 
Au38 der Sternenperſpektive muß ſic unſere kleine Erde bödcſt 
unb2deutend au8nehmen. Und doch können wir uns denken, daß 
hier und dort ein Beobachter fiht und ſeine Augen, die vielleicht 
wohlentwidelt ſind, wie ein paar Nieſenferngläſer in unſerer Rich- 
tung wendet und ſie gerade auf die Schornſteine und Fleiſchtöpfe 
unſeres Planeten einſtellt. 
Ein ſolcher Sternenperſpektiviker ſicht eine kleine Kugel, die 
fich begehrlih ihr Licht von einem richtigen kleinen Sonnenſtern 
ausleiht und ſich haſtig um ihre A<hſe dreht, um ihre beiden Salb- 
kugelbaden ohne allzu gefährliche Zwiſchenräume erwärmen zu 
laſſen. Er ſieht, daß das organiſche Leben auf der Erde auUZ- 
ſchließlich dieſer Anleibe von Licht und Wärme zu danken iſt. Er 
ſicht, wie ſie, je nach dem Neigungs8winkel der Erde zur Sonne, 
große grüne Schimmelfle>en bildet, die hin und her kriechen, ſich 
bald erweitern, bald vor dem weißen Eis der Pole zurückziehen. 
Wo der Sonnenſchein am heißeſten hinfällt, wird der grüne Veber- 
zug (Vegetation) üppiger, er ſträubt ſih in merkwürdig ver- 
zweigten Au3wüchſen von der Erdrinde (Bäume), ſprenkelt ſich 
mit farbenreichen kleinen Fle>en (Blüten), die ſich langſam zu 
runden Knollen (Früchten) entwickeln; auf großen Streden ver- 
gilbt das feine grüne Laub der Ebene (Kornfelder). : 
Die Erdoberfläße wimmelt von beweglichen Organismen, 
Einige ſ<einen auf demſelben kleinen Fle> feſtzuſiken, andere 
bewegen ſich langſam als kleine Pünktc<en über das Waſſer und 
Land des ganzen Balls. Die organiſchen Weſen treten in viel- 
fachen Arten auf, die ſich gegenſeitig freſſen. Die ſiegende Art iſt 
eine Klaſſe Oberfreſſer (Menſchen) mit anſ<einend beſonders 
ſcharfen .und glülich geformten Organen. Jhr8s erſte in die 
Augen fallende Stärke zeigt ſih in ihrer Fähigkeit, ſich in Maſſen 
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zu ſammeln, ſic in Kolonien mit Schilden und Dächern zu be- 
feſtigen und einen planmäßigen Ausrottungskrieg gegen wilde 
„und freilebende Tierarten zu führen; andere machen ſie zu ihren 
nüßlichen Dienern, leben von ihrem Fleiſch und verwenden ihre 
Kraft zum eigenen Vorteil. Dieſe Oberklaſſe der Tiere ſcheint 
nahezu die ganze Erde zu bevölkern, in verſchiedenen größeren 
und kleineren Gemeinwejen gruppiert, die ſich gegenſeitig be- 
kriegen. Jedes für ſich ſucht Zentren durch dicht zujammengebaute 
Kolonien zu bilden (Städte). 
. Dieſe beſtehen aus mehr oder weniger verwickelten An- 
häufungen von kleineren Gängen und Kiſten voll Löchern, zu denen 
ſie aus- und einkfriehen. Die Bewohner huſchen und wimmeln ' 
in die zahlloſen Schlupfwinkel, verſchwinden und kommen wieder 
ans Sonnenlicht, ohne daß e38 möglich iſt, zur Erkenntnis zu | 
kommen, was ſie überall zu verrichten haben. Durch „Ye Gänge 
werden allerhand Laſten geſchleppt, Eßwaren, BauſtoffWnd der- 
gleichen, anſcheinend in einer einzigen fkoloſſalen ſinnloſen TranZ- 
portierung, Umſtellung und Verteilung. Wenn das Sonnenlicht 
. fortgeht, ſcheinen ſie ſich mit kleinen aufgeſammelten Gluten und 
Junken zu behelfen, die überall in den trüben, geſchloſſenen 
Räumen aufblinken, wo ſie zuſammenſtrömen und abwarten, daß 
das Sonnenlicht wiederkommt. | 
Beſtändig werden neue Gänge gemauert und neue Näume 
gekittet. An manchen Orten ragen dieſe roßben Bauwerke faſt wie 
Nadeln von der Erdrinde auf. Im übrigen ſind die höchſten 
Spitzen eine Art dünner Rohre, durd) die Raudy ausgepuſtet wird, 
ſowie einige ſpike Türme, die ſpiralenförmigen Schne>enhäuſern 
gleichen und mit zwei gekreuzten Stäben enden. Wa3 der Zweck 
dieſer leßteren iſt, darüber kann ſich niemand klar werden. Jedes 
ſiebente Mal, wenn die Erde ſich dreht und man die Gluten au3- 
löſcht, werden einige große Schellen geſchwungen, die in dieſen 
Türmen unter den gekreuzten Stäben aufgehängt ſind, und 
Scharen von Bewohnern krießen in den hohlen Raum hinein. 
Aber no< mehr bleiben draußen oder kriechen beſtändig zu den 
zahlloſen kleineren Höhlen aus und ein, die ſie offenbar jo genau 
kennen, daß ſie ſich ohne die geringſte Unſicherheit bewegen. Die 
meiſte Zeit leben ſie beſtändig in den gemauerien Räumen; wenn 
die Dunkelheit kommt, wird e38 überall verhältni3mäßig ſtill; ver- 
mutlich liegen die meiſten in einer Urt Betäubung, bi3 das 
Sonnenlicht ſie wieder erreicht. Stürzt einer in einem der Gänge 
um, ſo ſtrömen die anderen herbei und tragen den Gefallenen 
eiligſt fort. Nicht ſelten graben jie kleine Löcher in die Erde. 
Einer wird hineingelegt, und dann wird gleich Erde darübergehäuft. 
„... So nimmt ſich die Erde und da8 Erdenleben aus der 
Sternen-Perſpektive aus. 
Klage nicht über Mangel an Verſtändnis von oben, kleine3 
Menſc<hlein. Dur- ſelbſt ſiehſt ja nicht tiefer in einem Ameiſen- 
haufen. 
Gehe hin zur Ameiſe und lerne! | 
' (Veberſezung aus dem Däniſhen von Marie Franzos.) 
N-; 
Menſc< und Maſdine. 
Von H. Hillig. 
enn, wie in unſzrer Gegenwart, die Zeit in ihrer Entwidlung 
ſozuſagen mitten durchbricht, ſo gibt es mehr als einen 
Grund dafür, zu fragen, ob dieſer Bruch in der Entwidlungs- 
lint2 nicht eigentlich ein Zeichen für eine falſche Zeitrechnung jei. 
Wir haben uns im Krieg ja ſo oft mit der Frage peinigen müſſen, 
ob es wirklich ein Ergebni3 nicht nur der Zivilijation, ſondern auch 
der Kultur ſein könne, daß ſi2 ſich ſelbſt verneimen, indem ſie ihre 
Mittel und Abſichten ſchließlich in: einen Zwe> auslaufen laſſen, der 
ſie ſelbſt vernichten oder mindeſtens in ſittlicher, politiſcher, wirtichaft- 
licher, tehniſ<er und vielleicht auch künſtl2riſcher Hinſicht um eine 
große Zeitſpanne zurüc&werf2n muß. Wir ziehen ja nun auch «aus 
dieſem Zuſammenbruch allerlei Schlußfolgerungen. Die Möglich- 
keiten, die im Schoß de3 Krieges ſ<hlummerten, ſind in der Richtung 
entſchieden, daß wir auf abſehbare Zzit ein armes Volk ſein werden. 
Unſere Ziviliſation wird uns künftig nur einen garingen Nutßen und 
unſere Kultur nur einen ſchwachen Troſt gewähren. Aber wenn 
wir auc< nur theoretiich eine ſolHhe Entwicklung nach rüdwärts 
für möglich halten, iſt es auf alle Jälle lehrreich, uns einmal 
auf das zu beſinnen, was außerhalb der wiſſenſc<haftlichen Theorie 
und der wirtſchaftlichen Praxis no& an urſprünglichem „Ver- 
mögen“ dem Menſchen zur Verfügung ſteht. 
Um 23 gleich vorauszuſchiden: das techniſche Zeitalter mit 
ſeiner theoretiſmen Durchdringung der Arbeit hat uns auc< manche 
Einbuße gebracht. Je mehr wir uns auf die theoretiſche Formel ver- 
ließen und den Rechen- und Zeichenſtift als Pionier verwandeten, ebe 
die ſchaffende Hand zum Werke kam, um jo mehr wurde z2ben die 
ichaffende Hand zum bloßen Handlanger gemacht. Je mehr wir ihr 
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