Full text: Arbeiter-Jugend - 11.1919 (11)

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Arbeiter- Jugend 
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liebſten einen Spinoziſten nennen, Herder tritt offen für ihn ein, 
-und aus jeder Zeile, die Goethe geſchrieben, leuchtet das Bekennt- 
ni8 zur Gott-Natur. Man darf getroſt jagen, daß alle führenden 
Geiſter der Welt ſeit der Aufſtellung des Syſtem3 Spinoziſten ges 
weſen ſind. 
Man braucht dur<aus nicht jede Einzelheit des Syſtem3 anzu- 
erkennen, wenn man ſich nur an die großen, oben angeführten 
Grundgedanken hält, die ſozufagen das notwendige Reſultat de3 
natürlichen Denkens ſind. So äußerte der ſc<harfſinnige Gelehrte 
und Satiriker Lichtenberg (1742--1799): „Wenn die Welt 
noch eine unzählbare Zahl von Jahren ſteht, ſo wird die Univer- 
ſalreligion. geläuterter Spinoziamus ſein- Sich ſelbſt überlaſſene 
Vernunft führt auf nicht3 anderes hinaus, und es iſt unmöglich, 
daß ſie auf etwas anderes hinausführe“. Und eben darum erklärte 
der „gläubige“ Rhiloſoph F.- H. Jacobi (1743-1819), aus 
faſt demſelben Grunde wie einſt Quther, der Vernunft ſelber den 
Krieg, weil er überzeugt war, daß ſie jcden, der ihr allein folgt, 
mit unbedingter Notwendigkeit zum Spinozi8mus führen müſſe. 
Nach Spinoza iſt kein höheres Syſtem der Bhiloſophie mehr 
aufgeſtellt worden. Die folgenden ſind entweder Weiterführun- 
gen dieſer Jdeen oder im Gsgenſaße dazu phantaſtiſche Ge- 
dankengebäude, die ſich über Dinge erſtre>en, die wir vermöge 
unſerer Körper- und Geiſte8organiſation niemals erkennen wer- 
Sen oder do) infolge noc mangelnder Sinne3erfahrung heute 
noch nicht erkennen können. (Die Grenzen dieſer Gebiete ver- 
ſchieben ſich infolge von Entdeckungen und Erfindungen fort- 
während = ſo wußten die Alten noh nicht8 von Magnetismus 
und Elektrizität, da der Menich für dieſe kein Organ hat.) Was 
neuterding8 als Philoſophie ausgegeben wird, widerſpricht faſt 
ſtet3 der Schopenhauerſchen Definition, daß ſie die Wiſſenſchaft 
in Begriffen ſei, die die Anfgabe hat, das ganze Weſen der 
Welt abſtrakt, allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen, 
E3 ſind entweder Bruchteile der Philoſophie (Logit, Erkenntni3- 
theorie, Pſychologie) oder rein auf die Erfahrung aufgebaute 
Weltſyſteme, in denen nur die L en, die die Wiſſenſchaft übri 
läßt, durch, meiſt Spinoza entnommene, Aufftellungen ausgefüllt 
werden. Und gegen dieſen Gang der Dinge iſt nicht viel einzu- 
wenden. Denn es iſt das Weſen aller wahren Philoſophie, fich 
inner überfliiſiger zu machen umd ein der reinen, mit Spekulation 
nicht vermiſchten Erfahrung entſtammendes8 Weltbild ſchaffen zu 
helfen. Wer kann wiſſen, ob das je gelingen wird? Jedenfalls 
diirfen wir es erhoffen, und die Wiſſenſchaft muß e3 erſtreben. 
Br. Zommer. 
Spinozas Werke, von J. Stern herausgegeben, ſind fajt alle in der 
Recelym-Bibliotbe? erſchienen, und den „Tbeologiſch-politiſchen Traktat" 
(40 Pfennig) ſollte jeder Aufgeklärte beſizen. Derfelb- Herauscgeber 
ließ auch bei J. H. W. Dieß in Stuttgart erſcheinen: „Die Pö.i9- 
ſophic Spinozas, erſimals gründlich aufgebellt“ (dritte Auflage - 19065), 
ein Buch, deſſen Anſchaffung beſtens empfohlen werden kann, 
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Leſe- und Diskutierabende. 
nter den vielen Vorſchlägen, die zur AuSgeſtaltung unſere3 Bilz 
dung8weſen38 gemacht worden ſind, find auch ſchon wiederhoit die 
Leſe- und Diskutierabende erwähnt worden. Allein, bisher wurde 
bloß allgemein dieſe Einrichtung empfohlen. Wir wollen mit dieſen 
Zeilen einmal praktiſche Winke geben, wie ſolche Abende geſtaltet 
werden müſſen, um zu einer ſtehenden Einrichtung in jeder Jugend- 
organiſation zu werden, Vor allem ſcheint dies wichtig im Hinbli> auf 
die jehige Jahrez3zeit, wo die Jugend eher wieder Luſt hat, im ge- 
ſchloſſenen Raum zu bleiben, ſoweit es der herrſchende Brennſtoffmangel 
überhaupt geſtattet, . - | 
Mit den Leſe- und Diskutierabenden verfolgt man in der Regel 
mehrere Zwede zugleich. Erſtens ſollen die Teilnehmer in die ſozia- 
liſtiſche Gedankenwelt eingeführt werden, indem man die Schriften der 
Parteitheoretiker gemeinſchaftlich lieſt. Gemeinſc<haftlich lieſt, 
das heißt: jeder hat die gleiche Schrift vor ſich liegen, und 'dann wird 
- abwechſelnd der Reihe nach je ein Abſaß geleſen und über den Inhalt 
debattiert, wobei Fremdwörter und ſc<hwerverſtändlihe Säße von dem 
Jugendleiter erflärt werden,- An Stelle der“ Schriften können natürlich 
auch beliebige andere Aufſäße, 3. B. aus der „Arbeiter-Jugend“, ge 
leſen werden, Falls hierbei keine oder nicht genügende Wortmeldungen 
zur Debatte eingehen, was fehr häufig vorkommt, ſo kann Der Leiter 
mittels geſchifter Frageſtellung die einzelnen Teilnehmer zur Beant- 
wortung animieren, wobei ſich nach und nach die Kuſt zur Wort- 
meldung ſteigert und die anfängliche Schüchternheit verſchwindet. 
Durch ſolche gemeinſame Avbeit wird das Intereſſe unſerer Jugend- 
genoſſen auf beſtimmte Stoffe hingelenkt, und mander wird bald lernen, 
feinen Geiſt zu konzentrieren. Dies ſcheint mir beſonders wichtig bei 
den Viergehn- und Sechzehnjährigen, die auch in den Vereinsabenden 
ſich noch gern mit anderen als den zur Behandlung ſtehenden Dingen 
hofhäftinen und daburch vielfach bei Vorträgen uſw. eine allgemeine 
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Unaufmerkſamkeit hervorrufen. Läßt man dieſe im Frage- und An- 
wortſpiel mitarbeiten, dann wird man bald auch in den Vereinsabenden 
eine aufmexkſame Zuhörerſchaft haben. Das wäre alſo der eine Zwe: 
Eindringen in die ſozialiſtiſche Gedankenwelt, verbunden mit Konzen 
tration de3 Geiſtes auf ein beſtimmtes Wiſſen8gebiet und dadurch Ex=- 
höhung der Aufmerkſamkeit in den Verein3abenden und Verſammlungen. 
Zweiten3 fann man in den Leſe- und Diskutierabenden die Kunit 
der Rede pflegen, wie nicht leicht bei anderen Veranſtaltungen. Auch 
hier iſt natürlich die Tüchtigkeit des Jugendleiter3 Vorausjebung für 
das Gelingen. Wenn beim gemeinſchaftlihen lauten Leſen Fehler 
der Ausſprache vorkommen, in der Betonung der Silben und Wörter 
ſowohl wie in der Beachtung der JIntcrpunktion beim Au3ſprechen eines 
Satße8, dann macht der Leiter aufmerkſam auf dieſe Fehler -- allerdings 
in taktvoller Form =- und bald werden die Teilnehmer auc<h ihre 
Schüchternheit ablegen, im ſelben Maße, wie ihre Sicherheit in der 
Beherrſchung der Sprache zunimmt. In den meiſten Fällen iſt die 
mangelhafte Beteiligung an Disfuſſionen darauf zurüzuführen, daß 
vie Genoſſen und Genoſſinnen ſich im ſprachlichen Ausdruc nicht ſicher 
und gewandt genug fühlen. 
Um dieſen zweiten Zwe&F aber in noc) höherem Maße zu erreichen, 
iſt zu empfehlen, daß man ſich nicht nur auf das Leſen von Parteilite- 
ratur beſchränft, ſondern zur Abwechſelung auch einmal die ſchöne Lite- 
ratur heranzieht. Ja, zur Bereicherung des Wortſchaßes, zUr Einfüh- 
rung in die eigentliche Kunſt der Rede, ſind .die Werke unterer großen 
Dichter am eheſten geeignet. In vielen Jugendheimen werden daher 
ſc<on ſeit langem kleinere Dramen mit Rollenverteilung geleſen, was 
neben der Reveübung zugleich auch eine ausgezeichnete Unterhaltung 
bietet. . 
Werden die hier gegebenen Ratſchläge befolgt, dann fällt in kürzer 
Zeit die vielfach ſchon erwähnte Klage über mangelnde Aufmerkſamkeit 
und geringe Beteiligung an Disfuſſionen fort; die Verſammlungen 
werden um Vielc3 intereſſanter gejtaliet. Dies iſt beſonders an mitt» 
ſeren und tleineren Orten dringend notwendig, wo ohnehin ſ<on nicht 
ſo Reichhaltiges geboten werden fann wie in den großen Städten, wo 
immer genügend Kräfie vorhanden jind, um Abwechſelung in die 
Monat3programme zu bringen. 
Für dieſe kleineren Orte ſei hier noch cin Wink gegeben. Vielfach 
ſind die Vorſtandsmitglieder ratlos bei der Zuſammenſtellung eines 
Programms, beſonders was die Wahl der Vortragsgegenſtände anlangt. 
Hier wäre e3 ratſam, wenn ſich die Genoſſen einen ſogenannten 
hiftoriſchen Katen der verſchafften, wie ihn der Vorwärtsverlag 
jet als Abreißkalender jedes Jahr herausgibt, worin alle für die Ar- 
beiterbewegung wichtigen Gedenktage angeführt ſind. In jeden Monat 
wird wohl ein oder zwei ſolcher Gedenktage fallen, die Anregung und 
Anlaß zu einem Vortrag geben, ſei es nun der Todesztag eines Partei 
führers oder ſonſt eines bedeutenden Menſ<on der deutſchen oder der 
Weltgeſchichte, oder ſei e3 der Gevenftag eines wichtigen geſchichtlichen 
Ereigntſſe3, das für die Arbeiter von Intereſſe iſt. Knüpft man an 
einen ſolchen Tag an, dann bat man nicht nur den Abend zwe>mäßig 
aus8gefüllt, fondern gleichzeitig auch den Sinn für Geſchichte überhaupt 
gewellt, der leider bei vielen jungen und auch äiteren Arbeitern nicht 
vorhanden iſt. Denn wenn man in der Geſchichte beſer Beſcheid wüßte 
und aus ihr zu lernen verſtanzen hätte, dann wären wohl manche der 
tollen Dinge während der Revolution nicht paſſiert und die unglüdjelige 
Verwirrung der Geiſter hätte bei weitem nicht den Umfang annehmen 
können innerhalb der deutſchen Arbeiterbewegung, wie e3 leider der 
Jall iſt. Klarheit in die Köpfe bringen, das muß auch die vornehmite 
Aufgabe unſerer Jugendorganiſation ſein. v. Seyier. 
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Weihnachten. 
Die Reichen ſchliefen alle im warmen Bett, 
Da Maria den Heiland entbunden hätt. 
Keiner hat in derſelbigen kalten Nacht 
An den Sohn einer armen Mutter gedacht. 
Drei arme Hirten nur waren dabei, 
Als es hieß, daß der Chriſt geboren ſei . «a 
Noch . immer iſt es die gleiche Mär 
Und. ſind. doc) zweitauſend Jahre ſchon her: 
Dem Volke nur, das im Dunkeln ſitt, 
Strahlt der Stern, der auf Bethlehem einſt geblitzt. 
Den armen Hirten nur winkt er zu; 
Die Reichen ſchlafen in guter Ruh. 
Und Armen nur iſt die Botſchaft geſagt, 
Daß ein Heiland kommt, daß ein Morgen tagt. 
Der aus Zeiten der Not und aus Nöten der Zeit 
Seine harrenden, armen Brüder befreit . . .- 
Drum iſt Weihnacht der armen Leute Feſt, 
Weil der Arme den Armen nicht verläßt. Karl Bröger,
	        
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