Full text: Arbeiter-Jugend - 11.1919 (11)

54 - Arbeiter- Jugend 
 
Vor allem aber findet ihr in den Arbeiterjugendvereinen echte 
Kameradichaftlickeit und Verſtändnis für eure wirtſchaftlichen 
Nöte. Hier könnt ihr mit uns für wahren Jugendſ<huß 
kämpfen, und jeder findet Hilfe, der ſic<ß über ſeinen Meiſter und 
Lehrherrn zu beklagen hat. | 
Darum rufen wir euch zu: Tretet ein in die Vereine der Ar- 
beiterjugend! 9 Kommt zu un8! Wir brauchen eu al38 Kame- 
raden und Kampfgenoſſen. Wer ſich fernhält, der hat den Geiſt 
der Zeit nicht verſtanden, jenen neuen Geiſt, der die Menſchen zu- 
ſammenruft zum geſchloſſenen Eintreten für das höchſte Ziel der 
Menſ<heit, für den Soziali8mus, 
Er 
Die Religion in der neuen Schule. 
Mf nn zwei Aufſätßen haben wir uns; allerding38 nur in den Haupt- 
zügen, ein Bild von der kommenden neuen Schule zu machen 
verſucht. Heute wollen wir dieſe8 Bild in einem wichtigen 
Punkt ergänzen: Die neue Schule wird ſtatt einer 
<hriſtlic<h-fir<licheneine reinweltlic<eſein. | 
Welch einen breiten Platz nahm doch bisher die Religion in 
der Schule ein! Faſt kein Tag in der Volksſchule ohne ReligionZ3- 
ſtunde: täglich Andachten zu Beginn und womöglich auch noc< zum 
Schluß des Unterricht8; keine Schulfeier ohne Bibeltext, Predizt 
und Kirchenlieder. Der eigentliche Religion3unterricht beſtand 
größtenteils in einer oden Paukerei von Bibelſtellen, Geſangbuch- 
verſen und -- der wahre Kinderſchre>! =- dem Katedismus, 
Dazu war ein guter Teil de38 Leſeſtoſf8 im deutſchen Unterricht 
und in der Schülerbibliothek im Stil <hriſtlicher Erbauungstrak- 
tätchen gehalten; in der Geſchichte wurde der berühmte „Finger 
Gottes“ nachgewieſen ; felbſt der naturkundliche Unterricht war oft 
auf einen religiöſen Ton geſtimmt =- kurz, der „hriſtliche Geiſt“ 
war gewiſſermaßen der Sauerteig, der den ganzen Schulunter- 
richt durhdrang. Und wo, wie namentlich auf dem flachen Lande, 
Geiſtliche die Shulaufſicht hatten, da ſorgten ſie auch dafür, daß 
dieſer Geiſt nicht etwa bloß auf dem Papier der Lehrpläne und 
Verordnungen gefordert wurde. Wahrlich, bei vielen bewirkte 
die Ueberfütterung mit kir<lic-religiöſen Stoffen gerade das 
Gegenteil von dem, was man beabſichtigte: ſie waren froh, mit 
dem Verlaſſen der Schule den ganzen Kram hinter ſich zu werfen! 
Boſſer erging e8 den Schülern der höheren Lehranſtalten. 
Dieſe brauchten nur zwei bis drei ReligionsSſtunden in der Woche 
über ſich ergehen laſſen, und überhaupt ſpielte die Religion im 
ganzen Geiſt und Betrieb dieſer Schulen nur eine höchſt unter- 
geordnete Rolle, wenn nicht zufällig der Herr Direktor ein ſtreng 
kirhlicher Mann war. 
An ſol>oem Unterſchied erkennen wir ſo re<t wieder den 
Klaſſenharakter der alten Schule. Im Grunde ihres Herzens 
pfeift die Bourgeoiſie auf die Religion ; die ihr angemeſſene Welt- 
anſchauung iſt der MaterialiSmu8 im üblen Sinn, d. h, der 
„Glaube“ an das, wa8 man hören, ſehen und greifen und vor 
allem, womit man Geſchäfte machen kann. Für die jungen Söhne 
der herrſchenden Klaſſe, die einſt das Proletariat niederhalten und 
ausbeuten ſollten, wäre allzu viel Religion auch nur hinderlich 
geweſen. Dagegen war die Religion in den Händen der Bourgeoi- 
ſie und ihrer angeſtellten Prieſter und Lehrer ein ausgezeichnete3 
Mittel, da3 Volk, die proletariſchen Maſſen, in der Klarheit und 
Entſchiedenheit ihre8 Klaſſenbewußtſein8 zu hemmen. 
Denn wa3 an Religion in den Volks8ſ<ulen verzapft wurde, 
war = rühmliße Aus38nahmen abgerechnet =“ bornierteſte3 
„orthodore38“ Chriſtentum, hier katholiſchen, dort evangeliſchen Be- 
kenntniſſe83. In die Schulſtuben drang kein Strahl von dem 
Richte, mit dem die Wiſſenſchaft ſeit dem achtzehnten Jahrhundert 
auch in die Geheimniſſe der Bibel und der Religion hineinge- 
leuchtet hat. Hier galt nach wie vor der dümmſte Buchſtaben- 
glaube an jede8 Wort der Bibel, an jedes noc) ſo abſurde, mit 
unſerer heutigen naturwiſſenſchaftlichen Erkenntni8 unvereinbare 
Wunder, obgleich ſich ein aroßer Teil der Theologen ſelbſt von 
ſolchem „Köhlerglauben“ frei gemacht hatte. Nicht3 durfte der 
Volks8ſ<hüler, der junge Proletarier davon erfahren, daß die 
„Bibelkritik“ die Bibel wie jede38 andere uns aus früheren Zeiten 
überlieferte Shriftwerk auf ihre Quellen, ihren Wahrheitsgehalt, 
ihre Abhängigkeit von der Zeit ihrer Entſtehung unterſucht und 
ihren rein „irdiſchen“, menſchlichen Charakter aufgede>t hat. 
Die Ergebniſſe der Religion3philoſophie und der vergleichen- 
den Religion3wiſſenſchaft wurden dem Volks8ſcchüler vollends unter- 
ſchlagen, wofern nicbt etwa bei der Verketerung aller Ander3- 
gläubigen ungewollt ein Körn<en Wahrheit in die Scelen fiel. 
(Denn, nicht wahr, man horcht beſonder3 auf das, wa3 in der 
Schule verurteilt und verdammt wird, aus dem revolutionären 
Inſtinkt der Jugend heraus?) Was brauchte der künftige Prole- 
tarier zu wiſſen, daß eine Weltreligion wie der Buddhi8mus ſich 
an ſittlicher Größe und philoſophiſcher Tiefe mit dem Chriſtentum 
durchaus meſſen kann! Oder daß es vom Standpunkt der modernen 
Forſc<hung heute geradezu lächerlich iſt, die primitiven religiöjen 
Vorſtellungen der ſogenannten „Heiden“ al8 Verirrungen darzu 
ſtellen! Und welche Zerrbilder entwarfen die beiden <rifſtlichen 
Religion8gemeinſchaften, KatholiziSmu8 und Luthertum, gegen- 
ſeitig voneinander, al8 ob wir noh in der Zeit der finſteren Glau- 
ben3fämpfe de8 vierzehnten bis ſechzehnten Jahrhunderts lebten! 
Wehe dem Lehrer, der es wagte, ſich auf den Standpunlt der 
heutigen Religionswiſſenſchaft zu ſtellen und den Keim der reli- 
giöſen Freiheit und Duldſamkeit ſeinen Schülern ins Herz zu 
pflanzen! Wurde es ruchbar, ſo fiel die „geiſtliche Shulaufſicht“ 
über ihn her, oder die Kir<e betrieb eine ſolche Heke bei den voin 
ihr abhängigen Aufſicht3organen der Schule, daß er bald vor der 
Frage ſtand, entweder ſich zu fügen oder ſein Amt, das ihn viel- 
leicht im beſten Sinne ein Lebens8beruf war, aufgeben zu miiſſen. 
Wir fehen, die Autoritätsſchule verfolgte als „<riſtlic<e“ 
Schule das Ziel, den jungen Arbeiter zu einem buchſtabengläudbi- 
gen engberzigen Mucker zu erziehen. Daher auch unterſchlug ſie 
 
Ein Pferdename. 
Geſchichte au3 dem vorrevolutionären Rußland von Anton Tſ<e<Hmotw. 
er Generalmajor a. D. Buldjejew litt an Zahnſchmerzen. Er ſpülte 
fich den Mund mit Branntwein und mit Kognak, brachte Tabak3- 
aſche, Opium, Terpentin, Petroleum an den kranken Zahn, rieb 
die Backe mit Jod ein, ſte>te ſich mit Spiritus angefeuchtete Watte in die 
Ohren: aber all dies half teils nicht, teil3 ſteigerte e3 das Uebel noch. Nun 
wurde der Arzt gerufen. Dieſer ſtocherte in dem Zahne herum und ver- 
ſ<rieb Chinin; aber auch das wollte nicht helfen. Dem Anſinnen, er 
möchte ſich den kranken Zahn auzziehen laſſen, ſetzte der General eine 
entſchiedene Weigerung entgegen. Alle Hausgenoſſen -- die Gattin, die 
Kinder, die Dienerſchaft, ſogar der Küchenjunge Peter -- brachten Mittel 
in Vorſchlag, jeder ſein beſondere3. Unter anderem kam auch Buldjejew3 
EE Jwan Jeliſejitſch zu ihm und riet ihm, den Zahn beſprechen 
zu-laſſem, - 
„Da in unſerm Kreiſe, Euer Exzelleng," ſagte er, „wohnte vor eitva 
zehn Jahren zin Steuerbeamter. Zähne beſprechen --- darin war er 
Meiſter, Gewöhnlich wendete er ſich von. dem Kranken weg nach dem 
Fenſter, flüſterte ein bißchen, ſpuckte ab und zu aus, -- und es half! Es 
iſt eine beſondere Gabe, die ihm verliehemw iſt . . .“ 
„Wo iſt er denn jeßbt?"“ | 
„33a, nachdem ſie ihn von der Steuer weggeſchi>t haben, wohnt er in 
Saratow bei ſeiner Schwiegermutter. Jett ernährt er ſich lediglich von 
Zähnen, Wenn die Leute Zahnſchmerzen haben, ſo gehen ſie zu ihm, 
und er hilft ihnen . , . Die Einheimiſchen, die Saratower, behandelt ex 
bei ſich zu Hauſe; aber wenn Leute aus anderen Städten ihn in Anſpruch 
nehmen, ſo tut er es telegraphiſch, Schieen Sie ihm eine Depeſche, Euer 
Exzellenz, ſchreiben Sie nur etwa ſo: „Jh, Alexei, ein Knecht Gottes, 
- 
hab ich wahrhaftig den Familiennamen vergeſſen! , . . 
habe Zahnſchmerzen; ich bitte, mich zu heilen.“ Und das Geid für die 
Kur ſchi>en Sie mit der Poſt.“ 
„Unfinn! Schwindel!“ 
„Aber verſuchen Sie es doch einmal, Euer Exzellenz! Er iſt zwar 
ein großer Schnapsfveund, auch hat er ein ſehr loſe3 Maul, aber do) kann 
man ſagen: der reine Wundertäter!“ 
„Schie doch hin, Alexei!“ bat die Frau Generalin. „Du glaubſt ja 
allerdings nicht an da35 Beſprechen; aber ich habe an mir ſelbſt die 
Wirkung kennen gebernt. Wenn Du auc<h nicht daran glaubſt, warum 
ſollteſt Du nicht doch hinſchi>en ? Eine Mühe iſt das ja nicht.“ 
„Nun gut,“ willigte Buldjejew ein. „Ju meiner Situation möchte 
man nicht nur an einen Steuerbeaanten, ſondern an den Teufel ſelbſt 
depeſchieren . , . O! E22 iſt nicht zum Aushalten! Na, wo wohnt denn 
Dein Steuerbeamter? Wie iſt ſeine Adreſſe?“ 
Der General ſeßte ſich an den Tiſch und nahm die Feder in die Hand, 
. „Den fennt in Saratow jeder Hund," antwortete der Inſpektor. „Be- 
Tieben Euer Exzelleng nach Saratow zu adreſſieren, alſo , . . Seiner 
Wohlgeboren Herrn Jakob . . .“ . 
„Nun 2“ 
„Herrn Jakob , . . Jakob , , , mit dem Familiennamen , . . Da 
Hol's der 
Teufel! . . . Wie war doch nur ſein Familienname? Eben noch, al3 
ich hierher kam, hatte ich ihm im Kopfe . . . Erlauben Sie . . .“ 
Iwan Jeliſejitſch richtete die Augen nach dex Zimmerde>ke und ar- 
beitete mit den Lippen, Buldjejew und die Frau Generalin warteten 
UngedUldig, | 
„Nun, wird'3 bald? Beſinn Dich ſchnell!“ 
„Sofort , . . Jakob . . . J< hab's vergeſſen! E53 war ein ziemlich 
gewöhnlicher Familienname . . . wie eine Art Pferdebezeichnung . , . 
Studt? Nein, Studt nicht, Einen Augenbli> , , . War'3 nicht Hengſt?
	        
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