Full text: Arbeiter-Jugend - 11.1919 (11)

 
 
 
 
  
 
 
 
 
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Eingetragen in die Poſt-Zeitungsliſte 
- Nr. 9 
Berlin, 3. Mai 
 
 
Expedition: Buchhandlung Vorwärts, Paul 
Singer G. m. b. H, Lindenſtraße 3. Alle Zu- 
ſchriften für die Redaktion ſind zu richten 
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 63 
 
 
 
 
Das Reich und die Jugendpflege. 
n dem Programm der Reichsregierung iſt auch mit einem 
Satz die „Ertüchtigung“ der Jugend erwähnt worden. Der 
Miniſterpräſident hat dann in ſeiner Bogleitrede dieſen Saß 
noch dahin erläutert: Unter Ertüchtigung der Jugend verſtehen 
wir die beſtmögliche geiſtige und körperliche Pflege der Jugend. 
-- Mit dieſen kurzen Andeutungen iſt weder Weg noch Ziel der 
Jugendpflege näher bezeichnet; e3 wird daher nötig ſein, daß die 
Regierung bei nächſter Gelegenheit auf die Trage zurückkommt. 
Wenn auch zugegeben werden ſoll, daß unter den Rieſenaufgaben, 
vor die ſich das Reich geſtellt ſieht, die Jugendpflege nicht gerade 
eine der dringendſten Fragen iſt, ſo empfiehlt e3 ſich doch, wenig- 
' ſten38 die Marſchrichtung anzugeben, um den zahlreichen in der 
Jugendpflege tätigen Körperſchaften die Einſtellung ihrer Arbeit 
auf das Negierungsprogramm zu ermöglichen. 
Troß des ſtarken Intereſſes, das die Partei in den lekten 
Jahren an der Jugendpflege genommen hat, iſt die Frage von den 
Theoretikern de38 Soziali8Smus kaum erörtert worden. Seit der 
Schaffung der Zentralſtelle für die arbeitende Jugend Deutſch- 
land8 durch den Parteitag in Nürnberg iſt gewiß viel praktiſche 
Arbeit geleiſtet worden, aber e8 hat doch viel daran gefehlt, daß 
die Zugendpflege als ſoziales Problem behandelt wurde. Dieſe 
Aufgabe blieb faſt ausſchließlich der „Arbeiter-Jugend“ vorbehalten. 
Ganz im Gegenſatz hierzu hat das Bürgertum eine äußerſt 
reichhaltige Literatur auf dem Gebiet der Jugendpflege zutage 
gefördert, und als Folge davon hat die bürgerliche Jugendbewe- 
nung ſelbſt eine große Au3breitung erfahren. E3 ſei hier nur an 
die Tätigkeit der Zentralſtelle für Volkswohlfahrt erinnert, die 
es verſtanden hat, ſo ziemlich alle Zweige der bürgerlichen Jugend- 
pflege unter ihre Obhut zu bringen. Auf den Konferenzen dieſer 
halbamtlichen Körperſchaft arbeiten ſogar die konfeſſionellen Ver- 
eine beider Richtungen einträchtiglich miteinander, al3 ob e3- nie 
Differenzen zwiſchen Nom und Wittenberg gegeben hätve. In der 
Krieg3zeit hat die Zentralſtelle für Volkswohlfahrt auc< mit den 
Arbeiterorganiſationen Fühlung geſuc<t und erreicht, daß ſowohl 
die Zentralſtelle für die arbeitende Jugend wie auch der Arbeiter- 
turnerbund ſich an einer im Frühjahr 1917 in Ciſenach abge- 
haltenen Konferenz aller Xugendpflegeverbände beteiligt Haben. 
Das Ergebnis dieſer Konferenz iſt in einem dikleibigen Buch*) 
der Oeffentlichkeit übergeben worden, und wer ſich der Mühe 
unterzieht, "dieſes Material zu ſtudieren, der wird finden, daß im 
Bürgertum wohl auf keinem ſozialpolitiſchen Gebiet eine ſo emſige 
- Tätigkeit entfaltet wird als auf dem der Jugendpflege. Dabei wett- 
eifern kirchliche und weltliche Verbindungen der verſchiedenſten 
Art miteinander um den Erfolg, und durch alle Beſtrebungen zieht 
ſich wie ein roter Faden als Zweck die Bewahrung der Jugend vor 
der Sozialdemokratie. Man iſt freilich klug genug, dieſen Zwe> 
nicht in marktſhreieriſc<her Weiſe zur Schau zu ſtellen; hab man 
doch gelernt, daß die Jugend gern von den verbotenen Früchten 
naſcht. Bis zum Ausbruch des Krieges brauchte man in dieſer 
Taktik >lerding8 weniger vorſichtig zu ſein, und man hat es an 
direkter politiſcher Beeinfluſſung der Zugend durchaus nicht fehlen 
laſſen, Die „Vorſicht“ iſt erſt in Erſcheinung getreven, als ſich 
. die ſozialen und politiſchen Wirkungen des Weltkrieges bemerkbar 
zu machen begannen. 
*) Die deutſchen Jugendpflegeverbände, ihre Ziele, Geſchic<te und 
-- Organiſation. Hevrausgegeben von Dr. Hertha Siemering. Berlin 41918. 
Carl Heymanns Veorbag, 
Durch die Revolution iſt niHt nur die Grundlage der bi3- 
herigen Pflegearbeit total umgeſtürzt worden, es haben ſich auch 
die Machtverhältniſſe der ſozialen Klaſſen gründlich verſchoben, 
Die ſozialiſtiſch-demokratiſCche Republik hat der bürgerlichen 
Jugendpflege eine ihrer wichtigſten Aufgaben entzogen, nämlich 
die Beeinfluſſung und den Drill der Jugend im Sinne des bi5S- 
herigen MilitariSmus. Gerade auf diejem Gebiet lag der Haupt- 
gegenſaß zwiſchen der bürgerlichen und proletariſchen Jugend- 
bewegung, und nirgend38 haben Militari8Smus und Antimilitari3- 
mus ſich ſo ſchroff gegenübergeſtanden als in der Jugendpflege. 
Wir dürfen auc< keine8weg3 annehmen, daß diejer Gegenſatz nun 
ganz verſchwunden ſei, aber mit der Beſeitigung des alten Militär- 
ſyſtems iſt der Militariſierung der Jugend Deutſchland38 die Spike 
abgebrochen. Dafür tritt nun aber gerade an dieſer Stelle ein 
neues Problem auf und heiſcht gebieteriſch eine Löſung, nämlich 
die im Erfurter Programm aufgeſtellte Forderung der Erziehung 
der Jugend zur Wehrhaftigkeit. Ernſtlich iſt die Frage zu prüfen, 
ob dieſe Forderung unſeres Programms noh ihre Berechtigung 
hat, und wenn die Frage bejaht wird: was wir zur Durchführung 
dieſer Programmforderung zu tun haben. Zweifello3 wird die 
Jugendpflege in der Zukunft aufs engſte mit ider Erziehung zur 
Wohrhaftigkeit verknüpft ſein, wenn anders das Prinzip der all- 
gemeinen Wehrpflicht weiter Geltung behalten ſoll. Da3 lettere 
iſt die Kardinalfrage. 
Selbſt auf die Göfahr hin, der Popularität3haſcherei geziehen 
zu werden, nehme ich keinen Anjtand, die Frage zu verneinen. 
Yc vertrete die Auffaſſung, daß die allgemeine Wehrpflicht einer 
überholten Zeitepo<he angehört und aus den JForderungen der 
ſozialen Demokratie verſchwinden muß. Allgemeine Wehrpflicht 
ſekt einen Zuſtand ider Völkerbarbarei voraus, der m. E. im Zeit- 
alter des SozialiSmus nicht mehr beſteht; entweder er Ichlicßt den 
Sozialiamus aus oder dieſer ihn. Die biaherigen Anſichten über 
das Heerweſen in der ſozialiſtiſchen Geſellſchaft, ſelbſt die eines 
Jriedric) Engel3, ſcheinen mir diktiert zu ſein von Rückſichten auf 
den ruſſiſchen Zari3mu3; ſie haben mit deſſen Sturz jede Berechti- 
gung verloren. Dazu kommt, daß Der Wilſonſ<e Völkerbund in 
irgendeiner Form zur Tatſache werden wird und dann zum min- 
deſten für das beſiegte Deutſchland eine ſtarke Kontingentierung 
der Wehrmacht auf Jahrzehnte hinaus bringen wird. WaZ3 an 
militäriſ;<er Macht in Zukunft in den wirklih demokratiſchen 
Staaten noch Daſein3bere<htigung haben wird, da3 kann ſich einzig 
auf dem Syſtem einer beamteten Polizeitruppe aufbauen. Daß 
ji< aus dieſer nicht ſo etwas wie eine Prätorianergarde entwickelt, 
dagegen wird ſchon die geringe Präſenzſtärke dieſer Truppe g2- 
nügend Schuß bieten, ganz abgeſehen davon, daß eing jolc<e mo-. 
derne Berufstruppe ſic< ſhon ihrem Wekfen nach kaum al3 brauc- 
bares Inſtrument für Staatsſtreichgelüſte eignen dürfte. Eher iſt 
das Gegenteil anzunehmen, und überdies ſchließt eine wirklich 
demokratiſch& Staat3organiſation die Entſtehung ſolcher Gelüſte 
von ſelbſt aus. . 
Aber, ſo wird man cinwenden, der Grundſaß, daß die gejamte 
wehrfähige Mannſchaft einer VBolk8gemeinſchaft zur Verteidigung 
der Landesgrenzen berechtigt und verpflichtet iſt, braucht mit der 
Beſeitigung der allgemeinen Wehrpflicht nach heutigen Begriffen 
keine3wegs aufgegeben zu werden. Der Einwand iſt richtig. Wir 
haben denn auch eben an dem engliſchen und amerikaniſchen Bei» 
ſpiel erlebt, daß im Falle der Gefahr die Wehrpflicht ohne w"*““: 5
	        
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