Full text: Arbeiter-Jugend - 12.1920 (12)

Beilage zur „Arbeiter-Jugend“ 
 
 
Nummer 1 
Berlin, den 10. Januar 1920 
 
12. Jahrgang 
 
Die große, weiße Stille. 
Novelle aus dem Goldgräberleben in Klondyke von Ja> London. 
Uebeitragen von H. Heſſe 
armen macht es keine zwei Tage mchr“ H 
Mit dieſen Worten ſpuckte Maſon ein Stü> Ei38 aus und 
ſah das Tier betrübt an. Dann führte er eine Pfote des 
Hundes an den Mund und begann mit ſeinen Zähnen das Ei3 
zwiſchen den Zehen wegzubrechen. 
„Noch nie habe ich einen Hund mit einen hohtrabenden 
Opernnamen gefannt, der auc nur einen roten Heller wert ge- 
weſen wäre,“ ſagte er, indem er feine Arbeit beendete und dann 
das Tier beiſeite ſtieß. „Hat iman hingegen jemals einen unge- 
ratenen Hund geſehen mit einem vernünftigen Namen wie Caſſiar, 
is oder Huſky? Da, feht nur einer den Shoofum an! Da3 
iſt einer , . .“ 
Da3 abgemagerte Tier tat einen Saß und berührte faſt Majo 
Hals mit ſeinen ſcharfen Zähnen. 
„Abh, willſt du beißen, jag?“ 
Ein geſchickter Schlag mit dem Peitichenſtiel traf da38 Tier 
hinterm Ohr und ſtre>te e3 zitternd in den Schnee. 
„Seht den Shoofum an,“ ſagte er. „Der iſt kräftig. Nun, 
ich wette, noc bevor die Woche zu Ende geht, hat er Carmen auf- 
gefreſſen!“ 
„3ch wette das Gegenteil,“ erwiderte Malemut Kid, indem 
er das Boot umwendete, das zum Auftauen vor dem Feuer lag. 
„>< wette, wir eſſen Shookum no<h auf, bevor unſere Reiſe zu 
Ende iſt. Was hältſt Du davon, Ruth?“ 
Die junge Indianerin war damit beſchäftigt, den Kaffee zum 
Seßen zu bringen, indem ſie ein Stück Ei3 hineinwarf. Jhr Blik 
glitt von Malomut Kid zu ihrem Manne und dann zu den Hunden, 
dod) ſie antwortete nicht auf Kid38 Frage. E38 war ſo handgreiflich, 
daß es beſſer war, nichts zu ſagen. Die Aufgabe, zweihundert 
Meoilen auf dem Schnee zurückzulegen, wo ſie ſiß einen Weg 
bahnen mußten, und nur no<h für ſech8 Tage kärgliche Nahrung 
für ſich, für die Hunde gar keine hatten -- da blieb ihnen keine 
andere Wahl. Die beiden Männer und die Frau ſetten ſich um 
das Feuer umd begannen ihre armſelige Mahlzeit. Sie hielten 
Veittagsraſt. Daher auch blicben die Hunde angeſchärrt und ver- 
folgten mit neidiſchem Blicken jeden Biſſen, den ihre Herren zum 
Munde führten. 
„Solange es Tag iſt, gibt e3 jeht nichts mehr zu eſſen,“ er- 
lärte Malemut Kid. „Dies iſt die lezte Mahlzeit. 
die Hunde gut bewachen, ſie werden böſe.“ 
„Und wenn ich bedenke, daß ich einmal Präſident in Epworth 
war und in der Sonntags8ſchule Unterricht gab . . .!“ 
Nachdem ihm dieſe Worte entſ<lüpft waren, die in gar keinem 
Zuſammenhang mit der Gegenwart ſtanden, verſank Maſon in 
träumeriſche Betrachtungen ſeiner dampfenden Mokaſſins (india- 
niſche Schuhe). 
„Gott ſei Dank haben wir reichlich Tee. Ach, ich habe ihn 
wachſen ſehen, da drunten am Teneſſee. Wa3 gäbe ich in diciem 
Augenbli>k darum, wenn ich ein wenig geröſteten Mais Hätte! 
Gleichviel, Ruth, lange wirſt Du nicht mehr zu hungern brauchen.“ 
Bei diejen Worten ſc<wand die Traurigkeit der Frau, und 
mit einem langen, liebevollen Bli> ruhten ihre Augen auf ihrem 
Herrn und Gebieter --- dem erſten weißen Menſc<en, den ſie ge- 
ſehen -- dem erſten Mann, den ſie ein Weib ein wenig beſſer be- 
handeln ſah als ein Laſttier, 
„3a, Ruth,“ fuhr ihr Mann fort in ihrem Dialekt, in dem 
ſie ſic) nur verſtändigen konnten. „Warte nur, bi8 ich meine Ge- 
ſchäfte beſorgt habe, dann reiſen wir in ein ſchöne38 Land. Wir 
nehmen den Kahn des weißen Mannes und fahren zum Salzſee. 
Man reiſt zehn, zwanzig, vierzig Tage -- in komiſcher Weiſe zählte 
er die Tage an den Fingern ab --, und die ganze Zeit Waſſer, 
böſe3 Waſſer. Dann gelangt man zu einem großen Dorfe.- 
Wir müſſen 
zehn, zwanzig Fichten. Haha!“ 
Er hielt inne, al8 fände er keine Worte mehr, warf einen 
Viele 
Leute, und ganz hohe Wigwam3 (indianiſche Gütten), höher als 
flehenden Blick auf Malemut Kid. und in ſtummer Sprache tat er, 
als pflanze er mit großer Mühe etwa zwanzig Fichten auf, ein 
Ende ans andere. Malemut lächelte in fröhlicher Ungläubigfeit, 
doch Nuth machte große Augen vor Verwunderung und Freude. 
. „Und dann ſteigſt Du in einen . . . Kaſten, und bum8! fährſt 
Du lo8. Und ſc<hrumm! biſt Du. auch ſchon am Ziel. D, große 
Gelehrte ſind .das! Du gehſt nach Fort Yukon, ich nach Artic City 
-- zwanzig Tagereiſen auseinandcr =- überall Strike. JI< nehnie 
ihn, den Strick, und ſage: „Hallo, Ruth, wie gehts?" Und Du 
frägſt: „Iſt denn das mein lieber Mann?“ JI antworte: „Ja!“ 
Ruth lächelte bei dieſem Märchen mit ſo harmtlojer Viiene, 
daß die beiden Männer aus vollem Herzen auflachten. Ein Streit 
der Hunde entriß ſie in dieſem Veoment den Traumen von den 
Wundern ihrer zukünftigen Heimat, und als es gelungen war, die 
biſſigen Köter zu trennen, hatte Ruth die Niemen der Schlitten 
angeſchnallt, und allc8 war zur Abfahrt bereit. 
Maſon gebrauchte kräftig die Peitiche, und da die Hunde 
kläglich im Ge'<irr heulten, f<ob er den Schlitten an mit Hilfe 
einer langen Stange, die zum Lenfen des Fahrzeuge3 diente, Nuth 
folgte mit dem zweiten Schlitten, während Malemut Kid, der ihr 
beim Abfahren geholfen. mit dem dritten die Nachhut bildete. 
Obgleich dieſer ein wahrer Unmenſ< und ſtarf genug war, um 
einen Ochſen mit einem ainzigen Schlage niederzuitre>en, konnte 
er doch nicht vertragen, daß man die armen Hunde Ihlug, und gab 
ihron Launen nac< mit einer Bereitwilligkeit, die ſich bei einem 
Schlittenführer höchſt ſelten findet. Ja, noch mehr, er weinte 
faſt mit ihnen, wenn ſie leiden mußten. 
„Lo3, vorwärt3, arme Tiere, wenn euch auch die Füße weh 
tun!“ jprach er. 
Jetzt war e8 nicht mehr möglich, zu plaudern. Sich einen 
Weg durch den Schnee bahnen iſt eine harte Arbeit, die nicht d'e 
geringſte Ablenkung duldet, und von allen Mühijalen iſt es die 
ſc<werſte, ſi auf der Straße in Northland (in Alasfa, nördlich dc3 
Fluſſes Yukon) voranzuarbeiten. 
Bei jedem Schritt ſinken die aroßen, breiten Schuhe b13 zum 
Knie in don Schnee ein. Man nmn:ß dann die Beine aerade in die 
Söhe bi3 zur Oberfläche zichen -- ein einfaches Zittern kann cin 
Unglüd berbeiführen -- und dann einen Schritt vorwärt3 tun. 
Dann muß da3 andere ſich einen halben Meter "enfreht heben, und 
ſo fort. 
Der Nachmittag verging in einem beängſtigenden Gefühl, 
da3 dieſe große, weiße Stille hervorrief. Ohne auch nur ein Wort 
zu reden, ſelen die Wanderer ihren mühſamen Marſc< fort. Die 
Natur hat tauſend Mittel, um den Menſ<en daran zu mahnen, 
daß er ſterblich iſt, und e3 ihm feſt einzuprägen -- die ewige Cbbe 
und Flut de3 Meere3, das Toben der Stürme, Erdbeben und 
Donnerrollen =-- aber das Wunderbarſte, das Ueberwältigendite 
iſt de<h dieſe regungsloſe Ruhe der großen, weißen Stills. Jede 
Bewegung hört auf. Der Himmel wird hell und nimmt kupfer- 
farbene Töne an. Der geringſte Laut erſcheint wie eine Enthei- 
ligung. Da wird der Menſ< ſ<hüchtern = der Klang ſeiner 
eigenen Stimme erſc<hre>t ihn. Der einzige Lebens3funke mitten 
in den furc<tbaren Weiten einer toten Welt, zittert er vor ſeiner 
Kühnheit und erkennt, daß ſein Leben nur das eines Erdenwurms3 
iſt, und weiter nicht3. Seltſame Gedanken ſteigen in ſeinem Geiſte . 
auf, und da8 Myſterium aller Dinge bedrü>t ihn. Die Furcht 
vor dem Tode, vor dem Weltall bemächtigt ſich ſeine8 Woſen8 -- 
die Hoffnung auf Auferſtehung und auf ein anderes Leben, das 
Sehnen nach Unſterblichkeit =- alle nichtigen Regungen des ein- 
geferferten Ih. 
So verging der Tag. Der Fluß beſchrieb einen großen Bogen 
und Maſon lenkte ſeinen Schlitten auf dem kürzeſten Wege über 
eine ſ<male Landzunge. Allein die Hunde konnten die hohe 
Böſchung nicht hinauf, vor der ſie nun ſtanden. Ruth und 
Mälemut Kid ſchoben den Schlitten, doh vergeblich -- die Hunde 
glitten immer wteder zurü>. Endlich vereinten ſie alle ihre Kräfte 
-- vori Hunger erſchöpft, machten die armen Tiere eine äußerſte 
Anſtrengung und brachten den Schlitten mühſam hinauf, Zum 
Unglüd wendete der führende Sund an der Spiße ſich nach rechts
	        
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