Full text: Arbeiter-Jugend - 12.1920 (12)

2 Dun | | Arbeiter- Jugend 
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Gute zu wollen und für die Rechte und die Geſundung der Jugend 
einzutreten. Die Stellungnahme der Freien Jugend iſt alſo. ebenſo 
kurzſichtig wie einſeitig und keine3weg3 geeignet, die Intereſſen 
auch nur ihrer eigenen Anhänger wahrzunehmen. “ . 
Wir dürfen un3 in unſerem Kampf aber auc<h nicht von den 
Gegnern beirren laſſen. Vor allem nicht durc< ihre Behauptung, 
daß er unnüß und zwetlo8 ſei. 
ausſicht8l03 wäre, wie von den Kinounternehmern immer wieder 
geſagt wird, dann ſollten ſie uns doch ruhig unſeren „nußloſen“ 
Kampf fortführen laſſen. Ihre Unruhe, ihre Ercegung und Ge- 
reiztheit über unſer Vorgehen beweiſt aber nur zu gut, daß unjer 
Kampf keine8wegs nutßlo3 iſt. 
Wie erfolgreich unſer Vorgehen zu werden verſpricht, können 
wir auch darau8 erkennen, daß die Gegenſeite alle Hebel in Bewe- 
gung ſeßt, um das Zuſtandekommen ſolcher Proteſtverſammlungen 
zu vereiteln. Dieſen Verſuch machte ſie auc) bei der oben genann- 
ten Rroteſtverjammlung der Berliner Jugendverbände. Da die 
Vorbereitung zu dieſer Verſammlung in eine Zeit fiel, in der der 
Belagerung3zuſtand noc nicht aufgehoben war, ſo hatte ſich der 
Reichs8verband der Kinounternehmer-'an das Polizeipräſidium ge- 
wandt mit der Bitte, die Genehnuügung zu der Verjammlung zu 
verjagen. In der Verſammlung verlangte : man dann, auc. die 
Gegner zu Wort kommen zu laſſen. Eine geradezu lächerliche Forde- 
rung, da doch ſicher in einer öffentlichen Verfjammlung niemand 
wagen wird, für den Kinoſchund einzutreten, und alle unſere Redner 
aus8drücklich betonten, daß unſer Proteſt ſich nicht gegen das Kino 
an ſich; ſondern nur gegen das Schundkino richtet. Die Kino- 
unternehmer mödten eben gar zu gern unſeren Kampf gegen den 
Kinoſchund in einen Kampf gegen das Kino ſelbſt umfälſchen. 
Gegen eine ſolche Verdrehung der Tatſachen müſſen wir uns auf 
das ſc<aärfſite wenden. 
Sehr zweekmäßig dürfte es ſein, beim Beginn ſolcher Proteſt- 
verſammlungen die jugendlichen Teilnehmer darauf aufmerkjan! 
zu machen, ſich nicht dur< Zwiſ<henrufe und anderweitige Störungs- 
verſuche herausfordern zu laſſen, ſondern ſich unter allen Umſtänden 
ruhig zu verhalten, damit die Zwiſchenrufer ſofort erkannt werden 
können. In Berlin hatten wir dank dieſer Warnung den Erfolg, 
daß die Verſammlung ohne jede Störung verlief. | 
Und wenn auch dieſe Proteſtverſammlungen keine Wirkung 
haben? Wenn in den Kinos nach wie vor der gleiche Schund ſich 
breit macht? Dann heißt es: hinein in die Kinos und dort pro- 
teſtiert! Dann machen wir e8 wie die Jugend in Altenburg (Thü- 
-Wie ich Redner wurde. 
df dj reiſte zur Nationalverſammlung nach Berlin. In dem ungehetzten 
JT Zuge tvanderte ich halb erfroren den Seitengang auf unid ab, um 
mich zu erwärmen. Wohl zehnmal ſchon hatte ich mich in dem 
Gngpaß an einem Reiſenden vorbeigedrü>t, der ſtampfend und puſtend 
' den Boden bearbeitete, al3 wollte er zinen Schuhplattler einſtudieren. 
In dieſer Tanzübung hätte ich ihn auch nicht geſtört, wenn er nicht bei 
. einer ſcharfen Wendung des Zuges das Gleichgewicht verloren und mich 
beinahe umgeworfen hätte. Nun nahm er Grundſtellung, faßte an die 
Reiſemüße und entſchuldigte ſich Ich ſah ihn erſtaunt an: „Das bijt 
“Du ja, Hans!" = Und er: „Wirklich, das 1ſt der Fritz!" | . 
Vergeſſen war die Kälte. Wir ſaßen im Abteil und riefen Jugend- 
erinnerungen wach, denn ſiebzehn Jahre hatten wir uns nicht geſehen. 
Damals, im Jahre 1902, war ich al38 junger Handlung3gehilfe mit dem 
Pfarrersſohn urid. Gymnaſiaſien im Jüngling3verein, -Jeßt reiſte ich als 
ſozialdemofratiſches Mitglied dex Nationalverſammlung nach Berlin, und 
mein Freund Hans iſt wohlbeſtallter Paſtor und Direktor einex Anſtalt 
der Inneven Miſſion. Sg war2n unſere LebensSwege, die im Jünglings- 
verein einſt nahe beieinander gelegen hatten, weit auseinander gegangen. 
. Jeßt aber wurde ein Stüc der alten Jugendfreundſchaft wieder lebendig. 
- „Du biſt doch eigentlich ſchuld, Hans, daß ich Nedner geworden bin.“ 
Er ſah mich fragend an, und ich 2rzählte: „Von den viel mehr als tauſend 
- Reden, die ich im Laufe der Jahre gehalten habe, iſt mir meine aller- 
erſte Jungfernrede noch am beſten im Gedächtnis. Jh könnte ſie auch 
jeden Tag nachleſen, denn ich habe ſie zu Hauſe im Schrewtiſch liegem. 
Du aber und. Dein Bruder Walter, Ihr habt mich zu dieſ2x Neve gepreßt. 
Ic< habe wahrhaftig nicht daran gedacht, Redner zu werden, denn ich 
war ſchüchtern und befam noch al8 Zwanzigjähriger Herzklopfen, wenn 
ich vor den zehn: oder zwanzig Mitgliedern, die unfere Abende im Jüng>- 
- Tingöverein beſuchten, ein: Frage an den Herrn Pfarrer richten. mußte. 
Und nun drängtet Ihr mich, eine Rede zu halten. Der Pfarrer, unſer 
„ Vereinsvorſikender, kam von längerer Erholungsreiſe zurü>; der Po- 
-“Jaunenchor brachte ihm zin Ständchen, und ich ſollte den alten Herrn 
“.mit-ein paar Woxten begrüßen, | . 
Wenn unſer Kampf wirklich ſo 
 
ringen), Zeiß, in Berliner Vororten und ander8wo! Dort hat die 
Jugend die gemeinſten Reklameſchilder überklebt. Dort hat man 
die Vorführung von Filmen wie „Seuſchheit und Licbe“ und der- 
ßleichen Shmuß durc< Kundgebungen unterbrochen und hat c3 auf 
dieſe Weiſe durc<geſetzt, daß ſolc<er S<hund nicht mehr aufgeführt 
wird. . 
DaZ eine iſt die ſelbſtverſtändliche und natürliche Vorausſekzung: 
unſer Kampf darf nicht ausarten. Die Propaganda der Tat darf 
nur dort einſetzen, wo alle anderen Mittel erſchöpft ſind, und wo 
der im Film gezeigte Shmuß unſerem natürlichen Schamgefühl 
in38 Geſicht ſchlägt. un 
Jugendfreunde und -freundinnen! Wehren wir uns gegen 
den Schmut in Wort und Bild! Aber führen wir diejen Kampf in 
einer Weiſe, die unſerer würdig iſt: mit all dem Feuereifer, der die 
Jugend durchglüht, aber auch ſachlich und überlegt. Unſere Sache 
iſt gut und de8 Kampfes wert. Und wo wir planmäßig und ge- 
ſchloſſen vorgehen, da wird auch der Erfolg nicht ausbleiben, da wird 
der Sieg auf- unſerer Seite ſein! Kurt Heilbut., 
I 
Die erſte Periode 
der deutſchen Urbeiterbewegung. 
Lon A. Conrady. 
III. Weitlings Jdeen und Agitation, 
eitling hatte ſich nac) dem verunglückten Putſch vom Jahr 
1839 in RPari8 neue Verdienſte um die kommuniſtiſche 
Agitation unter den Deutſchen erworben, indem er es in 
die Hand nahm, die infolge der Niederlage zerſprengten Bunde3- 
mitglieder wieder zu fammeln. Außerdem aber unternahm er 
ichon im Jahre 1840 eine Agitationsreiſe nach der Schweiz, um 
'dort für den Bund zu werben. Er kehrte noch einmal nad) Paris 
zurück umd verblieb hier noch bis ins nächſte Jahr. Er hat alo an 
der Seine noch die Anfänge einer yroletariſchen Maſſenbewegung 
erlebt, wie ſie ſich zuerſt im Jahr 1840 zeigte, als es in einer Zeit 
-Ichlechten GeſchäftSgangs zunächſt unter GEitlings Berufskollegen 
zu einem Ausſtand kam, dem ſich allmählich andere Arbeit3zweige 
anſchloſſen, ſo die Schreiner, Tapetendrucker, Schuhmacher und 
andere. An dem Streif waren ſchließlich 50 000 Arbeiter beteiligt. 
und im ganzen fing bei dieſer Gelegenheit in der Pariſer Arbeiter- 
ſhaft da3 Klaſſenbewußtſein ſich erheblich zu regen an. Das Ver- 
langen nac<h Organiſation der Arbeit, aber auc) die Loſung der 
Wahlreform fand lauten Anklang. 
Wie ich den Mut fand, endlich zuzuſagen, iſt mir heute noch rätſel- 
haft. Als ich mein Wort gegeben hatte, war kein Zurück mehr möglich. 
Aller erdenklichen Sünden und Vergehen mag, man mich zeihen, eines 
Wortbruch8 aber habe ich mich niemals ſchuldig gamacht. I< mußte 
alfo und ſchrieb mir meine Rede auf. Das war bei meiner Schreib- 
gewandtheit leicht, auch das Au3wendiglerwen war nicht ſchwer. Auf den 
16 Kilomztern, die ich täglich auf dem Weg zum Geſchäft und zurück 
abzumachen hatte, konnte ic die Rede hundertmal vor mich hinmurmeln. 
Aber drei Minuten lang Auge in Auge mit dem Pfarrer und vor dew 
Ohrey de38 Vereins ohne Stoc>en zu ſprechen, das dünkte mir fürchterlich. 
Der Abend kam. Wir blieſen irgendeinen Choral, ich aber bracht? 
keinen Ton aus meinem Tenorhorn, denn mein armes Gehirn war von 
meiner Rede ſo vollgepfropft, daß es nicht die kleinſt2 Note mehr faſſemw 
konnte. Da ſchwiegen auch ſchon die Hörner. Der Pfarrer kam die 
Gartentreppe feine3 Hauſes herab. JI ſtand ihm, umringt vom ganzen 
Verein, gegenüber. Ich mußle ſprechen, w2nn ich mich nicht unmöglich 
„machen wollte. Es ging in raſender Eile, denn ich hatte nur den einen 
Gedanken, raſch zu Ende zu kommen, aber e3 ging. Ja, e3 ging ſogar 
gut, wie ich deutlich fühlte, obwohl im in meiner entjeßlichen Angſt kaum. 
noch wußte, wo, was und zu wzm ich redete. 
Als ich geendet hatte, war ich ein gefeierter Redner. Mix graute 
vor mir ſelber, aber ich ſonnte mich in meinem Ruhm und trachtete in 
Gedanken ſchon nach neuen redneriſchen Lorbeeren. Sie wuchſen mir 
bald. Eine Reiſe in meine Heimat begziſterte mich zu einem fein ſäuber- 
Tich niedergeſchriebenen und ſorgfältig auswendig gelernten Vortrag, der 
ſo gut gefiel, daß ich ihm vor denſelben Zuhörern noch einmal halten 
mußte. Wir waren eben nicht verwöhnt in unſerem Jünglingsverein, 
Al3 ich mit ſtolzen Schritten unter dem „langanhaltenden Beifall“ - 
der fünfundzwanzig Zuhörer die wacelige „Tribüne“ verließ, ſah mich 
der Pfarrer nachdenklich an und meinte: „Das hört ſich an, als hätten 
Sie Ihr Leben lang nicht3 andere8 getan. Sie ſind ein geborener 
Redner.“ Dieſe Bemerkung des. Pfarrers und der Ernſt, mit dem ſi? 
gemacht wurde, löſchte den lezten Reſt von Schüchternheit in mir aus 
und bald ſchon ſchoß das ſtarke Selbſtbewußtſein in“ mir auf, das. den 
meiſben jungen Leuten ohnehin nicht zu mangeln pflegt. Auf einer
	        
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