Full text: Arbeiter-Jugend - 12.1920 (12)

Mit letzterer Parole vereinigte ſic erſtere in der Form, daß 
Nationalwerkſtätten mit ſtaatlicher Unterſtüßung ge- 
fordert wurden; auch für ſozialiſtiicche Genoſſenſchaften im 
Sinne Fourier3*) wurde in Rede und Schrift Propaganda gemacht. 
Etienne Cabet aber begann nun ernſtlich mit ſeiner kommum- 
niſtiſchen Agitation, die für das allgemeine Wahlrecht als Mittel 
zur friedlichen Umwälzung der Geſellſchaft eintrat. Dieſe Form 
des Kommunis8mu3 fand jetzt auch in den Bund der Gerechten 
Eingang, in dem Dr. Hermann Ewerbed> aus Danzig bald der 
Hauptwortführer der Cabet'ſchen Jdeen: wurde; er hat Cabet3 
Utopie: „Die Reiſe nac< Jkarien“ auch ins Deutſche überſeßzt. 
Unter Ewerbe>d8s Einfluß bekam der ikarüche KommuniSmus 
in der Pariſer Mitgliedi<aft des Bunde38 der Gerechten die 
Oberhand. 
Weitling hat diejem Wandel nicht beigewohnt, da er mittler- 
weile Pari3 für immer verließ, hat ihn aber auc< innerlich nicht 
mitgemacht, obwohl er in der franzöſiſchen Hauptſtadt noch jene An» 
ſtöße miterlebt hat, die das Denken anderer über die Verſchwörungs- 
und Putſchatmoſphäre hinaustrieken. Den Weg von der kommu- 
niſtiſchen Sektenbeweauna zur proletariſchen Maſſenbewegung 
hat er auch in ſeinem Schweizer Wirkungskrei8 nicht gefunden, der 
freilich auch bei mangelnder Großinduſtrie kaum dazu geeignet war, 
Imnverhim hat er auf ſeine Art dort Beträchtliches geleiſtet. 
Freilich arbeitete er auf nicht ganz jungfräulichem Boden. 
Unter den deutſchen Arbeitern in der Schweiz hatte ſich in den 
. dreißiger Jahren eine jungdeutſche Bewegung geltend gemacht, die 
an Hambach**) anknüpfte und mit dem Bund der Geächteten in Ver- 
bindung ſtand, aber auch gleich dieſem Lamennais' „Worte eines 
Gläubigen“ auf ſich wirken ließ. Die Schweizer Tagjaßung war 
Schlicßlich dagegen vorgegangen, aber Trümmer von Jungdeutſch- 
land beſtanden fort und acewährten Weitling gewiſſe Anfnüpfungs- 
punkte. In der franzöſiſchen Schweiz hatten außerdem kommu- 
niſtiſcche Idoon einigen Anhang von den Zeiten her, als 
Buonarotti***) in Genf weilte und wirkte. In Genf ſchlug nun auch 
Weitling ſeinen erſten Wohnſiß auf und half hier und ander3wo 
in der Schweiz Mitgliedſchaften des Bunde3 der Gerechten be- 
'gründen, al8 geheimen Kern öffentlicher Vereine, wie Bildungs- 
*) Charles Fourier (ſprich: furieh, dreiſilbig), 1772-1837, einer 
der großen Utopiſten, der ein bis ins Einzelne gehendes Syſtem der 
Umgeſtaltung der ſozialen Verhältniſſe aufitellte. 
**) Das Konſtitutionsfeſt auf der Hambacher Schloßruine bei Neu- 
ſtadt a. d. Haardt in der Rheinpfalz am 27. Mai 1832 war al8 Nachhall 
der franzöſiſchen Julirevolution eine mächtige Demonitrat'on füddentich'r 
Demokraten und Revolutionäre gegen die troſtloſen politiſchen Zuſtände 
jener Zeit. 
&x*) Kommuniſtiſcher Agitator, Schüler de3 im Jahre 1797 in Paris 
hingerichteten Kommuniſten Babeuf (ſprich: Baböff). 
 
 
 
 
 
 
Kreiskonfevenz der Vorſtände unſerer Jünglingsveveine Hielt ich meine 
erſte Stegreifrede in der Debatte. Selbſtverſtändlich war es eine bebhaft2 
Oppoſitionörede. Ob fromm oder frei =- den Alten ſteht die Jugend 
immer in Oppoſition gegenüber. - 
J< war nun von meinen redneriſchen Fertigkeiten vollauf über- 
zeugt und litt ſchon ſtark am Nednerfimmel, der ſeinen Opfern vortäuſcht, 
„man fönne über alles und jedes reden, weil einem die Worte leicht von 
den Lippen fließen. Was3 Wunder, daß ich nun „wiſſenſchaftlich“ zu 
werden „begann! Ich ſchrieb aus alten Büchern einen Vortrag über 
Jeſuitiamus8 zuſammen und ſprach über Orthodoxie, Reformation und 
Katholigiömus mit einer Sicherh2it, als hätte ich ein Menſchenalber 
Theologic und Philoſophie ſtudiert. Dabei redete ich in dem Sälchen vor 
den zwei Dußend Zuhörern mit einer Stimmgewalt, als hätte ich eine 
tauſendföpfige Gemeinde durch meine Predigt für den Proteſtanti3mus 
zu begeiſtern. Wer weiß, zu welcher redneriſchen Selbſtüberhebung ich 
mich noch verſtiegen hätte, wenn nicht ein beruflicher Stellenwechſel mir 
begreiflich gemacht hätte, wieviel ich zunächſt an Buchführung, Zins» 
rechnung, Baybweſen, Wechſellehre, fremdſprachlichen Korreſpondenzen 
noch zu lernen hatte, um in dicſer rüchternen Welt des kaufmänniſchen 
Kontor8 meinen Poſten aus3zufüllen, wo redneriſc<e Phraſen nichts, 
dagegen Wiſſen und Klarheit recht viel gelten. 
So glänzte ich nur ſelten noch als Verein5sredner. Einmal noh als 
der nzue Bürgermeiſter unſeren Verein beſuchte und ich die Begrüßung3- 
rede hielt. Damals ſtand ich recht beklommen vor dem hohen Herrn. 
Jett ſind längſt die Rollen vertauſcht. Jhm bin ich der „gebietende"“ 
Führer unferer großen Stadtverordnetenfraktion, und er iſt mir ein 
Mann, dem Gott ein Amt, aber feinen Verſtand g2geben hat. : Ich habe 
ihm nie geſagt, daß ich vor ſechzehn Jahren einmal Lampenfieber vor ihm 
hatte und mir wunder was einbildete, weil ein Bürgermeiſter meinen 
Phraſen einige Worte der Anerkennung widmete. Denn ich war damal2 
in die Zeit des Phraſendreſchens gekommen, und nur mit Gruſeln leſe 
ich jeßt da3 Zeug nah, das ich Anno 1902 von mir gegeben habe: lauter 
tönende Worte, gekünſtelte Saßbildung -und geiſtreichelnde Spielerei, 
| (Schluß S. 6.) 
Arbeiter Jugend H | | 3 
erwei ame; 
und Geſangvereine; Weitling3 Spezialität aker waren die Speiſe- 
vereine, die nach ſeiner Jdce einen Keim kommuniſtiſcher Gejell- 
ſchaft darſtellen und die Teilnehmer organijatori.c< ſchulen, außer- 
dem aber Geldmittel abwerfen ſollten. Die optimiſtiſchen Erwar- 
tungen, die er in diejer Hinſicht auf die Speiſeorganiſationen ſetic, . 
verwirklichten ſich freilich feineöSwegs3. 
Dagegen hatte er den unzweifelhaften Erfolg, nicht nur in der 
franzöſiſchen, ſondern auch in der deutſchen Schweiz, an einer 
größeren Reihe von Stellen dem Bunde der Gerc<ten Mitglioder 
zu werben, freilich weniger unter den Schweizern, als unter den 
zugewanderten Deutichen. Merkwürdig iſt die kurze Prinzipien- 
erflärung, die neuen Mitgliedern bei ihrer Einführung zur 
Kenntnis gebracht wurde. Danach ſind die Arbeiter es endlich 
müde, für die Faulenzer zu arbeiten, in Entbehrung zu leben, 
während andere im Ucberfluß ſwelgen. Sie wollen ſich von den 
Egoiſten feine drückenden Laſten nrehr auferlegen laſſen, keine Ge- 
ſee mehr reſpeftieren, welche die zahlreichſten und nüßlichſten 
Menſc<henklaſſen in der Erniedrigung, Entbehrung, Verachtung und 
Unwiſſenhcit erhalten, um einigen wenigen die Vittel an die Hand 
zu geben, ſich zu Herren dieſer arbeitenden Maſſen zu machen. Sie 
wollen frei werden und wollen. daß alle Menſchen auf dem Erden- 
rund ſo frei leben wie ſie, daß feiner beſſer und keiner ſchlechter , 
bedacht werde al38 der andere, ſondern alle ſicß in die gejaniten 
Laſten, Mühen, Freuden und Genüſſe teilen, d. h. in Gemeinſchaft 
leben. Ter zu dieſem Zweck geſchloſſene Bund müſſe geheim bleiben, 
um ein Wirken auch in den Ländern möglich zu machen, wo durch 
öffentliches Auftreten den Feinden die Mittel zur Verfolgung an die 
Hand gegeben würden. Daher iſt auc Verſchwiegenheit über alles, 
wa3 in den Bunde8verſammlungen verhandelt wird, Verſchwiegen- 
heit auch über das Beſtehen des Bundes erſte Pflicht jedes Mit- 
gliedes. Zu den anderen Rflichten gehörte außer regelmäßiger 
Teilnahme an den Verſammlungen Zahlen des monatlichen Bei- 
trags, ſtändige Agitation für das fommuniſtiſiche Prinzip, Abon- 
nieren de8 Bunde3organs8, das erſt in Genf, unter dem Titel: 
„Hilferuf der deutſchen Jugend“, ſeit Januar 1842 in Vevey unter 
dem Namen: „Die junge Generation“ herauskam. Dieſe Monats5- 
ſchrift hatte gleich tauſend Abonmenten, 400 davon in PariS, 100 in 
London. Die Redaktion lag in den Händen Weitlings. der ſich 
in dieſer Schweizer Periode feines Wirken38 erſt recht einen libev 
rariſchen Namen machte; denn nun erſchien das Werk, das die 
Oeffentlichkeit auf ihn aufmerkſam werden licß. 
Die „Garantien der Harmonie und Freiheit“ 
kamen im Dezember 1842 in Vevey heraus. Im Vorwort des 
Buchs ſagt Weitling, ſeine Kameraden hätten ihm Mut dazu ein- 
geſprochen. Er teile ihrwx Meinungen, kenne ihr Verlangen und 
'hre Wiinſche, ſie gäben ihm die Gelegenheit, alſo wolle er ſich an die 
Arbeit machen. Weitling arbeitete alſo für ſie, wie ſie für ihn 
arbeiteten, und er ſagt von dem Erzeugni5 ſeiner geiſtigen Tätig- 
keit: „Vorlicgende8 Werk iſt nicht mein Werk, ſondern unſer Werk; 
denn ohne den Beiſtand der anderen hätte ich nichts zuſtande qe- 
bracht. Die geſammelten materiellen und geiſtigen Kräfte unſerer 
Brüderſchaft habe ich in dieſem Werke vereinigt. Dieſe Zujammen- 
ſtellung wird aber in der Folge noch bedeutend verbeſſert werden; 
denn vollkommen iſt nicht8 unter der Sonne.“ Wonn er danach 
die proletariſchen Befreiung8gedanken al8 Kollektivarbeit anſicht, 
ſo folgt daraus von ſelbſt, daß er ein in einem gegebenen Moment 
aus einem eng begrenzten Krei8 hervorgegangene8 Syſtem nicht 
al38 der Wei2heit lezten Schluß aus8geben kann. . 
Er erklärt denn auch ſchon im Vorwort und wiederholt an 
anderen Stellen, wie ſchon in ſeiner Erſtlingsſchrift, daß nicht zu- 
viel Wert auf perſönliche Liekling3pläne zum Neubau zu legen fol 
und nie eine für alle Zeiten unabänderlich beſte Organiſation der 
Geſellſchaft gefunden werden könn». Das Ideal einer Geſellſchafts- 
ordnung unterliegt vielmehr auch dem Geſeß de8 Fortſchritts, das 
Weitling in den „Garantien“ verihiedentlich al38 maßgebend im 
Leben der Menſchheit hinſtellt. 
So hindert ihn denn auch ſeine richtige Ahnung, daß die ge- 
ſellſchaftliche Entwieklung nicht von einem Individuum! in allen 
Einzelheiten vorauserkannt und -beſtimmt werden kann, nicht, 
ſich in dieſe Einzelheiten der zukünftigen Geſellſchaft doch mit noch 
viel größerer Genauigkeit zu vertiefen, als dies in der Schrift von 
1838 der Fall iſt. Die Grundlagen ſind im allgemeinen diejelben. 
Ein weſentlicher Unterſchied beſteht nur darin, daß Weitling über 
die Beſckzung aller der Aemter in der Zukunfts8geſellichaft, die be- 
ſowdere Fähigkeiten und Fachkenntniſſe erfordern, nun ander3 
denkt als vor einigen Jahren. Da hielt er no< an dem Grundſaß - 
bloßer Wahl in verſchiedenen Graden feſt. Jekt aber iſt er zu der. 
Auffaſſung gelangt, daß auf dieſe Art nicht die Gewähr für eine 
Herrſchaft der Philoſophie, d. h. der Wiſſenichaft, geboten iſt, wie. 
er ſie für notwendig hält. Dieſe erſcheint ihm nur denkbar, wenn 
über die Zulaſſung zu allen Stellen, in denen beſondere Fähig- 
keiten notwendig ſind, nur Perſonen entſcheiden, die jelbſt ſache 
kundig ſind, | (Fortſezung folgt.)
	        
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