Arbeiter-Jugend 313
national, deutſchvolksparteilich oder angeblich unpolitiſch ſind, ſind hier im Beſitz des
Zentrums. Wie ſchwer dieſe Lokalblätthen auf dem Land und in den kleinen Städten zu
verdrängen ſind, iſt allgemein bekannt. -
Man kann an der tatſächlichen Kulturarbeit des Zentrums nicht achtlos vorübergehen.
Hier verlernt man es, die Gegenſätlichkeit zur Kirche leichtfertig in billigem Spatt zum
Ausdrud zu bringen. Auch eine denkbar ernſte Auffaſjung von der dem Zentrum entgegen»
zujezenden Arbeit vermag vor der Hand nicht an die Schaffung eines Gegengewichtis zu
denfen. Es iſt ein Unſinn anzunehmen, man könne das Zentrum einfach verdrängen, wie
andere Parteien -bekämpft werden. Das Zentrum iſt die politiſche Partei mit einem ſo
tklugen Aufbau, mit ſo vorſichtiger und diplomatiſcher Führerſchaft, daß die Wege, auf denen
man ihm begegnen kann, ganz andere ſein müſſen, wie wir ſie uns aus der Ferne vor
ſtellen. Das Zentrum hat überall ſeine Fühler, alles webt und arbeitet in ihm zuſammen,
ohne Konflikte, ohne Mißerfolge, ohne Fehler mit einer ſicheren Veberlegenheit, die an
allen E>en und Enden immer wieder fühlbar wird. Hat man beiſpielsweiſe je davon gehört,
vaß in der gewaltigen katholiſchen Jugendbewegung je ſolche Streitereien und Selbſtzer»
fleiſchungen zutage getreten ſind wie in der ſozialiſtiſchen Jugend, im Wandervogel oder
unter den „Freideutſchen“?
Seit 1917 iſt ein Anſteigen der ſozialdemokratiſchen Preſſe zu verzeichnen. Zu Anfang
des Kriegs beſtand im linksrheiniſchen Gebiet von der Pfalz an abwärts eine einzige ſozial»
demokratiſche Zeitung, die „Rheiniſche Zeitung“ in Köln mit 18 000 Abonnenten. Heute
zählen wir in dieſem Gebiet ſechs Zeitungen, in Köln, Aachen, Koblenz, Trier, Saarbrücken
und in Oberſtein an der Nahe, mit zuſammen über 150 000 Leſern. Eine Anlehnung an
vie beſonderen Verhältniſſe des Rheinlandes hat dieſe Fortſchritte ermöglicht.
Wir glauben, daß dem Sozialismus die Zukunſt gehört. Aber wir dürfen uns von
blindem Idealismus nicht den Bli> trüben laſſen für die Lage der Verhältniſſe in der
Wirklichkeit.
Die Courths-Maßler.
Von Anna Iunſſen.
447 ilig ſtürzen die Menſchen ſich auf den Zug. DJeder will ſeinen Plaßz erobern. Der
8 S5“ Frühzug befördert Arbeiter und Angeſtellte an die Stätten ihrer Tätigkeit. Ich
Gf gerate in ein Abteil, das voll junger Mädels iſt. Sie ſcheinen alle noch müde zu
jein, mance gähnen. Kaum aber, daß ſich der Zug recht in Bewegung geſetzt hat, ſo
ergreifen die kleinen Fräuleins haſtig ihre Mappen und verzehren inbrünſtig --- ein
geiſtiges Frühſtücd, das ſich zu meinem Entſetzen als Courths-Mahler-Romane entpuppt.
Meine zierliche Nachbarin hat ein = wie es ſcheint --+ beſonders ſpannendes Buch mit
dem ſchönen Titel: „Er ſoll dein Herr ſein.“ Ich werde lammſromm beim Leſen dieſes
Titels und ſchlage errötend die Blike zu Boden. Die Kleine lieſt, lieſt mit Andacht, mit
Hingebung, mit Seligkeit. Bald hat ſie Tränen in den Augen, und als ſie vor Rührung
nicht weiter leſen kann, frage ich teilnahmsvoll: „Was iſt „ihm“ oder „ihr“ denn paſſiert?“
"= „Ady“, ſeufzt das Mädchen traurig, „er glaubt, ſie liebt einen andern, und ſie glaubt, er
liebt eine andere“. =- „Das iſt ja ſchre>lich," meine ich gerührt = und betrachte das rundliche,
kleine Gänshen mit ſtillem Schmerz. Das aber iſt nun ganz redſelig und erzählt oon
ſc<önen Romanen, die „Hedwig“ ſchreibt. Ein beſonders ſchöner heiße „Arme, kleine Anni“.
Zum Schluß fei die arme, kleine Anni eine Grafentochter geweſen. Ich bin natürlich von
einem ſolchen Wunder äußerſt überraſcht. --- |
Als das Geſpräch perſönlicher wird, erzählt das Backfiſch<en, vaß ſie im Geſchäft iſt,
morgens um ſechs auſſtehen und dreiviertel Stunden fahren muß in die nahe Stadt. Da
ihre Mutter das Leſen nicht erlaube, benuße ſie die Ciſenbahnfahrt dazu. „Dieſe Zeit ſollten
Sie beſſer ſchlafen,“ ſage ich. =- „Schlafen? Aber ich leſe doch ſo gerne.“ -=-“- „Dann ſollten
Eie etwas Vernünftiges leſen." = „Iſt es denn nicht gut? Es iſt doch ſo ſchön!“ ſagt
unſehlbar darauf ſo eine „ganze“ Gans, und man ſteht vollſtändig machtlos da und iſt
„erledigt“. ---
Solche Erfahrungen macht man ſehr häufig. Ein Lehrer ſagte mir, ſeine Frau wolle