Full text: Arbeiter-Jugend - 13.1921 (13)

Nn Arbeiter-Jugend - 341 
Das Traurige iſt nur, daß der junge Arbeiter, wenn er zum Beiſpiel den „Baum im 
Odenwald“ beſingt, dieſen Baum nur aus dem Liede kennt. Er hat ihn weder geſehen, noh 
je von ihm geerntet. Teuer mußte er während des Krieges ſeine Aepfel bezahlen, wenn es 
ihm überhaupt möglich war, den Rreis zu erſchwingen. Was der Wandervogel und was 
die Arbeiterjugend neuerdings wollen, die alten Volksſitten wieder zu Ehren bringen, 
entbehrt in einer Hinſicht der ſeſten Grundlage. Die wirtſchaftliche Grundlage für ein neues, 
reines Leben iſt noch nicht da. Wenn jeder Proletarier die Möglichkeit haben wird, ſelbſt die 
Erde zu bebauen, ſo werden ihm die ländlichen Lieder ſelbſtverſtändlich ſein. Jeßt ſind ſie 
nur der Ausdru> ſeiner Sehnſucht nach einer Aenderung der ſozialen und ökonomiſchen 
Verhältniſſe. 
Natürlich tut ſich in dieſen Beſtrebungen vor allem Jugendluſt und Freude kund. "Das 
Geſchenk, das die Arbeiterjugend in Weimor vom Wandervogel angenommen hat, iſt in 
dieſer Beziehung unſchäßbar. Die Gegengabe an den Wandervogel iſt noch nicht überreicht, 
aber vielleicht wird ſie es bald, denn auch die Arbeiterjugend hat, vermöge ihrer Eigenart, 
den anderen Teilen der Jugend viel zu geben. Das kann ſie freilich nur, wenn ſie das 
bleibt, was ſie iſt: die in der großen Bewegung der Alten marſchierende proletariſche 
Jungtruppe. Dieſe hat die Aufgabe, ſich dafür vorzubereiten, daß ſie das Werk der 
Väter fortſeßt. Die Arbeiterjugend darf von dieſer Zielrichtung nicht um Haaresbreite 
abweichen. Es wird zuweilen verſucht, ſie in einen künſtlichen Gegenſaß zu den Alten zu 
bringen, indem er ihr weismacdcht, erſt von ihr ab datiere „der neue Menſch“. Das iſt Ueber» 
hebung. Die Kameradſchaft, die uns auf der Landſtraße mit den Wandervögeln verbindet, 
darf nicht dazu führen, daß wir mit ihnen einer Meinung ſind. Die bürgerliche Jugend- 
bewegung weiß ja nichts von einer Aufgabe in der Zukunft. Sie will nicht die Dinge 
umändern wie wir Sozialiſten, ſondern ſich ſelbſt. Das iſt an ſich ein lobenswertes Vor» 
haben, aber die Wege ſind falſch. Ein Menſch kann nur dadurch vollkommener werden, 
daß er ſich mit den Dingen beſchäftigt. Sucht er ausſchließlich ſeine eigene 
Berſon abzuändern, ſo gerät er in die Aeſthetik: er wird ein Sklave der Dinge. Es iſt 
die große Gefahr im Wandervogel, daß Laute, Lied und Tanz zum Selbſtzwe> werden. 
Die Frage, die ſeit Weimar innerhalb der Arbeiterjugend zur Debatte ſteht, iſt ſchon 
ſo alt wie die Menſchheit ſelbſt. Am ſchönſten und ergreifendſten iſt ſie in dem <riſtlichen 
Mythus den Menſchen nahegebracht worden. Gott wird Menſch, alſo er verſtofflicht ſich, 
weil nur durch die Dinge der Geiſt ſichtbar wird. Aber das Ding ſelbſt iſt ein Nichts. 
Chriſtus fährt, nachdem er das Stoffliche aufgegeben hat, wieder auf zum Vater. Es liegt 
darin nichts weiter als die einfache Lehre: Du ſollſt die Natur beherrſchen, o Menſch! 
Die glüclichſte Löſung wäre die: Nachdem der Wandervogel uns die Augen für das 
S<öne geöffnet hat, zeigen wir ihm, wenn er zu uns kommt, was das Gute iſt: der 
Kampf um die Zukunft! 
 
Der junge Laſſalleaner. " 
Bw 8 Sy eine Gewandtheit im Leſen verſchaffte mir bald eine für meine frühzeitige Ent- 
y | 8 widlung bedeutſame Arbeit: Ich mußte (als achtjähriger Knabe) in der Arbeits- 
dy K Dy ſtube des Vaters den Zigarrenmachern vorleſen. Und was? Sozialiſtiſche 
Schriften und Zeitungen! Damals, es war im Jahr 1868, war die ſozialiſtiſche Bewegung 
no) in ihren Anfängen. In Hamburg-Altona allerdings hatte ſie unter den Arbeitern ſchon 
viele Anhänger. Am ſtärkſten verbreitet aber war die Bewegung unter den Zigarrenmachern, 
die lange Jahre hindurch in meiner Heimat die treibende Kraft und die Leitung der ſozial- 
demofratiſchen Partei bildeten . . . . Sie waren in gewiſſem Sinne frei, konnten in ihren 
*; Wir entnehmen dieſen Abſchnitt den ſoeben im gemeinſamen Verlag von I. H. W. Dietz und der „Vorwärts“- 
Buchhandlung unter dem Titel: „Es klingt im Sturm ein altes Lied“ erſchienenen Erinnerungen von 
Iulius Bruhns. Der Verfaſſer ſchildert darin ſeine Jugendzeit und ſeine Erlebniſſe unterm Sozialiſtengeſey. Er hat 
dieſe Geſchichten aus dem Heldenzeitalter der Sozialdemokratie vornehmlich unſerm Jungvol? gewidmet, und er hofft, 
daß ſie ihm in unterhaltender Form Kenntniſſe vermitteln mögen, die ihm für ſein Verſtändnis der Gegenwart und 
ſür die eigne Entwieklung nühlicd) ſein werden. In der Tat wird auf dem Hintergrund der noch jugendlichen Arbeiter- 
bewegung in friſcher, packender Darſtellung der Auſſtieg eines jungen Arbeiters geſchildert, ein echt proletariſches 
Jugendleben, voll von Arbeit und Entbehrungen, aber auch beſchwingt vom Glauben an den Sozialismus, ' 
 
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