Full text: Arbeiter-Jugend - 13.1921 (13)

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forichern mühſam aufgeſpürt. So verhält es ſic) auch mit der Entſtehung des deut- 
Ihen Kaiſerreichs von 1871. Fragen der Zollpolitik ſpielten hierbei eine bedeutſane 
Rolle: die preußiſchen Agrarier brauchten neue, begveme Abſaßgebiete für ihre 
Produkte und ſtrebten daher ſchon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahr» 
hunderts nach Schaffung eines einheitlichen deutichen Zollgebiets. Die Bepürfniſſe 
des auffommenden induſtriellen Bürgertums aber gingen viel weiter: es drungte 
hinaus über die engen Schranken der Kleinſtaaterei, die kein ausreichendes Feld 
für ſeine Betätigung bot, rief nach einem einheitlichen deutſchen Marktgebiet mit 
einheitlicher Rechtsverfaſſung, . gleicßhem Münz-, Maß- und Gewoichtsſyſtem. Die 
neuen, gewoltigen Produktivkräfte, die im Werden waren, mußten die Feſſeln der 
Liliputſtaaten ſprengen und ſich [ſo die ihnen gemäßen Produktions» und Rechtsver- 
hältniſſe ſc<affen. 
Das ſind, wenn wir die Lehren unſerer materialiſtiſczen Geſchichtsauffaſſung 
anwenden, die ökonomiſchen Grundlagen der geſchichtlichen Entwicklung jener 
Periode. Auf den Klaſſenintereſſen der lebendigen Träger jener Zeit beruht die 
ganze Ideologie von der Einigung der bevtſchen Stämme. Zwei Ziele, zwei 
Stpvebungen ſind es, die die Geſchichte der europäiſchen Staaten, beſonders die 
Deutſchlands, im 19. Jahrhundert kennzeichnen: das Streben nach Beſchränkung dex 
abſoluten Fürſtenmacht durch Erzwingung von Staatsperfoſſungen unt das Streben 
nach nationalen Staaten, Beide Tendenzen wären aber ohnmächtig, werim nicht das 
wirtſchaftliche Intereſſe der herrſchenden Geſellſchaftsſchichten die Grundlage ihrer 
Entſtehung geweſen wäre. 
So fommt in dem damaligen Ruf nac der Ginheit Deutſchlands der Klaſſen- 
kamp] der Bourgeoiſie gegen die Mächte zum YAusdrud, die an der Aufrechter- 
haltung der Zerſplitterung Deutſchlands intereſſiert waren: die Fürſten. Dex 
Klaſſenkampf der Bourgeoiſie gegen das Fürſtentum wird im 19, Jahrhundert ge- 
führt unter der Barole der Einigung Deutſchlands. 
Und die Arbeiterklaſſe? Durfte ſie dieſem Kampfe ganz teilnahmslos zuſehen? 
War es ſür ſie gleichgültig, ob Deutſchland einen großen Staat oder eine Menge von 
Kleinſtaaten bildete? Dſſenbar lag das Intereſſe der Arbeiterſchaft ebenfalls in der 
Richtung der Bildung eines einheitlichen Deutſchen Reiches. Und das iſt natürlich; 
denn in einem Großlſtaat laſjen ſich ja die Forderungen der Arbeiterſchaft weit 
eher durchſetzen als in fünfundzwanzig kleinen Stamowejen Siellen wir 
uns einmal vor, wie es heute um die deutſche Arbeiterſchaft beſteili wäre, wenn die 
ſtaatliche Zerriſſenheit Deutſchlands in dem früheren Umfang noch fortbeſtänds: von 
einer einheitlichen und großzügigen Sozialpolitik könnte keine Rede ſein, die agra- 
riſchen und reaktionären Staaten wie Bayern und Mecklenburg würden noch heute 
der Arbeiterichoft die Rechte vorenthalten, die ihr die ſortgeſchrittenen Induſtrie» 
ſtaaten notgedrungen haben zugeſtehen müſſen. Die einheitliche Reichsgejeßgebung 
jeit 1871 hat wie auf allen anderen Gebieten [ſo auch auf dem der Sozialpolitik eine 
wenigſtens einigermaßen gleichmäßige Ordnung für das ganze Reich geſchaffen. Hier 
gilt noch heute jenes Wort, das Ferdinand Loſſalle vor über ſechzig Jahren in 
ſeinem Drama „Franz von Sickingen“ gegen die deutſche Kleinſtaaterei ausrief: 
„Gs ſtreicht nicht mehr die DVugluft der Geſchichte 
Durch ſolche Landparzellen.“ 
Eine andere Frage freilich iſi es, ob die Einheit Deutſchlands ſv, wie de 1871 
Hergeſtellt wurde, den Forderungen der Arbeiterſchaft entſprach. Wie die Einigung 
von den Führern der deutſchen Arbeiterbewegung und von allen wirklichen Demoo 
kfraten gedacht war, darüber belehren uns zahlreicpe Kundgebungen aus jenen Jahr» 
zehnten. Schon die Revolution pon 1848, die ja von Bürgern und Arbeitern gemeine
	        
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