Full text: Arbeiter-Jugend - 13.1921 (13)

Arbeiter-Jugend “ | 
Zwei Romgne von Golfſries Keller, 
| Von Henni Lehmann, 
D H eber Gottfried Kellers Leben und Schaffen hat wiederholt die „Arbeiter»- 
5 3 ugend“ und auch der Jungvolt-Almanach Aufſätße gebracht. Heute ſoll hier 
<td DON den zwei Romanen die Rede ſein, die Gottfried Keller geſchrieben hot 
und vie einen Höhepunki im Schaffen dieſes großen Deutſch-Schweizer Erzählers be- 
deuten, vom „Grünen Heinrich“ und von „Martin Salander". „Der grüne Heinrich“ 
gehört in die Reihe der Entwieklungsromane, wie man gern ſolche Romane bezeichnet, 
die die Entwicklung einer einzelnen Rerſönlichkeit, ihr inneres Reifen und Werden 
idildern. Ihnen pflegt man die ſozialen Romane entgegenzuſtellen, die Verhältniſſe 
and Lebensbedingungen einer Gefellſchaſtsſchicht, eines Kreiſes widerſpiegeln, alfp 
die Umwelt, die den einzelnen umgibt. Ein Eniwiälungsroman in vollitem Sinne 
iſt David Copperſielb von Dickens, iſt Goethes Wilhelm Meiſter, die den Werdegang 
des Helden bis zu ſeiner inneren Reiſe und Feſtigung vorführen, bis zu dem Punkt, 
an dem er ſeinen Weg und ſein Ziel gefunden hat. 
So auch „Der grüne Heinrich“, dem Kellers eigene Lebensgeſchichte zugrunde 
liegt, freilich nicht in allen Tatſachen genau nacherzählt, ſondern umgeſtaltet und ab- 
gerundet, wie es dem Dichter künſtleriſch notwendig erſchien. Aber doch iſt es Gott» 
fried Keller ſelbſt in jeinem Streben, Irregehen und Finden, den wir im „Grünen 
Heinrich“ ſehen, und nirgends kann man darum den Menſchen Keller beſſer kennen- 
lernen, als aus dieſem ſeinen Werk. 
Die Erzählung beginnt mit dem Bericht über die Eltern Heinrichs, über den 
jungen, ſtrebſamen Vater, der in der Welt geweſen iſt und Kenntniſſe und Tüchtigkeit - 
mit heimgebracht hat, die fleißige, ſelbſiloſe, ſparſame Mutter, die nach dem frühen 
Tode des Mannes nur ſür ihr Kind lebt und ſorgi. Heinrich iſt ein ſeliſames Kind, 
ſtill, träumeriſch, zurü&gezogen, dann wieder der Wildeſte unter ven Wilden, gehorſam 
und gut, dann von plötzlichem Eigenſinn, wahrhaftig, und doch zuweilen fabelhaſte 
Lügengeſchichten ſpinnend. Wegen eines dummen Streichs wird er mit allzu ſtarker 
Härte von der Schule verwieſen, er ſoll einen Veruf wählen und ſetzt es durch, daß 
er die Künſtlerlaufbahn ergreifen, Maler werden darf. Freilich iſt er zu arm; die 
Mutter und er kennen Mittel und Wege zu wenig, als daß er nun hinausgehen und 
eine regelrechte Ausbildung ſuchen könnte. Bei den ſonderbarſten Lehrmeiſtern, die 
ihm .der Zufall bringt, nimmt er Unterricht, bis er endlich fortzieht in die große 
Kunſtſtadt, nach München, mit Hilfe eines kleinen Erbteils, das ihm dort den Auf« 
enihalt ermöglichte. | 
Als dieſes und auch die Mitiel ver Mutter aufgezehrt ſind, hungert er erſt ein 
Weniges, dann verkguft er nacheinander alle ſeine Zeichnungen und Entwürfe, 
jtreicht Fahnenſtangen und erzielt ein ileines Sümmdhen, mit dem er die Wanderung 
in die Heimat antreten will =“- eine Fußwanderung, denn zur Bahnfahrt reicht es 
nicht. Daheim will er einen anderen Beruf ergreifen, dem allgemeinen Boſten ſeines 
Bolkes dienen, denn er erkennt, daß er als Maler nicht das Höchſte erreichen wird, 
nicht an ſeinem Rlaße ijt. 
Auf der Heimreiſe erlebt er noch ein ſeltſames Abenteuer in einem Grafenſchloß, 
in dem er ſeine verkauften Zeichnungen wiederfindet und mehrere Monate zubringt. 
Schon vorher und auch hier hat er, in allerlei Gefühlserregungen, Sorgen und Be- 
venten verſtri>t, der Mutter nicht geſchrieben. Als er daheim anlangt, findet er fie 
jierbend, Ihr Tod iſt durch bie Sorge um ihn beſchleunigt worden. 
„Jeßt erſt, einjam und in Leid, erkennt Heinrich, was ihm die Mutter geweſen. 
An einer anderen Stelle ſagt er das wunderſchöne Wort, es ſei ihm mit der Mutter 
gegangen wie mit dem guten Hausbrot, von dem man nie wiſſe, wie bitter nötig 
 

	        
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