Full text: Arbeiter-Jugend - 14.1922 (14)

Arbeiter-Jugend 151 
Ic kann ſie nicht glle vorſtellen, nur das eine muß man ſagen, die Mehrzahl hat für 
gute Lektüre leider noch -kein Verſtändnis. Immer und immer wieder ſiehſt du den Schund 
im hundert Variationen auftauchen. Da tut es einem wohl, wenn man in den Händen der 
Fahrgäſte, Eyth, Gorki, Di>ens, Tolſtoi, Zahn uſw. findet, wie 3. B. bei dem Tiſchler- 
lehrling a. D., der längſt Geſelle und jeßt verheiratet iſt, der in den Jahren, in denen wir 
uns regelmäßig trafen, mit wahrer Andacht faſt die ganzen Klaſſiker und ebenſo die „Arbeiter- 
Jugend“ durchlas, den ich öfter mit Büchern aus der „Kleinen Bibliothek“ von Dietz in Stutt- 
gart traf und deſſen Entwieklung ich faſt miterlebt habe. 
Immer aber -- freilich mit gewiſſen Einſchränkungen =“ habe ich beſtätigt gefunden, 
daß jeder nach den Büchern den Menſchen beurteilen kann. Nicht nach einem Buch, aber 
nad) dem dritten, vierten Schmöker biſt du im Bilde. Darum beachtet mal im den nächſten 
Wochyen eure Umgebung: Seht zu, was ſie für Bücher aus den Taſchen zieht. Mit ziem- 
licher Sicherheit werdet ihr ſinden, daß mit dem beſſeren Buch auch der ganze Kerl gewinnt, 
der es in den Händen hat. Mit der Zeit färbt eben jedes Buch ab, wenn auch nicht mit 
mathematiſcher Sicherheit feſtzuſtellen iſt, wie groß der Einfluß der Bücher iſt, beſſer oder 
ſchlechter macht im gewiſſen Sinn alles, was wir leſen. Meine Straßenbahnbekannten ſind 
der beſte Beweis dafür. 
 
 
In Dunſff und Qualm! 
Von Adolf Domni>. 
“DF ſt das Rauchen notwendig? Hm. . . Iſt es geſund? Für den Raucher --- vielleicht. 
B Wenigſtens dauert es ziemlich lange und koſtet ein anſehnliches Vermögen, bis ſich 
M jemand mit Nikotin ſelbſtmordet. Warten kann man nicht darauf, trogdem bei dem 
Rauchen Kohlenoxydgaſe, Blauſäure und Nikotin ſich zum Angriff auf die menſchliche Geſund- 
heit zuſammentun. 
Wer ſich mit Leuchtgas vergiften will, iſt faſt immer rüdſichtsvoller. Er ſchließt ſich in 
ſein ſtilles Kämmerlein und verbringt ſeine lezten Stunden in tiefſter Andacht mit ſich ſelbſt. 
Anders der Raucher oder beſſer geſagt, die Raucher. Sie lieben Geſelligkeit. Die Eiſen- 
bahn 3. B. ſtellt einen ganzen Wagen zur Verfügung, in denen die Raucher gemeinſam einen 
Wettkampf mit der Lokomotive unternehmen. Solche Abteile ſind beſonders empfehlenswert. 
Die Luft, wie an nebligen Novembertagen, grau, undurchſichtig. Dafür zeichnen ſich dieſe 
Abteile immer durch eine auffallende „Sauberkeit“ aus, wenn man über die Aſche, die 
Zigarren» und Zigarettenreſte hinwegſehen will. 
Am überzeugendſten klar wird mir die hohe kulturelle Bedeutung des Rauchens in 
einem größeren Lokal oder gar in einer Verſammlung. Aus hunderten von kleinen, un- 
ſ<einbaren Schloten ſteigen grau-bläuliche Dämpfe zur Dee empor, irren dort ziel» und 
planlos umher und ſenken ſich als eine di>e Nebelſchicht über alle Anweſenden. Das Licht 
verdunkelt ſich, der Redner leidet unter Erſti>ungsanfällen, und die Frauen und Nicht» 
raucher fühlen Schmerzen in Naſe, Hals und Augen. Und am anderen Tage, da deigen 
ſich die wohltuenden Folgen der geſtrigen, di>en Qualmwolke in den Augen, die vor OCdhmerzen 
den Dienſt verſagen möchten. 
Das beweiſt nichts gegen das Rauchen. 
Wer aus allen dieſen Gründen etwa die Raucher für unſozial halten wollte, der ver- 
kennt die ſittlich veredelnde Wirkung des Rauchens. 
Irautes Heim, Glü> allein! Wenn der Vater im traulichen Stübchen im Kreiſe ſeiner 
Lieben wie ein Kruppſcher Fabrikſchlot qualmt und Frau und Kinder ſich die rotgebeizten 
Augen reiben, dann liegt über dieſer Idylle ein Hauch von unbeſchreiblich zartem Reiz. 
Die tiefjten Poeſien über das deutſche Familienleben ſind ſicher im Bereich eines Ucker»- 
märtiſchen Glimmſtengels entſtanden. Dder man denke ſich das folgende ſtimmungsvolle Bild: 
Gehüllt in die undurchdringlichen Schwaden der dritten ſogenannten Jelix-Brafſil ſitt 
der junge Fauſt des Jahres 1922 an ſeinem Schreibtiſch, tief in geiſtiger Andacht verſunken. 
Da, leiſe, zärtliche Schritte! Die Tür klinkt auf und --- ein ängſtlich erſchro>enes: „Heinrid, 
wo biſt du denn? Hier kann doch kein Menſch durchſehen!“ ſäuſelt durch das ſtille Zimmer. 
Darum tadle mir niemand den Raucher! Er iſt der friedliebendſte Menſch von der Welt. 
 
	        
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