Full text: Arbeiter-Jugend - 14.1922 (14)

Arbeiter-Jugend | | 285. 
 
Und immer noch nicht war ich dem grauſigen Reigen entronnen. Kurz vor meiner Haustür 
überholte ic) ein Rudel junger Burſchen, die ſich gröhlend um eine Flaſche balgten. Das 
gehört auch zur Mondſcheinſtimmung nachts um 1 Uhr in einer ſtädtiſchen Straße! 
Id) hatte genug und ſchlüpfte ſchnell ins Haus, um mir in meiner Klauſe durch halb- 
ſtündiges Leſen die bitteren Gedanken zu vertreiben, damit mich nicht am Ende noch im 
Traum der Ulkoholteufel heimſuchte. 
Und das alles an einem Abend! Mancher wird es bezweifeln, und doch iſt 
nichts übertrieben. Freilich mag mir gerade einmal viel begegnet ſein, aber wer die Augen 
offen hält und nicht aus Bequemlichkeit oder gar Scham an ſeiner Umwelt vorbeiſieht, wird 
oſt das gleiche ſchauen können. 
Wer aber ſieht, der wird den Alkohol bekämpfen, auch ohne abgeſtempelter Anti- 
alkoholiker zu ſein. Er muß es in entſchiedenſtem Maße ſein, wenn er ein klaſſenbewußter 
Arbeiter iſt. Denn fragt unſere Kaſſierer in Partei und Gewerkſchaft, wer am meiſten bei 
der Beitragszahlung knurrt und über die „Zwedloſigkeit“ der Verbände und die „Bonzen“ 
ſchimpft. Die ſind's, die ihre paar ſchwer verdienten Papierſcheine in Gift umſezen und durch 
Zerrüttung ihrer Energie zu willigen Werkzeugen ihrer eigenen Ausbeuter werden. Aber ich 
will ſchließen, trozdem noc< manches zu ſagen wäre. Eins möchte ich euc<h, der Jugend, noh 
zurufen: „Seßt eure ganze junge Kraft ein, um nicht nur in euren Reihen, ſondern überall 
den grinſenden, heimtückiſchen Teufel Alkohol zu bekämpfen. 
Rachktfahrt. 
Von Heinz Liepmann. 
041 eſtern bin ich =- lacht nicht! -- ganz allein auf Nachtfahrt gegangen. Körperlich 
1 x DB und ſeeliſch müde kam ich von der Arbeit, Raſch zog ich meine Kluft an und ging 
WEF Mit. langen Schritten der Nacht entgegen. . . . Ich kam durch einen tiefen, dunklen 
Wald. Die Wipfel der Bäume rauſchten gewaltige Melodien. I< allein unter Rieſen! 
Langſam ſchaute ich mich um. Zwiſchen den letzten Stämmen ſah id die Sonne unter» 
gehen. Ihr Rot leuchtete wie brennende Sehnſucht. Langſam ſank es tiefer. Und plößlich 
war Nacht. -Ich ſchritt weiter. Atmete den Hauch der freien Natur und fühlte mir 
Schwingen wachſen. Ich trat aus dem Wald heraus auf eine große Wieſe. Der Mopd 
beſchien den dahinter liegenden Tannenwald. Unzählige Sterne grüßten mich. Vielleicht 
iſt ein jeder von ihnen eine Welt voll fühlender Weſen, und vielleicht macht dort auf 
dem Mars auch gerade ein winziges Menſchlein mit ſeiner rieſengroßen Sehnſucht eine 
Fahrt in die Nacht --. 
Dunkler Tannenwald nahm mich auf. Wie Menſchen, lebendige Menſchen in ver- 
knöcherte Grundſätze gepreßt, ſahen die Tannen aus. Und ganz, ganz oben, reicht doch 
ſchon ein Endcyen in den Himmel. Ein kühler Wind begann zu wehen, und roſcher 
ſchritt ich bergan. Der Hauch der Unendlichkeit grüßte mich, und jubelnd grüßte ich wieder. 
Weit re>te ich die Arme aus in meiner grenzenloſen Freude, denn ein wunderfeines 
Bild zeigte mir der Gipfel. Steil fiel der Berg unter mir ab, und unten ſchmiegte ſich ein 
Dörfchen an den Abhang. Es lag umgeben von Bäumen und Bergen. Wieder grüßte 
mich der Himmel, OD, wie verſteh ich die Sehnſucht des Menſchen, fliegen zu können! Meine 
Arme hätte ich ausbreiten mögen, um in die Unendlichkeit zu fliegen. Wahrlich: gibt es 
nicht Gott, ſv gibt es doch Göttliches. . . . . 
Ich legte mich nieder und ſchaute in den Himmel: „Freude, ſchöner Götterfunken, Tochter 
aus Elyſium, wir betreten freudetrunken, Himmliſche, dein Heiligtum!“ Ein großer Stern 
löſte ſich. aus der Maſſe der Brüder und brachte mir den Gruß ider Unendlichkeit. Und 
ich. wünſchte mir einen lieben Menſchen an die Seite. 
Langſam ſchritt ich bergasd ins Dörfchen; alles war totenſtill, nur ganz fern fläffte 
ein Hund und meine Stiefel hallten auf der holprigen Straße. Alte, vom Sturm zer- 
zauſte hohle Weiden grinſten unheimlich herüber. Mit ihren langen, kahlen Aeſten drohten 
ſie geſpenſtiſch wie Weſen einer andern Welt. Die erſten Hütten ließ ich hinter mir und 
fam in die Dorſſtraße. Die Häuſer klein, zierlich, vom Alter gebeugt, waren mit Efeu 
bewachſen. Go anheimelnd-gemütlich! 
 
 
 
 

	        
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