314 Arbeiter-Jugend .
zu piele Kraftmeier, die mit ihrer Arbeitskraft verſchwenderiſch umgehen, weil ſie
wühnen, ſie ſei unerſchöpflich. Das iſt aber nicht der Fall, denn jede Lebenskraft wird
frühzeitig erſchöpft, wenn ſie vergeudet wird. Darum bai ein jeder. Arbeiter die
Pflicht gegen ſich ſelbſt, feine Arbeitskraft, ſein höchſtes wirtſchaftliches Gut, zu
jeonen und damit haushälteriſc) umzugehen. Zſt ſie durch überlanges over über»
intenſives Arbeiten vorzeitig verpuivert, ſs iſt der Arbeiter wertlos wie eine Zitrone,
g115 der der letzte Tropjen Saft herausgepreßt iſt. Das bedeutet natürlich keine Auf»
forderung zum Faulenzen, wohl aber zu einem vernünftigen Arbeiten.
Chriffus und der Knabe,
. Eine Legende*). |
fr Zer kleine Knabe -- Sebaſtian hieß er == reichte mit der Naſenſpitze eben bis ZUT
9 JAKante des Tiſches, aber er hob ſich kräftig, und mit der Hand tupfte und tupſte
Af er immer wieder an den weißen Napf, der das ſüße Mus enthielt. Solches Mus
war damals alles, was die Armen für ihr Brot hatten, denn 2s war der Winter von 1917,
als Deoutichland nah am Verhungern war.
Endlicd) ſtürzte der Napf herunter und ſprang in Stücke, aber in Stücke ſprang auch
das Mus, weil es geſroren war, Sebaſtian jauchzte. Er ſeßte ſich neben die Scherben, er
nahm das himbeerrote ſüße Cis zärtlich zwiſchen die Finger und ſaugte.
Die Mutter ſchlief und ſchlief. Er wollte ihr von der Süßigkeit geben und legte ihr
einen Splitter des Eiſes auf den Mund, aber ihr Mund tat ſich nicht auf, und das Cis
derſc<hmol3 auch nicht auf ihren Lippen, denn ſie war tot.
Da riß der Sturm, der ſic) «in Morgen auſgemacht hatte, ſo ſehr an der Tür, daß
ſie aufſprang, und der Knabe ließ von ſeiner unfrohen Mutter ab und lief hinaus in den
tiefen Gonee. Die Nachbarin war tagüber keinmal gekommen, ſo tief waren die Wege
verſchneit. Und wer hätte ſonſt kommen ſollen! Der Vater war im Kriege, in Rußland.
Eo ſc<hritt Sebaſtian bingvs, und niemand hielt ihn.
Er hatte lederne Chuhe, 39h ſie ſtanden im Schrank und warteten der hohen Feſte,
imd eine woliene weiße Kappe, voch ſie ruhte im Kaſten; und Handſchuhe aus molligem
Tuch, doch ſie hingen am Pfoſten des Bettes, in dem die Mutter ſchlief.
Bald miſteten Flo>en in ſeinen weichen Haaren und fielen auf ſeine Stirn und
bermummten ihm öie Augen. Erſt lochte er noch und redete vielerlei in den Abend
hinaus, aber als der Schnee ſeine erbärmlichen Schuhe durchtrochen hatte und die Kälte
zwiſchen ſeine winzigen Zehen ſic) wie ſteinerne Splitter ſchob, und als der Schnee ſo
tief rourde, daß er füll ſtehen mußte, wie von einem ſehr ſtarken Manne an atilen
Gliedern gehalten, da wurde er bekümmert und ſte>te eine Hand in den Mund, um
in ihrer Wärrmne ſeinen verlorenen Körper wiederzufinden, und begann. zu weinen.
Da fam des Weges der Heiland, der herniedergeſtiegen war, um zu ſehen, wie er
den Irdiſchen hülfe, bie nach Zrieden ſchrien, und denen kein Friede gegeben wurde von
den Herren über Frieden un3 Krieg. |
Der Gott war irre, vb nicht das Licht der Vernunft erloſchen und verziſcht fei im
Blute dieſes Krieges. Er war Durch eine große Stadt gewandert und hatie das Jammern,
vie 'Vut, die zwiſchen Zähnen ſprach, und das leiſe Stöhnen hinter ven Wänden vernommen.
Viels Weiber hatte er geſehen, die mit loeren Körven vor den Kohlenhöfen ſtanden, und
auch das warme, wabvernde Gold in den Oefen der Reichen hatte er gut geſehen; und aud)
vie gewaltigen Haufen von Kohle in den Kellern der Reichen, und die Kohlen waren gänzlich
mit Kalk beſprißt, daß lic) jeder Diebſtahl ſogleich verriete. Aber durch alles Getöſe
der Verzweiflung hindur< vernahm er plößlich den einfamen Laut eines weinenven Kindes
im G4Hnee, und er eilie in tiejer Verwirrung dem fernen Tone zu.
So fand er Sebaſtian und rief ihn ſofort bei ſeinem Namen an, aber nicht beim
langen Namen, wie er im Kirchenbuch ſtand, ſondern ſo, wie ihn ſeine Mutter rief: Seba?
*) Aus dem Roman „Zrarat" von Arnoid Ulit, Verlag Albert Langen, München,