Full text: Arbeiter-Jugend - 14.1922 (14)

318 
nicht weit zurückliegen, ein Wochengeld 
von 20 Wark bezog, von dem nah Abzug 
der Gebühren für die Fortbildungsſchule 
17 Mk. übriablieben, die vie Mutter zum 
Lebensunterhalt mitverwenden mußte. Und 
der Junge wollte „einmal Taſchengeld haben, 
um ins Kino gehen zu können“... 
Das „Tageblatt“ ſchreibt dazu: Verſuchung 
der Großſtadt! Dem Lehrling gehörte in 
dieſem Fall nicht etwa eine körperliche Zich» 
tigung, jondern der Meiſter hätte ihn ſich- 
beifeite nehmen und ernſthaft vermahnen 
jollen. Statt deſſen entließ er ihn und ſtellte 
Etrafantrag! Einen Brief, in dem die Mutter 
des Lehrlings bat, Gnade vor Recht ergehen 
zu laſſen und den Jungen, der ſich den Fall 
zur Warnung dienen laſſen würde, wieder 
einzuſiellen und weiter zu beſchäftigen, ließ 
der Meiſter ungeöſfnet zurückgehen. Der An» 
veflagte verdingte ſich dann als Haus» 
diener und bezieht jezt als ſolcher einen 
Wochenlohnvon 2000 Mk. Die Frage 
des Richters, ob er denn nicht, wenn ihm 
Gelegenheit geboten würde, ein Handwerk 
weiterlernen wolle, verneinte er. Er wolle 
nicht, ſo erflärte er unter Tränen, noch ein- 
mal in Verſuchung kommen und ſich auf die 
Straße werfen laſſen. Der Richter konnte 
angeſichts der Verhältniſſe =- die Mutter des 
jugendliczjen Angeklagten iſt ſeit Jahren 
Witwe und hat auch) ihren zweiten Sohn in 
der Lobre -- zu keinem anderen Urteilsſprud) 
tommen, als zur Erteilung eines Verweiſes, --- 
Solche und ähnliche tragiſche Vorkommniſſe 
wiederholen ſic; hbäufſiz vor dem Jugend» 
gericht. Dieſer bejonvere Fall macht nod) auf 
die jh+amloje Ausbeutung der 
Lehrlinge aufmerkſam. Für 20 Mk. er» 
hält man heuie noc nicht zwei trodene Sem»- 
meln. Was muß das für ein Gemütsmenſch 
ſein, dor der Mutter des Lehrlings für die 
Wochenarbeit ihres Sohnes 20 Mk. anzubieten 
wagt, wofür dieſe den Jungen zu ernähren, 
zu fieiden und für ſeine Erziehung zu ſorgen 
hot! Und dieſer Werkitattpädagoge hat die 
Stirn, den JItngen für einen aus Not und 
aus dem Freudehunger ſeiner armen Jugend 
beraus begangenen geringfügigen Fehltritt 
nicht nur auf die Straße zu werſen, ſondern 
nod) vor Gericht zu ſchleppen! Wenn e3 eine 
Gerectigkeit gäbe, ſo müßte dieſer Meiſter 
und nict fein Opfer verklagt und beſtraft 
werden. 
 
Ein junges Menſgenleben fär 20090 
Papiermat?. 
In dem ſoeben erſchienenen erſten Teil der 
Geichichte unjferer Arbeiterjugendbewegung 
wird geſchildert, wie vie empvrende Miß» 
handlung eines Lehrlings vurc ſeinen Meiſter, 
die ven Lehrling in den Tod getrieben hatte, 
den Anlaß zur Gründung des erſten Arbeiter» 
Arbeiter-Jugend . 
jugendvereins in Berlin gab. Man ſollie es 
faum glauben, daß avil) nod) in unjeren 
Tagen ſolc<e Vorkommniſſe möglich ſeien. 
Und doch iſt dies leider der Fall, wie fol» 
gender Bericht über eine Berliner Gerichts» 
verhandlung zeigt: 
Wegen gefährlicher Körperverlezung und 
graufamer Behandlung war der Bäctermeiſter 
Fränzel, Melanchthonſtr. 13, angeklagt. Bei 
dem Angeklagten war der 15jährige Friß 
Matthies, der Sohn einer Witwe, als Lehr» 
ling eingetreten. Wie die Verhandlung ergab, 
war der Junge einem wahren Mariyrium 
ausgeſeßt. Der Meiſter behandelte ihn in 
eradezu unverantwortlicher Weiſe, ſchlug bei 
feder Gelegenheit mit irgendeinem Gegen» 
ſtand, der ihm gerade in die Hand kam, auf 
en Lehrling ein, ſo daß dieſer blutende Wun- 
den davontrug. Auch Kundinnen hatten mehr» 
feh das Geräuſch klatſchender Schläge und 
vas Geſchrei des Jungen gehört: „Au, Meiſter, 
mein Kopf, mein Kopf!“ und die Schimpf- 
worte des Anoeklagten: „Verfiuchter Bengel! 
Verfluchter Hund! Ich ſehlage dich, bis du 
fliegen bleibſt!“ 
Wie die Verhandlung weiter ergab, hatte 
der Ungeflagte den Jungen mif Kychenblechen 
gegen ven Kopf geſchlagen und ihn auch ſonſt 
geſmlagen und gejioßen. Bei einer derartigen 
Roheitsſzene fiel der Junge mit dem Kopf 
gegen die Mauer und blieb halb bewyßilos 
liegen. Der Angeklagte vollendete ſeine Roheit 
dodurch, doß er den Jungen auch noc) mit 
Füßen krat. Die Behandlung war eine der» 
artige, daß der Junge wiederholt äußerte, er 
wolle tic das Leben nehmen, Als der bes 
vdanernswerte junge Menſch es ſc<ließlic) 
nicht mehr auszuhalien vermochte, führte er 
vie unſelige Tat am 10. Auguſt dieſes Jahres 
aud) aus. . 
Der Amtsanwalt beantragte mit Rütdſicht 
darauf, daß ver Angeklagte durd) ſeine graus 
ſame und brutale Behandlung ein blühendes, 
junges Menſchenleben in den Tod ggeheht 
habe, eine Gefängnisſtraſe von jechs Monaten. 
Das Gericht kam zu einer noch milderen Auf- 
faſſung mit Rücſicht auf die bisherige Um» 
beſcholtenheit des Angeklagten und verurteilte 
ihn zu einer Gelöſtkraje von 26 060 2?., evtl. 
E00 Tagen Gefängnis. =. 
Soweit der Gerichtsbericht. Die Empörung, 
die dieſe barbariſchen Rozeiten und ihr tragt» 
ſcher Ausgang in jedem mitfühlenden Men» 
ichen, beſonders aber in ven Alters» und 
Leidensgenojſen des Mißhanvelten hervor» 
rufen müſſen, wird gewiß durit) das unglaub» 
fic) milde Urteil, vas dem Meiſter zuteil 
ward, nicht beſchwichtigt, vielmehr noc< ge- 
ſteigert werden. Niemand wird die Richter 
verſtehen, die die Vernichtung eines jungen 
Menſchenlebens durch eine Geldbuße für ge» 
ſühnt erachteten.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.