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nicht weit zurückliegen, ein Wochengeld
von 20 Wark bezog, von dem nah Abzug
der Gebühren für die Fortbildungsſchule
17 Mk. übriablieben, die vie Mutter zum
Lebensunterhalt mitverwenden mußte. Und
der Junge wollte „einmal Taſchengeld haben,
um ins Kino gehen zu können“...
Das „Tageblatt“ ſchreibt dazu: Verſuchung
der Großſtadt! Dem Lehrling gehörte in
dieſem Fall nicht etwa eine körperliche Zich»
tigung, jondern der Meiſter hätte ihn ſich-
beifeite nehmen und ernſthaft vermahnen
jollen. Statt deſſen entließ er ihn und ſtellte
Etrafantrag! Einen Brief, in dem die Mutter
des Lehrlings bat, Gnade vor Recht ergehen
zu laſſen und den Jungen, der ſich den Fall
zur Warnung dienen laſſen würde, wieder
einzuſiellen und weiter zu beſchäftigen, ließ
der Meiſter ungeöſfnet zurückgehen. Der An»
veflagte verdingte ſich dann als Haus»
diener und bezieht jezt als ſolcher einen
Wochenlohnvon 2000 Mk. Die Frage
des Richters, ob er denn nicht, wenn ihm
Gelegenheit geboten würde, ein Handwerk
weiterlernen wolle, verneinte er. Er wolle
nicht, ſo erflärte er unter Tränen, noch ein-
mal in Verſuchung kommen und ſich auf die
Straße werfen laſſen. Der Richter konnte
angeſichts der Verhältniſſe =- die Mutter des
jugendliczjen Angeklagten iſt ſeit Jahren
Witwe und hat auch) ihren zweiten Sohn in
der Lobre -- zu keinem anderen Urteilsſprud)
tommen, als zur Erteilung eines Verweiſes, ---
Solche und ähnliche tragiſche Vorkommniſſe
wiederholen ſic; hbäufſiz vor dem Jugend»
gericht. Dieſer bejonvere Fall macht nod) auf
die jh+amloje Ausbeutung der
Lehrlinge aufmerkſam. Für 20 Mk. er»
hält man heuie noc nicht zwei trodene Sem»-
meln. Was muß das für ein Gemütsmenſch
ſein, dor der Mutter des Lehrlings für die
Wochenarbeit ihres Sohnes 20 Mk. anzubieten
wagt, wofür dieſe den Jungen zu ernähren,
zu fieiden und für ſeine Erziehung zu ſorgen
hot! Und dieſer Werkitattpädagoge hat die
Stirn, den JItngen für einen aus Not und
aus dem Freudehunger ſeiner armen Jugend
beraus begangenen geringfügigen Fehltritt
nicht nur auf die Straße zu werſen, ſondern
nod) vor Gericht zu ſchleppen! Wenn e3 eine
Gerectigkeit gäbe, ſo müßte dieſer Meiſter
und nict fein Opfer verklagt und beſtraft
werden.
Ein junges Menſgenleben fär 20090
Papiermat?.
In dem ſoeben erſchienenen erſten Teil der
Geichichte unjferer Arbeiterjugendbewegung
wird geſchildert, wie vie empvrende Miß»
handlung eines Lehrlings vurc ſeinen Meiſter,
die ven Lehrling in den Tod getrieben hatte,
den Anlaß zur Gründung des erſten Arbeiter»
Arbeiter-Jugend .
jugendvereins in Berlin gab. Man ſollie es
faum glauben, daß avil) nod) in unjeren
Tagen ſolc<e Vorkommniſſe möglich ſeien.
Und doch iſt dies leider der Fall, wie fol»
gender Bericht über eine Berliner Gerichts»
verhandlung zeigt:
Wegen gefährlicher Körperverlezung und
graufamer Behandlung war der Bäctermeiſter
Fränzel, Melanchthonſtr. 13, angeklagt. Bei
dem Angeklagten war der 15jährige Friß
Matthies, der Sohn einer Witwe, als Lehr»
ling eingetreten. Wie die Verhandlung ergab,
war der Junge einem wahren Mariyrium
ausgeſeßt. Der Meiſter behandelte ihn in
eradezu unverantwortlicher Weiſe, ſchlug bei
feder Gelegenheit mit irgendeinem Gegen»
ſtand, der ihm gerade in die Hand kam, auf
en Lehrling ein, ſo daß dieſer blutende Wun-
den davontrug. Auch Kundinnen hatten mehr»
feh das Geräuſch klatſchender Schläge und
vas Geſchrei des Jungen gehört: „Au, Meiſter,
mein Kopf, mein Kopf!“ und die Schimpf-
worte des Anoeklagten: „Verfiuchter Bengel!
Verfluchter Hund! Ich ſehlage dich, bis du
fliegen bleibſt!“
Wie die Verhandlung weiter ergab, hatte
der Ungeflagte den Jungen mif Kychenblechen
gegen ven Kopf geſchlagen und ihn auch ſonſt
geſmlagen und gejioßen. Bei einer derartigen
Roheitsſzene fiel der Junge mit dem Kopf
gegen die Mauer und blieb halb bewyßilos
liegen. Der Angeklagte vollendete ſeine Roheit
dodurch, doß er den Jungen auch noc) mit
Füßen krat. Die Behandlung war eine der»
artige, daß der Junge wiederholt äußerte, er
wolle tic das Leben nehmen, Als der bes
vdanernswerte junge Menſch es ſc<ließlic)
nicht mehr auszuhalien vermochte, führte er
vie unſelige Tat am 10. Auguſt dieſes Jahres
aud) aus. .
Der Amtsanwalt beantragte mit Rütdſicht
darauf, daß ver Angeklagte durd) ſeine graus
ſame und brutale Behandlung ein blühendes,
junges Menſchenleben in den Tod ggeheht
habe, eine Gefängnisſtraſe von jechs Monaten.
Das Gericht kam zu einer noch milderen Auf-
faſſung mit Rücſicht auf die bisherige Um»
beſcholtenheit des Angeklagten und verurteilte
ihn zu einer Gelöſtkraje von 26 060 2?., evtl.
E00 Tagen Gefängnis. =.
Soweit der Gerichtsbericht. Die Empörung,
die dieſe barbariſchen Rozeiten und ihr tragt»
ſcher Ausgang in jedem mitfühlenden Men»
ichen, beſonders aber in ven Alters» und
Leidensgenojſen des Mißhanvelten hervor»
rufen müſſen, wird gewiß durit) das unglaub»
fic) milde Urteil, vas dem Meiſter zuteil
ward, nicht beſchwichtigt, vielmehr noc< ge-
ſteigert werden. Niemand wird die Richter
verſtehen, die die Vernichtung eines jungen
Menſchenlebens durch eine Geldbuße für ge»
ſühnt erachteten.