Full text: Arbeiter-Jugend - 15.1923 (15)

Arbeiter-Jugend 167 
Käthchen angehört, entde>t, Ein geſtrenges Verhör wird angeſtellt, und nun zeigt es ſich, 
daß dieſe Geſellſchaft ſich mit Dingen beſchäftigt, von denen die Haustöchter der guten alten 
Zeit. nie eiwas erfuhren. Man denke,. in den Jugendgruppen wurden Vorträge gehalten 
über Weltentſtehung, Darwinismus, die materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung, die Hygiene des 
tüglichen Lebens und anderes mehr. Das ſchlimmſte aber war, daß die Jugendlichen. ſich 
duzten. Man denke, eine junge Dame von 17 Jahren wird wie ein „gewöhnliches“ Mädchen 
mit „Du“ und nicht mit, gnädiges Fräulein" angeredet, wie es in der guten alten Zeit ſo 
üblich war, wenn man zu jungen „Damen“ ſprach. vn 
Der waere Vater war entrüſtet. Er ſegzte ſich hin und ſchrieb dem unverſchämten ZdA. 
einen Brief, den dieſer, wie der Schreiber annahm, ſich nicht Hinter den Spiegel ſteFen würde. 
Der ZdA. aber war ſchamlos genug, dieſes Schreiben in ſeiner Jugendzeitſchrift abzudru>en. 
Hier iſt es: 
„3 ertläre hiermit den Austritt meiner Tochter Käthe aus dem Zentralverband der 
Angeſtellten. Sie iſt damals ohne mein Wiſſen, vielleicht durch ſanften Dru> der anderen 
Angeſtellten, in dieſen Verband eingetreten. Es hat niemand anders zu beſtimmen außer 
mir, auch die Dienſtſtelle nicht, welchem Verbande ſie ſich anſchließen ſoll, jedenfalls dem 
dortigen nicht, Bekanntlich bin ich, bis ſie volljährig iſt, ihr Vormund. 
Heute kam mir die famoſe Einladung der Jugendgruppe Wedding in die Hände. Da 
Mmyß id) doch Jagen, ein 17% jähriges Mädchen redet man nicht mehr mit =-+ Du --“ an, 
es riecht ganz nach Tauenßienſtraße. Vielleicht ſind es die Gepflogenheiten gewiſſer 
Straßenpaſſanten, jedes Mädel mit --- Du anzureden, vielleicht iſt es auch recht republika» 
niſch, ich weiß es nicht. Ich weiß nur ſoviel: „Die ganze Richtung paßt mir nicht!“ Franz 
LüF, Aufſichtsbeamter, Berlin N 65, Genter Straße 37 11.“ 
Käthchen mag geweint haben. Der Vater aber hat ſein Recht gewahrt: Er wird es noch 
3% Jahre lang tun. Indeſſen geht die Zeit ihren Lauf. Käthchen und viele ihrer Mit» 
ſchweſtern werden es lernen, mit offenen Augen ins Leben zu bli&en, und ſpäter werden ſie 
entſcheiden, welche Richtung i hn en paßt 
Was uns fehlt. 
T 
 
- Das Fragen. | 
In der Jugendbeilage der Chemnißer „Volksſtimme“ gibt ein Jugendgenoſſe 
folgende Anregungen: 
n Tauſenden von Vorträgen gibt man uns eine Fülle von Antworten; aus ungezählten 
Büchern und Broſchüren ſehen uns Antworten entgegen; man ſagt uns von allen 
möglichen Dingen, dieſes und jenes iſt ſo und ſo =“+“ .aber kaum einer hat danach ge» 
tragt. Wir haben das Fragen verlernt) . 
Die Ueberfülle von Antworten erſtickte unſere Tähigkeiten, ſelber Fragen zu ſtellen. Die 
Folge iſt, daß die Vortragsſäle oft leer ſind, daß die Bücher auf den Borden verſtauben, daß 
die Worte der Redner ohne Widerhall verklingen ... Wir müſſen wieder fragen lernen! 
Es mag für manchen ein glücklicher Zuſtand ſein, mit ruhigem Gemüt, nicht von Fragen 
gequält, zufrieden wie das Tier auf der Weide ſein Leben zu verbringen. Dieſer Zuſtand iſt 
aber heute, in einer Zeit, die zerriſſen iſt wie kaum je eine Zeit, ein Zuſtand des Stumpffinnes, 
dem ſic wohl ein ſattes Raſfketum hingeben kann, nicht aber kämpfende proletariſche Jugend.. 
Warum ſind wir elend? Warum iſt dieſer ganze Unterſchied zwiſchen unſerer Sehn- 
jucht, unſeren Worten, die ſtammelnd Ideale verkünden, und der uns umgebenden Wirklichkeit? 
Warum? Warum? Warum das alles? 
11, 
Der Fragetsſten, 
Zum Inventar jedes Jugendheims ſollte ein Fragezettelkaſten gehören. Soweit ich bis» 
her mit ihm Bekanntſchaſt gemacht habe, ſind ſeine weſentlichen Eigenſchaften die folgenden 
drei: Entweder er iſt überhaupt nicht da, oder er iſt kaputt, oder er iſt leer, 
Cs beſteht ſelten das Bedürfnis, in der Reihe der Veranſtaltungen Fragezettel-Abende 
abzuhalten. (Dafür werden Vorträge über Themen gehalten, die den meiſten noch gar nicht
	        
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