50 ' Arbeiter-Jugend
Die franzöſiſche Rheinlegende.
Von Bernhard Rauſch, |
| ie Rivalitäten zwiſchen den großen Mächten der Erde drehen ſic) heute, in
B FBeitalter des großinduſtriellen Imperialismus, in erſter Linie um die unter-
irdiſ<en Schäße, Kohlen, Erze, Erdöle. Je reicher ein Land an ihnen iſt,
um ſo größere Entwicklungsmöglichkeiten hat ſeine Induſtrie, und das Rheingold,
nach dem Frankreich heute ſeine Hände ausgeſtre>t hat, lagert in rieſigen Kohlen»
fſlözen unter der Ruhr. Sie ſollen Frankreich ermöglichen, das gefürchtete Zentral»
europa wirtſchaftlich zu beherſchen und, wenn möglich, politiſch zu zertrümmern.
Der franzöſiſche Raubeinfall ins Ruhrgebiet hat auch denen hiſtoriſch-materia-
lſtiſches Denken beigebracht, die die marxiſtiſche Theorie auf das entſchiedenſte ab-
lehnen, denn hier wird auch der verſtiegenſte Ideologe ſörmlich mit der Naſe darau]
geſtoßen, daß die heutige franzöſiſche Politik von den Bedürfniſſen der franzöſiſchen
Schwerinduſtrie diktiert wird. Frankreidp iſt nach dem Krieg das an Erzen reichſte
europäiſche Land geworden, und es träumt veshalb von ſeiner induſtriellen Vorherr»
Ihaft in einem kontinentalen Stahl» und Eiſentruſt. Aber um aus ſeinen Erzen
Stahl und Eiſen gewinnen zu können, braucht es die Ruhrkohle; nicht weniger als
drei Viertel des franzöſiſchen Koksbedarfs müſſen aus dem Ruhrgebiet gede>t werden.
Solange dieſes in deutſchen Händen bleibt, ſteht die induſtrielle Vorherrſchaft Frank»
reichs nur auf ſchwachen Füßen, denn ſie könnte durch Zoll» und handelspolitiſche
Maßnahmen Deutſchlands jeder Zeit ſchwer erſchüttert werden.
So ſehr die franzöſiſche Ruhrbeſetzung den hiſtoriſchen Materialismus ſtügßzt, ſo
widerlegen ihre Begleilumſtände do) auch) jene Verballhornung des Marxismus, die
die ſelbſtändige Wirkſamkeit politiſcher Gedantengänge (Ideologien) überhaupt
leugnet. Denn wonn die Ruhraktion nicht von erheblichen Teilen des franzöſiſchen
Volkes als brutaler, großinduſtrieller Intereſſenkampf abgelehnt wird, ſo, weil ſie
im Bewußtſein des ſranzöſiſchen Volkes mit einem anderen, ſeit Jahrhunderten er- -
ſtrebten, von romantiſchen Träumen umwobenen, ideologiſc) gewordenen Ziel
zuſammenfällt, der Schnjucht nach der Rheingrenze. Und mag das
Ruhrabenteuer ſrüher oder ſpäter aufgegeben werden, die franzöſiſche Rheinpolitik
wird bleiben, und mit ihr die Rheinlegende.
Der Streit zwiſchen Deutſchland und Frankreich um den Rhein geht auf die.
Berträge von Verdun (843) und Merſen (870) zurüc>, in denen das Reich Karls des
Großen geteilt wurde. Das ganze Mittelalter hindurd) blieb in dem mächtigen „hei-
ligen römiſchen Reich deutſcher Nation“ der Rhein unbeſtritten deutſch. Die ökono»
miſche Entwieklung ſeit Beginn der Neuzeit begünſtigte jedoch die vom Atlantiſchen
Ozean beſpülten Länder gegenüber dem zurücbleibenden Zentraleuropa, und in dem
Maße, in dem Deutſchland ſchwächer wurde, drang Frankreich nach dem Oſten vor.
Dabei zeigen die Methoden, mit denen Frankreich die Rheingrenze erſtrebte, eine
auffallende Beharrlichkeit während aller innerpolitiſchen Veränderungen vom abſo-
luten Königtum über die Revolution, das zweite Kaiſerreich und die dritte Republik
hinweg bis zur Gegenwart. Beſonders hat die franzöſiſche Politik ſtets diejenigen
Richtungen in Deutſchland zu ſördern verſucht, die es zerſplitterten, ſelbſt wenn ſie
ſie im eigenen Lande mit Feuer und Schwert verfolgte. Die Schlagworte wechſelten
in den Jahrhunderten, ihr Zweck blieb ſtets derfelbe, und wie die allerchriſtlichſten
franzöſiſchen Könige des ſechzehnten Jahrhunderts in ven Grenzlanden die Refor»-
mation begünſtigten und dabei Metz, Toul und Verdun einſtec>ten, ſo machen ſich
jezt die Agenten Poincarts an allerhand föderaliſtiſche uind linksradikale Elemente
in den Rheinlanden heran,