Full text: Arbeiter-Jugend - 16.1924 (16)

Arbeiter-Jugend - 119 
Der Wäünſchelmann Martin Anderſen Nexös. 
| | | | Von Berka Selinger. . - 
Y“ 5 gibt begnadete Menſchen, die gehen mit der Wünſchelrute über das Land. 
9" „Jet zittert die Rute und ſchwankt und zeigt unterirdiſchen Quellſtrom an, jezt 
Wu Hlopft. ſie, ti>t und ta>t, um eine Goldader zu künden. Es iſt, a«s könnten 
ſie in die Tiefe lauſchen und Geheimnis und Wunder würde ihnen offenbar, das den 
Dumpfen; ſtumpfen Sinnen der Vielen immerdar verſchloſſen bleibt. 
-- So einer iſt Martin Anderſen Nexs. Und das Land, das ſich vor. - 
ihm breitet, iſt das Leben, das Denken und Fühlen des PRroktketariats =- dieſe - 
lebendig ſprudelnden Quellen, die allzu ſelten zutage treten, die edlen Kleinodien, 
die in tauben Schlac>en, in Schutt und Geröll verſprengt liegen und noch nie 
gehpben wurden. Ihm tun ſie ſich kund, und er weiſt uns und deutet, was ihm- 
vſfenbar wurde, | 
Während wir Arbeiter vor alten Götzen uns neigen oder mit offenem Munde 
die Gautkelkünſte manches Modedichterlings beſtaunen, ſiehe, da erblüht mitten aus 
unſerem eigenen Herzen eine wunderſams Blume. Nicht die blaue Blume der 
Romantik, nicht das bleiche Hungerblümelein. Erfüllt vom Dufte unſeres Blutes, 
unjerem Schönheitsverlangen entſproſſen, von unſeren Nöten, Aengſten und Sorgen, 
von unſerer heißen Liebe und kargen Freude, von unſerem Mut und unſerem Stolze 
genährt, vom Tau unſerer Tränen geneßt, erſchließt ſich in ihrer kraft- und wehmuts- 
pollen Schönheit die proletariſche Dichtkunſt. ' 
Die proletariſche Dichtkunſt! Schon kommen die ſilbenſtechenden, milzſüchtigen 
Affen und Aefflein der literariſchen Kaffeeſtuben, rümpfen die Naſe und hüſteln: 
„Das Proletariat hat keine Kunſt. Wir, wir werden ihm erſt aus den Abfällen 
unſecer Garküchen einen Päppelbrei zurechtmachen, und wenn es den wieder von ſich 
gegeben hat; dann wird daraus vielleicht die proletariſche Dichtkunſt werden.“ 
Proletariſche Dichtkunſt! Wahrlich! Iſt der Hütejunge und Scuſterbub 
Anderſen Nexs nicht in die Dichtkunſt geſprungen. in jenen „rieſenhaften Kinder- 
ſchuhen des Proletariats", in denen einſt, nac) Karl Marx' Worten, der Schneider- 
geſeſſe Wilhelm Weitling in die Wiſſenſchaft trat? „Vergleicht man die rieſenhaften 
Kinderſchuhe des Proletariats mit den zwerghaften, ausgetreienen Schuhen der 
Bourgeoiſie, ſo muß man dem Aſchenbrödel eine Athletengeſtalt prophezeien.“ Und 
iſt „Belle“ nicht eine Athletengeſtalt, ein proletariſcher: Re>ke? 
Goethe hat ſeinen „Fauſt“ geſchrieben, Strindberg hat ihn gelebt. Im „Relle“ 
ſteht er mitten unter uns, nicht der gelahrte, überſtudierte Intellektuelle, nein, Fleiſch 
von unſerem Fleiſch. Unſer ſeine geſchändete, leiddurchtränkte Kindheit, unſer ſein 
lechzender Durſt nach Wiſſen, ſeine Not, ſeine Sorgen, das kleinliche zermürbende 
Elend des Alltags und die ſchlagenden Wetter und :Kataſtrophen, Arbeitsloſigkeit, 
Streik; unſer ſeine gemeuchelte, im Kerker erſtiäte Empörung. Unſer auch -- bis 
heute, ſeine faulen Kompromiſſe, ſeine tappige, feige Gutgläubigkeit, die ihn zuleßt 
doch in das feingezwirnte Net der „ordentlichen Leute“ zieht; ihn zum Siedlungs- 
und Wochenſuppenpropheten herabſinken läßt, der ein nettes, vielleicht ſogar ein ſtil- 
volles Heim beſikßt, am Ende mit Fidustaſſen, einer Klampfe und Lönsliedern. Er 
iſt ausgebrannt, der glühende, hochgemute Aufrührer, ein Schrebergartenapoſtel mit 
der Loſung „Jedermann ſeinen Kohlkopf“, wie der Dichter ſelbſt in „Stine“ biſſig 
von ihm jagt. | | . nn | 
Schau in dieſen gigantiſchen Spiegel, Arbeiterjungvolk! Schau die machtvolle 
Schönheit deiner Klaſſe und die häßlichen Schwären, die an ihr freſſen! 

	        
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