Full text: Arbeiter-Jugend - 16.1924 (16)

160 Arbeiter-Jugend 
Die Landſchaft der Großſlad. 
Von Friedrich Wendel, | = 
ji das nicht ein Widerſpruch in ſich: die Landſchaft der Großſtadt? Verſteht man 
T nicht gemeinhin unter Landſchaft ein StüFT Natur o hn e Häuſer und Straßen 
| und Eiſenbahnen und Menſchenanſammlungen? Hat man nicht mit aller 
GCdärfe und Entſchiedenheit, die ſich nicht nur zum äſthetiſchen (die Kunſtbetrachtung 
beherrſchenden) Leitſaß, ſondern ſogar zum politiſchen und kulturpolitiſchen Programm 
verdichtet hat, verkündet, Stadt und Land ſeien Gegenſäße? Und doch gehört alles, 
was in dieſer Richtung fühlt und denkt, einer Gefühls- und Gedankenſphäre an, die 
in den Stil unjerer Zeit nicht paßt. Die „Landſchaft“ in ihrer maleriſchen Behandlung 
als Stük Natur ohne Beziehung zum Menſchen und ſeinem 'Werk genommen, iſt eine 
äſthetiſche Einſtellung, die auf echt romantiſchem Boden gewachſen iſt. Wer Kunſt» 
betrachtung am ſicheren Leitſeil materialiſtiſcher Geſchichtsauffaſſung treibt, bemerkt 
mit Ueberraſchung, wie gerade die maleriſche Auffaſſung und Behandlung des Land» 
jchaſtlichen in allen Phaſen der Klaſſengeſchichte <arakteriſtiſch iſt für die entſcheiden» 
den Züge in der Ideologie der Klaſſen, die die Geiſtigkeit ihrer Zeit beſtimmten. Die 
elegante Welt der um den Thron eines Ludwig XV. raffiniert faulenzenden Ariſto» 
fratie läßt ſich die Landſchaft als Schäferidyll malen, in dem alles Grün um Grotten 
und Flüſſe den Charakter einer gut geſtellten Kuliſſe annimmt, hinter der die herr» 
ichende Klaſſe ihre gefühlsſeligen Seufzer haucht. Rouſſeau und ſeinen Jüngern wird 
das zum Lkel, ſie flüchten in die „natürliche Natur“, wie man geſagt hat; die ihnen 
folgenden Maler malen Landſchaften, die ſozuſagen dem äſthetiſchen Ideal eines auf- 
geflärten Kleinbauern entſprechen, der nach Feierabend ſich an der „Neuen Heloiſe"* 
ergößen will. 
Keine zwanzig Jahre ſpäter begeiſtert ſich der Geſchmac> der ſiegreichen fran» 
zöſiſchen Bourgeoiſie an einem Landſchaftsbild, das, techniſch in weiten Perſpektiven 
gehalten, dem erwachten Drang in die geographiſche Ferne Genüge tut. Als wenig 
ſpäter wiederum die Geiſtigkeit des an allen entſcheidenden Punkten durchaus 
triumphierenden dritten Standes ſtarken und edlen Geiſtern Entſeßen einjagt, als in 
der bürgerlichen Klaſſe die Einſicht ſich meldet, daß das angebetete Prinzip der freien 
Konkurrenz in der Wirtſchaft ein Prinzip iſt, das eigentlich nur einigen Wenigen der 
eigenen Klaſſe zugute kommt, als die große, dröhnende Begeiſterung der revolutio* 
nären Jahrhundertwende vorbei iſt, ein moraliſcher Kater ſich einſtellt und man welt» 
ſIchmerzleriſch-melancholiſch fühlt, taucht das erhaben-melancholiſche Seebild mit ſeinen 
rollenden Wogen und düſter geballten Wolken auf, das prächtig-finſtere Gebirgsbild, 
in dem der Sturm Klagen zum Himmel zu ſchleudern ſcheint. Die geiſtige Atmo- 
jphäre, die die Juli-Revolution (1830) vorbereitet, läßt einen Delacroix (ſprich: 
delakroa) Landſchaften entwerfen, die eine einzige Rebellion darſtellen. 
Kurz, überall und immer offenbart die Behandlung auch des Landſchaftlichen 
Gtimmung, Richtungnahme und Verlauf jeweiliger Klaſſenentwi>klung. Was in 
Deutſchland zwiſchen 1870 und 1914 an Landſchaftlicham gemalt worden iſt, offenbart 
gleichſalls (wenn es nicht gerade barer, außer. aller Diskuſſion ſtehender Kitſch iſt) 
die Struktur der bourgeoiſen Seele, angeſangen mit dem ſatten Behagen, das ſich 
von der „Gonne im Buchenwald“ umrieſeln läßt, bis zur Nervoſität der Dekadenz, 
 
*) „Julie oder die neue Heloiſe“ (ſprich e-lo-ies, dreiſilbig, Ton auf der Endſilbe) von Iean 
Jacques Rouſſeau (1712 bis 1778; ſprich ſhang ſcha> ruſſoh) war der bedeutendſte Roman 
der franzöſiſchen Aufklärungszeit, bezeichnend vbadurch, daß er den Stimmungsgehalt .der in 
ihm beſchriebenen „unverdorbenen“ Landſchaſten in Beziehung zu den Empfindungen und 
Gedanken des antiariſtokratiſchen Menſchen brachte, .
	        
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