Full text: Arbeiter-Jugend - 16.1924 (16)

230 Arbeiter-Juggend 
 
ganer fkimmt, Der vom Urborn der Natur aus etwas genieße will!" iDa ſtanden, ange- 
lehnt an einen anderen Kirſchbaum, Leitern. Der wahrhaft gute Menſch nahm eine davon 
und ſchob ſie tief in die Krone eines anderen vollträchtigen Kirſchbaumes. Und religiös 
Ihien der Mann auch zu ſein, denn er meinte: „Unſer Herrgott mit ſeiner Sonn hat für alle 
fie dſt die Kerſche wachſe laſſe. Steige |'Se nor enuff und flü>e Se ſich ab, ſo viel Se wolle, 
Jie koſte nix!“ =- 
Herrgott noch einmal --- war ich denn auf einem anderen Planeten plößlich gelandet -.- 
wo es keine ausgerechneten Rechenkünſte gibt, nur ſelbſtloſe Nächſtenliebe? 
Wie ſelig war mirs doch, als ich nuf der ſchwankenden Leiterſproſſe hoch oben im Kirſch- 
baum ſchwebte. Jeder Menſch müßte eigentlich einmal in der Woche zur Sommerszeit in 
eines Baumes Wipfel ſchaukeln. Da kommt erſt ddie rechte Andacht über einen. Dieſe 
unzähligen Blätter und Blättchen, Aeſte und Aeſtc<en, dieſe Bündel rotglühender Herz- 
kirſchen . . 
Der erhöhte Standpunkt, wie weit läßt er den Bli> ins Tal hinein fliegen. Wie zittern 
im Lichte die Felder und Wälder ringsum. Von einer Kirſc<hbaumſpiße, welch ein köſtliches 
Luginsland iſt das doch! Nebenan verſtrömt eine gewaltige Linde ihren ſüßen Duft; dieſe 
gelblichen Blütenſtern<en, wie laden ſie die Luft. Es duftet nach Honig. Bienen und Hummeln 
iorkein trunken, faſt beſoffen, als ob ſie an einer Erdbeerbowle über und über genippt hätten, 
in den gefüllten Bechern herum. 'Man möchte auſhören, ordentlicher Menſch ſein, ein 
Bienenleben führen und auch im Blütenmeer taumelnd untergehen. 
Beinahe hätte ich darüber die dunkelroten Herzkirſchen vergeſſen. I< pflückte, aß, aß und 
dachte gar nicht mehr an den Eigentümer auf dem 'anderen Baum, meinen guten Nachbar, 
der mir all dieſes Glück ſo uneigennüßig beſchert hatte. 
Aus dieſer Kirſchbaumſpitzen-Perſpektive =- im Gegenſaßz zu der behäbigen, unſreien 
Froſchperſpektive =- kann der Bli> ungehemmte Reiſen machen. Wie lieb ſingt die Amſel 
uus einem anderen Blütenheer. I< habe mir dieſe Amſelmelodie bei meinem Wohlbefinden 
in den Kirſchen ſo überſeßt: „Büh, büh, trillerie, trillerie und deute es: wie ſüß, wie ſüß ſind 
die Kirſchen und wie billig!“ Scc<walben ſchießen im Zi>za> unermüdlich hinauf und 
herunter. 
In dieſen Betrachtungen ſtörte mich jäh mein Nachbar, der gute, uneigennüßige Menſch. 
Er rief mir energiſch herüber: „Herr Nachber, hewwe 'Se jetzt genug Kerſche geſſe?“ Dieſe 
Art von Proſa brachte mich wieder auf unſere alte, kühle Erde zurü>k. Ich ſagte: „0, unn 
wie ſchee is es hier owwe!“ 
Da ſagte der gute Menſch: „Jetzt mache Se awwer, daß Se ſchleunigſt fortkomme, weil 
der dide Bauer gleich kimmt, dem wo der Kerſchbaam, wo 'Se ; Druſſſiße duhn, geheert!“ 
Fried Stern in der „Grantf- Zeitung“. 
 
Sozigliſtiſ<;e Kulkurwoc<he in Leipzig. 
Wie wohl unſere ſämtlichen Mitglieder zu bekunden, der die Arbeiterſchaft beſeelt, 
aus den Veröffentlihungen des Hauptvor- 
ſtandes, der Leipziger Genoſſen und des 
Reichsausſchuſſes für ſozialiſtiſche Bildungs» 
arbeit wiſſen, findet in der Zeit vom 2. bis 
6. Auguſt in Leipzig eine große Tagung 
ſämtlicher ſozialiſtiſcher Kulturorganiſationen 
jtatt, Die Veranſtaltung ſoll die Bedeutung 
der ſozialiſtiſchen Kulturbewegung darſtellen. 
Sie ſoll zeigen, daß der Sozialismus kein 
bloß materielles Ziel, kein rein politiſches 
Programm iſt, ſondern daß er höchſte ſitt- 
liche Werte in ſich birgt und nach einer Er- 
neuerung der geſamten menſchlichen Lebens- 
verhältniſſe im Geiſte wahrer Solidarität 
dränat. Es5 gilt, den ſtarken Kulturwillen 
ver ſie erhebt über die Nichtigkeiten des All- 
tags und ihren Bli> emporlenkt zu den höch- 
ſten Zielen menſchlichen Seins und Strebens. 
Eine Kulturwoche iſt natürlich nicht denk- 
bar ohne die aktive Mitwirkung und ohne 
den Geiſt der Jugend. Die Leipziger Kultur- 
woche iſt daher ſinngemäß verbunden mit 
einem Mitteldeutſchen Jugend- 
tag, der am Sonnabend, den 2. Auguſt, be- 
ginnt und dann in die Veranſtaltungen der 
Kulturwoche einmündet, Die Eröffnungsfeier 
der Kulturwoche wird von der ſozialiſtiſchen 
Jugend beſtritten. Der Geſamtverband hält 
am Montag, den 4. Auguſt, eine Tagung des 
Reichsausſ<<uſſes ab, der ſich dann an
	        
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