Arbeiter-Jugend | 43
wohl nun aber nicht nötig ſein, denn wenn Deine Liebe zu dem Mädchen echt iſt, wirſt Du
ihm wohl ebenfalls ſchreiben oder gar ſchon geſchrieben haben. Auf jeden Fall werde ich ihr
aber morgen perſönlich zu wiſſen tun, daß Du Dich in der „Metropole“ des Rieſengebirges auf-
hältſt und bereits auf einer Spritztour in die Berge mit Rübezahl zuſammengetroffen biſt.
Dein Verhältnis mit dem Mädchen erinnert mich an eine Bekanntſchaft, die auch ich mit
einer um zwei Jahre jüngeren Schulfreundin hatte, als ich in die Fremde ging. Es war ein
hHerziges Kind von noch nicht ſechzehn Jahren. Wir haben uns nach meiner Abreiſe manchmal
geſchrieben, mit der Zeit iſt aber dieſer Briefwechſel eingeſchlafen. „Andere Städtchen, andere
Mädchen.“ Das traf nun bei mir gerade nicht zu. Infolge meiner etwas philoſophiſchen Ver-
anlagung hatte ich in meinen Jünglingsjahren anderen Zeitvertreib, ſo daß ich in Liebesketten
nicht viel geſchmachtet habe. Nach etwa einjähriger Pauſe ſchrieb mir meine Agnes wieder
einmal und beteuerte mir aufs neue ihre Liebe. Später hörte ich dann von meinem Bruder,
Daß ſie ſic) Mutter fühle, und an meinem zwanzigſten Geburtstage gab ſie, no nicht achtzehn
Jahre alt, einem Kinde das Leben. Ein leichtſinniger Student, der Sohn ihrer Dienſtgeberin,
hatte ſie verführt. Die Worte aus dem „Antiſyllabus“ haben ſich auch hier bewahrheitet:
„Welche tiefe Kluft auch gähnet zwiſchen Euch und Eurem Knecht, ſeine Weiber, ſeine Töchter
waren Euch doch nie zu ſchlecht.“ Einige Zeit darauf haben ſie ihre Verwandten mit einem
viel älteren Mann verheiratet, und damit hat die Aermſte ihren „Fehltritt“, wie ihre Mutter
immer ſagte, geſühnt. Soviel ich erfahren, ging es ihr nicht gut. Vor einigen Jahren iſt ſie
geſtorben, nachdem ſie auch zwei Söhne im Kriege verloren hatte, =
Nun ſchau aber einmal, wie ſchnell ſich die Seiten füllten; ic) muß mich beeilen, daß ich
den Schluß noch auf den zweiten Bogen bekomme.
Alſo, mein lieber Junge, lies fleißig und arbeite raſtlos an Dir weiter, Das Proletariat
braucht Männer, die etwas gelernt haben. „Wiſſen iſt Macht.“ |
Unter herzlichen Grüßen von Mutter und Geſchwiſtern verbleibe ich Dein Dich liebender
Vater
GoD DS
Aus der Werkſtati. berechtigt ſtolz darauf ſein können. Es iſt
Verlin, 23. Januar 1924, ſowohl unter den finanziellen Kataſtrophen
In Deutſchland iſt wie auch unter dem Anſturm unſerer Gegs-
zurzeit die wirtſchaft»
liche und politiſche Re»
aktion Trumpf. Mit
kaum faßbarer Brutali»
tät diktieren die Kapi»
taliſten den Arbeitern
ihren Willen, Sie trium-
phieren. Aber ihrem
Vormarſch wachſen Ichon
langſam die Hinderniſſe
entgegen. Die Drgani-
ſationen der Arbeiter»
ſchaft erſtarken wieder,
vie Geldſtabiliſierung
Ichafft Gewerkſchaften
und Bartei ein neues finanzielles Rückgrat
und damit wieder größere Wirkungsmöglich»
feiten, -- es iſt noch längſt nicht aller Tage
Abend! Die Unternehmer werden es ſpüren.
Mit beſonderer Freude können wir feſt:
ſtellen, daß auch in unſerem Verband die
Situation ſich mit wachſender Schnelligkeit
veſſert. Es zeigt ſich jetzt, daß unſere Orga»
niſation den harten Bedrängniſſen des lyvtz»
ien Jahres ſo gut ſtandgehalten hat, daß wir
ner, unter denen ja die Kommuniſten die
weitaus regſten waren, uns nur ganz ver-
ſc<hwindend wenig verlorengegangen. Le-
Diglich in ſehr vereinzelten Fällew iſt ein Ab»
brödeln einzelner zu verzeichnen. Natürlich
hat die Geldnot unſere Arbeit an vielen Orten
zeitweiſe ganz lahmgelegt, aber daß die Be:
wegung darum noch lange nicht geſtorben
iſt, beweiſen gerade die Briefe aus dieſen
Orten, die nun, wo ſie wieder einige Pfen-
nige in die Kaſſe kriegen, die ihnen „wert-
beſtändig“ bleiben, mit Rieſeneifer wieder
ans Werk gehen, ſich ihr Him -wieder mieten,
die Zeitſchriften wieder beſtellen, neues Ma-
terial anfordern und uns von ihren Plänen
verfünden. Und die ſind nicht gering! Iſt
es nicht merkwürdig, daß dem H.-V. in der
lezten Zeit 6 Gruppen mitgeteilt haben, daß
ſie ſich ein eigenes Jugendheim bawen wollen?
An drei Stellen hat man bereits angefangen,
bei den anderen ſteht der Anfang dicht be-
vor. Es handelt ſich um Wagniſſe, und ſo
ſehr wir zur Vorſicht raten, wünſchen wir
do unſeren Genoſſen von ganzem Herzen,
daß ihre Pläne gelingen mögen.