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in erjter Linie auf die Religion zutrifft, ſo findet der Glaube an das Wunderbare
in. den religiöſen Gemütern einen fruchtibären Nährboden. - Die vergleichende
Religionswiſſenſchaft und die Geſchichte der Religionen lehren uns, daß jede Religion
„wunderbaren“ Ereigniſſen ihre Entſtehung . verdankt, und daß ihre Anfänge in
ein myſtiſches Dunkel gehüllt ſind. Die Religionsbücher wimmeln von ſogenannten
Wundern, die in Wirklichkeit ja gar keine Wunder, ſondern nur Erzählungen
von Wundern ſind und deshalb jeder Beweiskraft entbehren; die Dogmen, das
heißt, der Glaube an unbewieſene und unbeweisbare Dinge, bilden einen weſentlichen
Beſtandteil der Religion im landläufigen Sinne; wer nicht an Wunder glaubt, iſt
ein unreligiöſer Menſch, ſo behaupten die „Rechtgläubigen“. Heute iſt es vielfach
anders geworden, weil die Menſchen denten, aber in der Glanzzeit der
Religionen, im Alterlum und im Mittelalter, ſpielte der Glaube an das Wunder
die ausſchlaggebende Rolle. Jeder Religionsſtifter war mit dem Nimbus des Wunder-
täters umgeben, und auch die Verkünder einer Religion mußten Wunder wirken,
wenn ſie Anhänger finden wollten, denn das Wunder war ihre Beglaubigung. Die
Menſchen jener Zeit waren nicht nur wundergläubig, ſondern auch wunderſüchtig;
hinter jedem, auch dem natürlichſten Vorgang, ſuchten ſie übernatürliche Urſachen, und
dem natürlichſten Dinge ſchrieben ſie übernatürlice Wirkungen zu.
Ertlärlicherweiſe beherrſcht der Wunderglaube' und die Wunderſucht beſonders
jene Menſchen, die zu ihrem Verſtand und ihrem Willen kein Vertrauen, die den
Glauben an ihre eigene Kraft verloren haben und deshalb ihre Hoffnung auf das
wunderbare Eingreifen einer höheren Macht ſetzen. Wie ein Schwindſüchtiger, der
nirgends mehr ein natürliches Heilmittel entde>t, von einer Rettung durch -ein
Wunder träumt, jo träumen. die unglüdlichen, körperlich und ſeeliſch verelendeten
Menſchen von dem Eingreifen der Goitheit in ihr Geſchi&, von einer Wendung
ihres Schidjals durch Gottes Fügung. Aus dieſer Verzweiflung an die Möglichkeit,
Durch eigene Kraft unſer Schi>ſal zu meiſtern, entſpringt jene ſtarke religiöſe Wellz?,
die augenblicklich unſer armes Deutſchland überflutet; in ihr haben jene ſtarken
religidjen Strömungen ihren Urſprung, die unſere Tatkraft lähmen, indem ſie unſere
Blii>e auf die Hilfe von oben lenken. - „Nur die Religion kann uns retten, Chriſtus
Gllein vermag uns zu helfen in unſerer ſchweren Not, an ihn müſſen wir uns
wenden, er iſt der Heiland und Erlöſer," ſo lauten die Worte, die durch tauſend
Kanäle in die Volksmaſſen fließen. Und dieſe Worte finden gläubige Ohren, trozdem
die Menſchen eigentlich gelernt haben ſollten, daß .noch niemals in der Geſchichte
die Menſchheit aus dem Elend emporgeſtiegen iſt, wenn ſie nicht ihr eigener
Heiland war und ihr. Schieſal in die eigene Hand genommen hat. Aber das
ijt nun einmal die Tragik der Menſchheit, daß ſie an Wunder glaubt und auf Wunder
hofft, anjtati die Einſicht aufzubringen, daß ſie nur dur< zähe, ausdauernde, uner-
müdliche Arbeit aus dem Elend zur Höhe emporzuſteigen vermag. |
Neben dieſer religiöſen Strömung beobachten wir in der Gegenwart noch eine
andere Strömung, die ebenfalls ihre Quelle in dem Glauben an das Wunderbare
hat. Es iſt dies der revolutionäre Kommunismus in jener Form, wie er als
Volſchewismus künſtlich von Rußland nach Deutſchland verpflanzt worden iſt, der
Glaube an die Wunderkraft der Revolution, der Wahn, daß der
gewaltſame Umſturz beſſere Zuſtände ſchaffen könne. Dieſer Wunderglaube an die
Revolution hat heute breite Schichten des deutſchen Proletariats in ſeinen Bann
geſchlagen. Als der Kapitalismus die Arbeitermaſſen in der erſten Hälfte des vorigen
Jahrhunderis verelendet hatte, weil die Proletarier der kapitaliſtiſchen Ausbeutungs-
gier keinen Damm enigegenſeßen konnten -- ſie waren unaufgeklärt, undiſzipliniert,
unorganiſiert, in jeder Beziehung. rechtlos 'und rücſtändig --, legte ſich über die