Full text: Arbeiter-Jugend - 17.1925 (17)

ie Arbeiter-Jugend au 9 
in erjter Linie auf die Religion zutrifft, ſo findet der Glaube an das Wunderbare 
in. den religiöſen Gemütern einen fruchtibären Nährboden. - Die vergleichende 
Religionswiſſenſchaft und die Geſchichte der Religionen lehren uns, daß jede Religion 
„wunderbaren“ Ereigniſſen ihre Entſtehung . verdankt, und daß ihre Anfänge in 
ein myſtiſches Dunkel gehüllt ſind. Die Religionsbücher wimmeln von ſogenannten 
Wundern, die in Wirklichkeit ja gar keine Wunder, ſondern nur Erzählungen 
von Wundern ſind und deshalb jeder Beweiskraft entbehren; die Dogmen, das 
heißt, der Glaube an unbewieſene und unbeweisbare Dinge, bilden einen weſentlichen 
Beſtandteil der Religion im landläufigen Sinne; wer nicht an Wunder glaubt, iſt 
ein unreligiöſer Menſch, ſo behaupten die „Rechtgläubigen“. Heute iſt es vielfach 
anders geworden, weil die Menſchen denten, aber in der Glanzzeit der 
Religionen, im Alterlum und im Mittelalter, ſpielte der Glaube an das Wunder 
die ausſchlaggebende Rolle. Jeder Religionsſtifter war mit dem Nimbus des Wunder- 
täters umgeben, und auch die Verkünder einer Religion mußten Wunder wirken, 
wenn ſie Anhänger finden wollten, denn das Wunder war ihre Beglaubigung. Die 
Menſchen jener Zeit waren nicht nur wundergläubig, ſondern auch wunderſüchtig; 
hinter jedem, auch dem natürlichſten Vorgang, ſuchten ſie übernatürliche Urſachen, und 
dem natürlichſten Dinge ſchrieben ſie übernatürlice Wirkungen zu. 
Ertlärlicherweiſe beherrſcht der Wunderglaube' und die Wunderſucht beſonders 
jene Menſchen, die zu ihrem Verſtand und ihrem Willen kein Vertrauen, die den 
Glauben an ihre eigene Kraft verloren haben und deshalb ihre Hoffnung auf das 
wunderbare Eingreifen einer höheren Macht ſetzen. Wie ein Schwindſüchtiger, der 
nirgends mehr ein natürliches Heilmittel entde>t, von einer Rettung durch -ein 
Wunder träumt, jo träumen. die unglüdlichen, körperlich und ſeeliſch verelendeten 
Menſchen von dem Eingreifen der Goitheit in ihr Geſchi&, von einer Wendung 
ihres Schidjals durch Gottes Fügung. Aus dieſer Verzweiflung an die Möglichkeit, 
Durch eigene Kraft unſer Schi>ſal zu meiſtern, entſpringt jene ſtarke religiöſe Wellz?, 
die augenblicklich unſer armes Deutſchland überflutet; in ihr haben jene ſtarken 
religidjen Strömungen ihren Urſprung, die unſere Tatkraft lähmen, indem ſie unſere 
Blii>e auf die Hilfe von oben lenken. - „Nur die Religion kann uns retten, Chriſtus 
Gllein vermag uns zu helfen in unſerer ſchweren Not, an ihn müſſen wir uns 
wenden, er iſt der Heiland und Erlöſer," ſo lauten die Worte, die durch tauſend 
Kanäle in die Volksmaſſen fließen. Und dieſe Worte finden gläubige Ohren, trozdem 
die Menſchen eigentlich gelernt haben ſollten, daß .noch niemals in der Geſchichte 
die Menſchheit aus dem Elend emporgeſtiegen iſt, wenn ſie nicht ihr eigener 
Heiland war und ihr. Schieſal in die eigene Hand genommen hat. Aber das 
ijt nun einmal die Tragik der Menſchheit, daß ſie an Wunder glaubt und auf Wunder 
hofft, anjtati die Einſicht aufzubringen, daß ſie nur dur< zähe, ausdauernde, uner- 
müdliche Arbeit aus dem Elend zur Höhe emporzuſteigen vermag. | 
Neben dieſer religiöſen Strömung beobachten wir in der Gegenwart noch eine 
andere Strömung, die ebenfalls ihre Quelle in dem Glauben an das Wunderbare 
hat. Es iſt dies der revolutionäre Kommunismus in jener Form, wie er als 
Volſchewismus künſtlich von Rußland nach Deutſchland verpflanzt worden iſt, der 
Glaube an die Wunderkraft der Revolution, der Wahn, daß der 
gewaltſame Umſturz beſſere Zuſtände ſchaffen könne. Dieſer Wunderglaube an die 
Revolution hat heute breite Schichten des deutſchen Proletariats in ſeinen Bann 
geſchlagen. Als der Kapitalismus die Arbeitermaſſen in der erſten Hälfte des vorigen 
Jahrhunderis verelendet hatte, weil die Proletarier der kapitaliſtiſchen Ausbeutungs- 
gier keinen Damm enigegenſeßen konnten -- ſie waren unaufgeklärt, undiſzipliniert, 
unorganiſiert, in jeder Beziehung. rechtlos 'und rücſtändig --, legte ſich über die
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.