Full text: Arbeiter-Jugend - 17.1925 (17)

Arbeiter-Jugend i 221 
Wenn ihr wüßtet .. . 
Ein belangloſes Erlebnis. Von Bruno Vogel. 
Mein Freund Karl erzählte: nn 
"Es iſt ein gänzlich belangloſes Erlebnis. Aber es ſtimmt mich immer traurig, wenn ich 
daran denke. il 
Durch irgendeinen Zufall war ich in die Verſammlung einer deutſchvölkiſchen Jugend» 
gruppe geraten. Ein Greis ho>te hinter dem Rednerpult und krächzte über „Das 'Gebot der 
'Stunde“. Mit hiſtoriſchen, kulturpolitiſchen, biologiſchen, ethiſchen und anderen Argumenten 
bewies er die Unentbehrlichkeit des Krieges und ſeinen Wert für die Höherentwi>klung des 
Menſchengeſchlec<hts. Kräftiger Beifall unterbrach oft ſeine Rede und zeigte, wie geſchi>dt der 
verdorrte Verführer es verſtand, ſeine jugendlichen Zuhörer zu beeinfluſſen. 
: Nach dem Vortrag erſchien, zur allgemeinen Verwunderung, ein noc< junger Menſch auf 
der Tribüne. 
„Dieſer Herr,“ erklärte der Verſammlungsleiter, „wünſcht einen Einwand gegen die Ans 
ſicht unſeres verehrten Führers vorzubringen.“ 
Unwilliges Johlen und empörte Zurufe ließen ahnen, daß die Deutſchvölkiſche Jugend 
dieſem Unterſangen ablehnend gegenüberſtand. 
„Id bitte, dieſen Herrn ungeſtört ſprechen zu laſſen, dann werden wir wiſſen, wie wir 
uns mit ſeiner irrigen Meinung aguseinanderzuſezen haben.“ 
Der tobende Proteſt wurde Schweigen, etliche hundert Jungen ſtarrten dieſem Herrn 
„mit der irrigen Meinung“ Haß, Hohn, Verachtung entgegen. 
Der begann: 
„Nicht weiß ich, ob die vielen Millionen Toten des Weltkriegs der gleichen Veberzeugung 
wären wie euer verehrter Führer. Aber ſie ſind ſchon lange verfault und haben nichts zu 
ſagen. Den Lebenden gehört die Welt. 
. Eswarin Polen. Nacht für. Nacht rannten die Ruſſen gegen unſere Stellung an. '|Meiſt 
kurz vor Mitternacht ſahen wir ſie über den Kamm der Geländewelle im Oſten gleich ſchwarzen 
Faceln huſchen. Dann fia>erten überall die ſtummen Hilferufe der roten Raketen empor, 
und ſchon raſte der Hexenſabbat der Artilleriegeſchoſſe über uns weg und entzündete 800 Meter 
vor uns eine ſunkenzu>ende Brandung des Verderbens. Bisweilen zeigte eine Leuchtkugel 
ven Sappenpoſten, wie nachdrülich das deutſche Sperrfeuer die Feinde zu Leichen zerhackte. 
Nach zwanzig, dreißig Minuten war alles getan. 
Das Artilleriejeuer verſtummte allmählich, und nur noch wvereinzeltes Knallen zielloſer 
Gewehrſchüſſe oder mißmutiges Klöäfſen eines Maſchinengewehrs ſtörte die Stille des Schlacht» 
feldes. Bald glühte hinter den feindlichen Linien die Morgenröte eines neven Tages auf, und 
die Sommerſonne begann, die ruſſiſchen Sturmwellen ider vergangenen Nächte zu ſti>ender 
Fäulnis zu kochen. Wenn der Wind von Oſten kam, dann mußten wir ans erbrechen und 
Ffonnten nichts mehr eſſen, bis er ſich wieder drehte. Manchmal brachte er das erſchöpfte 
Winſeln verweſender Verſtümmelter nit. 
Sechzehn Nächte waren ſo verfloſſen, die ſiebzehnte verlief etwas anders, unweſentlich 
anders. Der Sturmangriff war gegen %12 Uhr zuſammengebroden, wie ſonſt apurde es 
ſtiller. Nur ein einziges ruſſiſches Geſchüß feuerte weiter, in ziemlich regelmäßigen Zeitab»- 
ſchnitten, zwiſchen uns und den feindlichen Gräben --- lauter Blindgänger. Anfangs lachten 
wir über die vielen Fehlgeburten, aller zwei Minuten eine, dann fiel uns das widerwärtige 
Kreiſchen ein wenig auf idie Nerven. Es klingt häßlich, gellend, wie manchmal Straßenbahn= 
wagen, wenn ſie durch Kurven fahren. 
Zwei 'Minuten vergehen, und wieder das wutheulende Schrillen einer nichtkrepierten 
Granate. Und wieder lauert das Schweigen. Und dann: Uiii. =- Wie eine auſdringliche, 
ſ<eußliche Halluzination, die man gern verſcheuchen möchte =- man weiß genau, daß es nur 
ein Traumgeſpenſt iſt --- und die unerbittlich notwendig immer wieder zurückkehrt und das 
ermüdete Hirn peinigt. 
Wir warten, 'bis die zwei Minuten um ſind. 
Sie werden immer länger, die Schreie der Blindgänger fülſen ſie mit ſinnloſer Furcht. 
„Wenn es bloß bald hell werden wollte!“
	        
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