Arbeiter-Jugend i 221
Wenn ihr wüßtet .. .
Ein belangloſes Erlebnis. Von Bruno Vogel.
Mein Freund Karl erzählte: nn
"Es iſt ein gänzlich belangloſes Erlebnis. Aber es ſtimmt mich immer traurig, wenn ich
daran denke. il
Durch irgendeinen Zufall war ich in die Verſammlung einer deutſchvölkiſchen Jugend»
gruppe geraten. Ein Greis ho>te hinter dem Rednerpult und krächzte über „Das 'Gebot der
'Stunde“. Mit hiſtoriſchen, kulturpolitiſchen, biologiſchen, ethiſchen und anderen Argumenten
bewies er die Unentbehrlichkeit des Krieges und ſeinen Wert für die Höherentwi>klung des
Menſchengeſchlec<hts. Kräftiger Beifall unterbrach oft ſeine Rede und zeigte, wie geſchi>dt der
verdorrte Verführer es verſtand, ſeine jugendlichen Zuhörer zu beeinfluſſen.
: Nach dem Vortrag erſchien, zur allgemeinen Verwunderung, ein noc< junger Menſch auf
der Tribüne.
„Dieſer Herr,“ erklärte der Verſammlungsleiter, „wünſcht einen Einwand gegen die Ans
ſicht unſeres verehrten Führers vorzubringen.“
Unwilliges Johlen und empörte Zurufe ließen ahnen, daß die Deutſchvölkiſche Jugend
dieſem Unterſangen ablehnend gegenüberſtand.
„Id bitte, dieſen Herrn ungeſtört ſprechen zu laſſen, dann werden wir wiſſen, wie wir
uns mit ſeiner irrigen Meinung aguseinanderzuſezen haben.“
Der tobende Proteſt wurde Schweigen, etliche hundert Jungen ſtarrten dieſem Herrn
„mit der irrigen Meinung“ Haß, Hohn, Verachtung entgegen.
Der begann:
„Nicht weiß ich, ob die vielen Millionen Toten des Weltkriegs der gleichen Veberzeugung
wären wie euer verehrter Führer. Aber ſie ſind ſchon lange verfault und haben nichts zu
ſagen. Den Lebenden gehört die Welt.
. Eswarin Polen. Nacht für. Nacht rannten die Ruſſen gegen unſere Stellung an. '|Meiſt
kurz vor Mitternacht ſahen wir ſie über den Kamm der Geländewelle im Oſten gleich ſchwarzen
Faceln huſchen. Dann fia>erten überall die ſtummen Hilferufe der roten Raketen empor,
und ſchon raſte der Hexenſabbat der Artilleriegeſchoſſe über uns weg und entzündete 800 Meter
vor uns eine ſunkenzu>ende Brandung des Verderbens. Bisweilen zeigte eine Leuchtkugel
ven Sappenpoſten, wie nachdrülich das deutſche Sperrfeuer die Feinde zu Leichen zerhackte.
Nach zwanzig, dreißig Minuten war alles getan.
Das Artilleriejeuer verſtummte allmählich, und nur noch wvereinzeltes Knallen zielloſer
Gewehrſchüſſe oder mißmutiges Klöäfſen eines Maſchinengewehrs ſtörte die Stille des Schlacht»
feldes. Bald glühte hinter den feindlichen Linien die Morgenröte eines neven Tages auf, und
die Sommerſonne begann, die ruſſiſchen Sturmwellen ider vergangenen Nächte zu ſti>ender
Fäulnis zu kochen. Wenn der Wind von Oſten kam, dann mußten wir ans erbrechen und
Ffonnten nichts mehr eſſen, bis er ſich wieder drehte. Manchmal brachte er das erſchöpfte
Winſeln verweſender Verſtümmelter nit.
Sechzehn Nächte waren ſo verfloſſen, die ſiebzehnte verlief etwas anders, unweſentlich
anders. Der Sturmangriff war gegen %12 Uhr zuſammengebroden, wie ſonſt apurde es
ſtiller. Nur ein einziges ruſſiſches Geſchüß feuerte weiter, in ziemlich regelmäßigen Zeitab»-
ſchnitten, zwiſchen uns und den feindlichen Gräben --- lauter Blindgänger. Anfangs lachten
wir über die vielen Fehlgeburten, aller zwei Minuten eine, dann fiel uns das widerwärtige
Kreiſchen ein wenig auf idie Nerven. Es klingt häßlich, gellend, wie manchmal Straßenbahn=
wagen, wenn ſie durch Kurven fahren.
Zwei 'Minuten vergehen, und wieder das wutheulende Schrillen einer nichtkrepierten
Granate. Und wieder lauert das Schweigen. Und dann: Uiii. =- Wie eine auſdringliche,
ſ<eußliche Halluzination, die man gern verſcheuchen möchte =- man weiß genau, daß es nur
ein Traumgeſpenſt iſt --- und die unerbittlich notwendig immer wieder zurückkehrt und das
ermüdete Hirn peinigt.
Wir warten, 'bis die zwei Minuten um ſind.
Sie werden immer länger, die Schreie der Blindgänger fülſen ſie mit ſinnloſer Furcht.
„Wenn es bloß bald hell werden wollte!“