Full text: Arbeiter-Jugend - 17.1925 (17)

354 Arbeiter-Jugend 
 
öffentlichen Leben in Erſcheinung treten, da die praktiſche Erlernung und Einſührung nod) 
einige Zeit in Anjpruch nehmen wird. Schon kaufen die Anhänger der alten Syſteme gegen 
die neue Einrichtung Siurm, weil angeblich die Einheitsſtenographie erhebliche Mängel auſ: 
weiſen ſoll. Das zu unterſuchen und das neue Syſtem zu kritiſieren, kann unſere Aufgabe nit 
jein. Wenn wirklich Mängel vorhanden ſein ſollten, ſo müßten dieſe eben im Laufe der Zeit 
dur praktiſche Erfahrungen ausgemerzt werden, 
Jedem Jugendgenoſſen kann nach Lage der Dinge nur geraten werden, jalls er ein bis» 
Hheriges Syſtem noch nicht vollkommen und ſicher beherrſcht, ſich mit Eiſer dem Studium der 
Cinheitsſtenographie hinzugeben. Auch ten Schülern von Gabelsberger und Stolze-Schrey 
geben wir den Rat, ſich mit der Erlernung des neuen Syſtems zu befaſſen. In ein bis zwei 
Jahren wird die Einheitsſtenographie nicht nur bei Behörden, ſondern auch in Handel und 
Induſtrie eingeführt ſein und von den Angeſtellten verlangt werden. 
 
 
Herbſtgedanifen. 
Von Jürgen Brand. 
zw" out iſt der 12. Oktober; es iſt noch ſrüh am Tage; aber ſoviel ſteht |<on ſeſt: Heut 
8“ wirds ein Sonnentag. Die Morgennebel ſind nod) nicht fort, aber ſie wallen in der 
„ H Luft wie durchſcheinend-dünne Seidenſchleier; und immer, wenn ich ſrühmorgens 
7 dieſen Jeidigen Glanz in der Luft beobachte, wirds ein Sonnentag. Alſo, ſliegen wir 
aus? -=-- 
Wie ſo eine Wanderung in der herben Morgenluft erqui>t! Und die Sonne iſt wirklich 
um etwa 10 Uhr durchgedrungen und erſtrahlt nun in Glanz und Kraft, als wär's heute 
der 12. Juli. Solch ein richtiger Sonnentag um Mitte Oktober iſt eigentlich =- in der Sprache 
der Finanzleute ausgedrückt =“ reiner „bonus“, unverdientes Glü>. Gut, gut, davon 
können wir einz angemeſſene Gabe vortrefflich brauchen. 
Jungedi! Jeßt wirds mir wahrhaftig zu warm. Hilft nichts, der Ro> „muß runter. 
Ah, jo wandert ſichs nochmal ſo gut. Mit vollen Zügen atme ich die wundervolle Luſt. Wie 
weitet ſic) die Bruſt! Wie ſtraſſt ſic) jeder Muskel! Scneller als ſonſt erreiche ich den 
Wald. Schon raſchelt welkes Laub unter meinen Tritten. Welkes Laub! Es iſt ja Herbſt. 
Das hatte ich beinah vergeſſen. Hier und da zwiſchen den Stämmen liegen große goldene 
Fle>e aus Sonnenglanz auf dem Waldboden, und das welke Laub erhöht noch den Glanz. 
Unglaublich) ſchön iſt das. Vereinzelt zwiſchen dem Unterholz ſtehen Gruppen von Steh» 
palmenbüſchen mit dunkelgrünen, glänzenden Blättern und rotla>ierten Beeren. Hier 
möchte man Maler ſein! Unwillkürlich bleibe ich ſtehen inmitten der Herbſtpracht und laſſe 
meine Augen „trinken, was die Wimper hält, von dem Ueberfluß der Welt.“ 
Und dann überkommt es mich) wie eine Betäubung, und ich muß mich unter einen Baum 
jezen. Ein weher Schmerz ſteigt mir die Kehle hinauf, und das rote Ding in meiner 
Bruſt pocht unruhig an ſeine Wände. Was willſt du, mein Herz? Willſt du mich erinnern 
daran, daß id) hier in meinen Jugendtagen gewandert bin mit fröhlichen Geſellen und Go» 
ſellinnen? Willſt du mid) daran erinnern, daß nun aud) für mich der Herbſt gekommen 
iſt? Du haſt rec<ht; manche Träume meiner Jugend ſind verweht wie welkes Laub im 
Linde, und manchen von den Gefährten meiner Jugend de>t ſchon der grüne Raſen. Mit 
Wehmut gedenk ich ihrer und der frohen Stunden, die ich mit ihnen verlebte. Du haſt recht; 
dieſer leiſe Ton des Schmerzes über das Verlorene ſtimmt gut zu dem Requiem des- Herbſtes. 
Dennod) frage ic) dich, mein Herz: Pochſt nicht auch du noch bei Schmerz und Luſt in un- 
geſc<wächter Kraft? Fühlſt du nicht wie einſt die Sehnſucht nach unbekannten Fernen, 
den Drang nach Vollendung? Darum bleibe ſtark; das Leben iſt nichts anderes als Sterben 
und Werden, und das Seufzen der Kreatur darf uns nicht hindern zu wirken, ſv lange es 
Tag iſt. 
Und nocd iſt es Tag! Darum ſort mit den trüben Gedanken. =“ Ich trete hinaus an den 
Rand des Waldes und bli>e über ſonnenbeglänzte Wieſen und Felder. Die ganze Luſt 
iſt erfüllt von Sonnenfäden: Altweiberſommer. Die meiſten ziehen etwa in gleicher Höhe; 
einige tieſer, einige ſehr hoch. Die Urheber dieſer auſfallenden und anmutigen Erſcheinung 
ſind kleine Spinnen, Dieſe Tierchen ſind die denkbar einfachſten und denkbar vollkommenſten 

	        
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