Full text: Arbeiter-Jugend - 17.1925 (17)

Arbeiter-JIJugend 391 
abgeliefert und vernichtet war. Für einen glüdklichen Ausgang mußten 8ben mehr als Vor- 
Ihriften und Maßnahmen die vertrauengewinnenden Perſönlichkeiten der Miſſionare bürgen, 
die, w9 es anging, die Waffen und den geliebten Schnaps vor den Augen der geſpannt zu» 
Ihauenden Menge in die Fluten verſenkten. 
Der große, ſchwere Tag rückte näher und näher. Niemand wagte es, zu prophezeien. 
Einzig und allein das Bewußtſein, alles für die Erhaltung der Erde und des. Levens auf 
ihr getan zu haben, ließ die Menſchen mit einiger Faſſung 'dem Ungeheuren entgegenſehen. 
Mit der Austeilung der Gasmasken war bereits Wochen vorher begonnen worden. 
Den Miſſionaren wurden dieſe in rieſigen Mengen für ihre Schützlinge 'durh Flugzeuge 
zugeſtellt, Wochen vorher waren alle elektriſchen Leitungen ausgeſchaltet oder abmontiert 
worden, Tage vorher gingen die Kontrollkommiſſionen der Arbeiterräte gemeinſam mit der 
Direktion noch einmal die Anlagen der großen Betriebe und Bergwerke durch, -- alles 
war in Ordnung. Sorgfältig löſchten die Hausfrauen den letzten Funken auf dem heimiſchen 
Herd und warfen der Kinder wegen die Streichhölzer ins Waſſer. 
- Nachdem in der lezten Woche vor dem 12. Mai -- dies war der Schi>ſalstag --- noc 
einmal allen religiöſen und Weltanſchauungsgemeinſchaften Gelegenheit gegeben worden, 
ihre Anhänger zu ſammeln, zu tröſten und zu ermahnen, waren am Vorabend des Schid>jals- 
tages alle Menſchen gemeinſam zu großen Feiern vereinigt, in den Städten in den großen 
Sälen, auf dem Lande in den dafür bereitwilligſt zur Verfügung geſtellten Kirchen. Die 
tieſſten Denker der Zeit ſprachen über die letzten Dinge, gewaltige Gprechchöre brauſten 
dumpf brauſend auf, und zum Schluß ſetzten überall Orcheſter ein mit den erſchütternden, 
feierlichen Klängen der neunten Symphonie. Tiefe Ergriffenheit und eine über alles Irdiſche 
hinauswachſende ſelige Verklärung hatte ſich der Menge bemächtigt. Und als der Chor 
gewaltig und brauſend das Evangelium einer neuen Brüdergemeinde perkündete: „Seid 
umſchlungen, Millionen, dieſen Kuß der ganzen Welt!“, da ſtürzten auch die letzten Schranken 
zwiſchen Menſch und Menſch, und ſchluchzend umarmten ſich Fremde, alt und jung, hod) 
und niedrig, jeder im anderen nur den Menſc<en, den in gleiches Gchic>ſal verſtric>ten 
Bruder erkennend. 
Dann ging alles ſtill nach Hauſe. Die Familienangehörigen ſaßen, aneinandergeſchmiegt 
md einander zärtlich Liebes und Gutes ſagend, in den dunklen Zimmern. Jeder hatte 
gern einen alleinſtehenden Gaſt bei ſich aufgenommen, denn in ſolchen Stunden wollte man 
niemand einſam laſſen. Gegen Morgen verkündeten Nebelhornſignale, daß es Zeit ſei, die 
Gasmasten aufzuſetzen. Die Stunde des Sonnenaufgangs war herangerüc>t, aber draußen 
blieb alles in graues, dämmerndes Zwielicht gehüllt, durch das kein Sonnenſtrahl dringen 
konnte. Plößlich wurde die Luft di> und grau: das Gas! In nebelgrauen Schwaden 
ſtieg es durch alle Ritzen und Fugen in die Behauſungen, troch ſchnell näher und näher und 
ſpann ſchließlich die Menſchen ganz ein. In ſchweigender Erſtarrung ſtand alles da. Es war 
gut, daß man an nervenſchwache Perſonen vorher Veronal zur Betäubung ausgegeben 
hatte. Minuten dehnten ſich zu Stunden, Stunden zu Jahren, Tage zu Ewigkeiten. Wie 
gebannt hing man mit den Blicken am Uhrzeiger, -- o wie langſam, qualvoll langſam krod) 
er vorwärts! Und immer der bohrende, nervenzerreißende Gedanke: Wer weiß, ob ich, 
ob wir alle, dic Menſchheit, die nächſte Minute noch erleben werden! Die Grabesſtille 
ward alle ſechs Stunden von einem Nebelhornſignal vom höchſten Kirchturm der Stadt 
herunter unterbrochen. Schaurig tönte es durch die verlaſſenen, in geſpenſtiſchem Zwielicht 
daliegenden Gtraßen und Plätze. Wollte denn die Folter gar kein Ende nehmen? 
Da, gegen Morgen des 14. Mai hellte es ſich ganz, ganz allmählich auf, Jetzt nur 
noch fünf Gtunden, ſieben Minuten und vier Sekunden! Erſtes zages Hoffen belebte die 
Erſtarrien. Cs ſtieg wie ein inbrünſtiges Beten aus ihrer Seele, das ſich nicht an einen 
ſremden, unbekannten Gott richtete, jondern an jeden Menſchenbruder auf der Erde: denke 
unſrer aller! Und ſiehe, der graue Nebel begann ſich zu rühren, die di>ken Ghwabden ſchoben 
ſich vorwärts und nach oben, zerteilten ſich, entſchwebten als Wolken, und der er ſte 
Sonnenſtrahl ſiel auf die erlöſte Erde! Alles ſtürzte an die Fenſter, riß ſie auf und 
bog lauſchend die Köpfe hinaus. Noch ein paar, die Nerven bis aufs äußerſte anſpamnende 
Sekunden, und das dreimalige Hornſignal, das Zeichen der Errettung, erſcholl 
iubelnd vom Turm, In wahnſinniger, unbeſchreiblicher Freude riß alles ſich die Gasmasken
	        
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