Full text: Arbeiter-Jugend - 18.1926 (18)

222 Arbeiter-Jugend 
 
mit den weißen Fäden im ſchwarzen Haar, deren Mutter ſich ſicherlich böſe vor die erſehnte 
Stunde geſtellt hatte. Aber wir waren doch zujammen geweſen. Sie hatte auf dem Weg 
zur Stadt mit mir, in mir gelebt. Ich durfte in ſie verſtrömen, untergehen und wieder auſ- 
erſtehen. Selig, ſelig, es gibt kein anderes Wort.“ 
Der Erzähler ſchwieg einen Augenbli>, Seine verzücten Augen wurden wieder irdiſcher, 
und er ſagte mit ganz anderer Stimme: 
„Wir leben nicht, um zu leben und zu ſterben, wir leben, um erleuchtet zu werden, um 
den Zuſammenhang der Dinge zu begreifen. Wir leben, um uns einzuordnen in den großen 
Rhythmus der Welt, um erfüllt zu werden von der Ewigkeit und ver Unſterblichkeit des 
Daſeins.“ 
Dann erhoben wir uns und gingen ohne beſondere Verabredung in die Peterskirche, 
liefen flein und winzig in den ungeheuren Räumen umher und ſtanden lange vor 
Michelangelos Marmorbildnis „VPieta“, der ſchmerzensreichen Mutter, die den toten Sohn 
wie ihr Schi>ſal auf den Knien trägt und dennoch lind und tröſtlich durch das Dunkel der 
Kirche ſchimmert. 
„Standeſt du ſchon einmal über den Dingen?“ flüſterte der Bildhauer. „Wenn du 
willſt, können wir auch die Kuppel der Peterskirche beſteigen.“ = 
Wir erſtiegen die Kuppel der Peterskirche und ſtanden nach mühſamen Aufſtieg auf der 
erhabenſten Plattform und ſahen zu unſeren Füßen die vatikaniſchen Gärten und die Stadt 
Rom. Wie lächerlich klein war doch das alles! Auch das Koloſſeum, das mich immer 
erſchüttert hatte, war weiter nichts als ein Spielzeug verſunkener Geſchlechter und unwichtig 
jür unſere Tage. Die Campagna blaute. Die Albanerberge grüßten mit fernen, weißen 
Dörfern und Städten zu uns herüber. 
„Siehſt du,“ jagte mein Freund und lächelte, „die zwei Mädchen auf dem Monte 
Teſtaccio haben mir die Zunge gelöſt. Die Toten ſind auferſtanden. Jetzt will ich dir auc 
noch die andere Geſchichte erzählen.“ 
„Bitte, bitte,“ ſagte ich. Zu dem trunkenen Gefühl, auf der Kuppel der Peterskirche zU 
ſtehen, kam noch das Scid>ſal und Erlebnis eines Menſchen und beſeelte die toten Steine 
und die ſ<weigſame Landſchaft. | 
- „Das war auf derſelben Reiſe," begann mein Freund. „Vom Nedar kam ich nach der 
Donau und erreichte eine kleine Stadt, die mir vor allen anderen Städten lieb und teuer 
iſt. Sie lag auf einem kleinen Hügel über dem blauen Fluß, der wild und ſprudelnd vor- 
überſprang. Sommerliche Fülle vieler Gärten. Die Häuſer waren altertümlich und bunt 
bemalt und glänzten in geſichertem Wohlſtand. Dann gab es noch Ziegeldächer und geſchnißte 
Erker. Wie jammervoll dagegen ſind die nordiſchen Kleinſtädte, die wie: Grabgewöslbe in der 
Landſchaft veikommen. Noc<4h voll vom Erlebnis des Ne>ars wanderte ich durch dieſe 
Donauſtadt. Ihre Bürgerſteige waren breit und mit Steinplatten ausgelegt. Es war am 
frühen Abend. In den Fenſterſcheiben brannte die Sonne. 
In der Stadt gab es einen Gaſthof; er hieß „Der goldene Engel“. Das war ein Pracht» 
haus mit Erkern und bunten Giebeln, eine Wohltat dem Auge und dem Herzen ein Wohl«- 
gefallen. Und vor dem Gajthaus im weißen Torbogen inmitten blühender Oleanderbüſche 
jtand ein Mädchen, das leiſe an die ungeküßte Geliebte mit den weißen Fäden im ſchwarzen 
Haar erinnerte. Auch ſie war von derſelben Mittelmeerraſſe wie die andere, nur noch reifer, 
ſchöner und aufſgeblühter. Die roten Feuerblumen des Oleander leuchteten über ihrem 
ſchwarzen Haar. Aber nur einen Augenbli> verweilte ſie im Torbogen. Ich ſah noch ihre 
zärtlichen Augen, ihre weiße Stirn und den vollen Mund, da kam aus dem Haus eine Stimme: 
„Angelica!“ 
„3a?“ rief Angelica, die Flammende, in den dunklen Flur und trat in das vollkommene 
Duntel des Torbogens zurüc>. I< ſtand allein und doch verzaubert auf der hellen Straße. 
„Angelica?“ ſtüſterte ich, „Angelica!“ und ließ den Namen wie Honig in meinem Mund 
zergehen. 
Nun, den ganzen Übend bin ich durc die kleine Stadt gelaufen, um noch einmal das 
Connenangeſicht Angelicas zu ſehen. Stundenlang wartete ich vor dem „Goldenen Engel“ 
auf den anderen Engel und war verzweiſelt, als er nicht mehr erſchien. In der Gaſtſtube-ſaß 
ich bis in die jpäte Nacht und trank und trank und konnte doch das Feuer in mir nicht 
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